OGH 7Ob581/85

OGH7Ob581/8527.6.1985

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Flick als Vorsitzenden und durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon.Prof. Dr. Petrasch und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Wurz, Dr. Warta und Mag. Engelmaier als Richter in der Pflegschaftssache der mj. Luzia A, geboren am 17.Februar 1977, Oberpullendorf, Spitalstraße 18, infolge Revisionsrekurses der Mutter Monika A, Haushalt, Oberpullendorf, Spitalstraße 18, vertreten durch Dr. Anton Schleicher, Rechtsanwalt in Oberpullendorf, gegen den Beschluß des Landesgerichtes Eisenstadt als Rekursgerichtes vom 19.April 1985, GZ R 164/85-32, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Oberpullendorf vom 18.März 1985, GZ P 24/83-29, bestätigt wurde, folgenden Beschluß gefaßt:

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Text

Begründung

Die Ehe der Eltern der mj. Luzia A wurde mit urteil des Landesgerichtes Eisenstadt vom 5.10.1983, 2 b Cg 523/83, aus dem Alleinverschulden ihres Vaters geschieden. Mit Beschluß des Bezirksgerichtes Oberpullendorf vom 21.10.1983, ON 10, wurde das Kind in Pflege und Erziehung seiner Mutter überwiesen. Gleichzeitig wurde ausgesprochen, daß dieser nunmehr die Rechte hinsichtlich des Kindes gemäß § 144 ABGB allein zukommen. Es wurde jedoch die gerichtliche Erziehungshilfe angeordnet. In der Begründung dieses Beschlusses wird ausgeführt, daß zwar das Kind mit seiner Großmutter, seiner Mutter und deren Lebensgefährten in räumlich sehr beengten Verhältnissen (die Wohnung bestehe nur aus Zimmer und Küche) wohne und von seiner Mutter - sei es aus Unvermögen, sei es aus falscher Einstellung - nicht die nötige erzieherische Förderung erfahre, sodaß es einen intellektuellen Entwicklungsrückstand aufweise und vom Schulbesuch ein Jahr zurückgestellt worden sei. Es seien jedoch die Wohnverhältnisse beim Vater, der zusammen mit seiner Mutter und sechs weiteren Kindern seiner Mutter in einer nur aus zwei Zimmern und Küche bestehenden, stark verwahrlosten Wohnung lebe, noch trister, weshalb unter Berücksichtigung des Umstandes, daß sich das Kind in der Wohnung seiner Großmutter bereits eingelebt habe, es dem Wohl des Kindes zuträglicher erscheine, wenn es in Pflege und Erziehung seiner Mutter bleibe, wobei allerdings die Hilfestellung durch das Jugendamt gewährleistet sein müsse. Mit Schriftsatz vom 8.3.1984, ON 20, beantragte die Bezirkshauptmannschaft Oberpullendorf, Jugendamt, auf Grund einer bei dem Kind festgestellten Verwahrlosung die Unterbringung bei einer Pflegefamilie zu genehmigen. Die Mutter sei oft tagelang mit ihrem Lebensgefährten - als Altwarenhändler - unterwegs. Luzia werde meist von ihrer 72-jährigen Großmutter betreut. In der Zimmer-Küche-Wohnung lebten außer dem Kind fünf Erwachsene; die Wohnungsinsassen teilten sich drei Betten als Schlafstellen. Das Kind besuche zwar, wenn auch nur unregelmäßig, den Kindergarten, erbringe jedoch keinerlei Arbeitsleistung. Seine Körperpflege lasse zu wünschen übrig. Luzia sei einer zunehmenden sittlichen, geistigen und körperlichen Gefährdung ausgesetzt.

Bei einer Vernehmung am 20.3.1984, ON 21, stellte der Vater den Antrag, das Kind in seine Pflege und Erziehung zu überweisen. Er wohne seit vier Monaten bei seiner Lebensgefährtin Renate B in einer aus drei Räumen bestehenden Wohnung. Renate B sei seit ihrer Kindheit wegen einer Gelenksentzündung arbeitsunfähig und beziehe Sozialhilfe. Sie gehe keiner Arbeit nach und sei in der Lage, für das Kind in ausreichendem Maße zu sorgen.

Die Mutter erklärte am 11.2.1985 vor der Bezirkshauptmannschaft Oberpullendorf, Jugendamt, damit einverstanden zu sein, daß das Kind in Pflege und Erziehung des Vaters komme (AS 89).

Mit Beschluß vom 18.3.1985, ON 29, überwies das Erstgericht das Kind in Pflege und Erziehung des Vaters und sprach aus, daß diesem in Hinkunft alle Rechte gemäß § 144 ABGB zukommen. Die Mutter sei offenbar nicht in der Lage, im nötigen Umfang für die Erziehung des Kindes zu sorgen und ihm die nötige Unterstützung für den schulischen Fortgang angedeihen zu lassen. Luzia besuche die erste Klasse einer Sonderschule in Oberpullendorf mit sehr schlechtem Erfolg. Dies sei insbesondere auch darauf zurückzuführen, daß sie von ihrer Mutter des öfteren von der Schule ferngehalten werde. Sie habe vom September bis zum 14.Jänner 1985 105 Unterrichtsstunden versäumt und unter anderem an 11 Samstagen gefehlt. überdies werde das Kind - obwohl es keine körperlichen Schwächen aufweise - von seiner Mutter öfters im Kinderwagen zur Schule gebracht und dadurch dem Gespött seiner Mitschüler ausgesetzt. Auch bei der Unterbringung des Kindes gebe es, obwohl die Mutter mit ihrem Lebensgefährten, den sie inzwischen geheiratet habe, und dem Kind nunmehr eine große Mietwohnung bewohne, Unzukömmlichkeiten, weil die Mutter die Wohnung aus finanziellen Gründen - die Einkommensverhältnisse des Ehepaares seien unklar - nicht genügend beheizen könne und das Kind deshalb wiederholt zur Großmutter habe schicken müssen. Bei den Kontakten zwischen Mutter und Großmutter komme es immer wieder zu Streitigkeiten, weil über die Art der Erziehung des Kindes zwischen der Mutter und der sehr dominierenden Großmutter, die Analphabetin sei, starke Widersprüche bestehen. Nach den erhobenen Umständen könne eine Unterbringung beim Vater, der vom Altwarenhandel lebe und dessen Wohnung zweckmäßig eingerichtet sei und saubergehalten werde, dem Wohl des Kindes nicht zum Nachteil gereichen. Es sei jedenfalls nicht zu erwarten, daß sich die Situation für die Minderjährige beim Vater verschlechtern würde. Auch in schulischen Belangen seien keine negativen Auswirkungen zu erwarten, zumal die Leistungen des Kindes ohnedies äußerst mangelhaft seien.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Mutter nicht Folge. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes als unbedenklich und führte in seiner rechtlichen Beurteilung aus, maßgebliches Kriterium für die Entscheidung über Pflege und Erziehung des Kindes sei unter anderem Stetigkeit und Dauer. Ein Wechsel in der Pflege und Erziehung des Kindes sei daher im allgemeinen zu vermeiden und nur anzuordnen, wenn dieser wegen einer Änderung der Verhältnisse im Interesse des Kindes notwendig sei, insbesondere, wenn aus besonderen Umständen eine wesentliche Verbesserung der Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten zu erwarten sei. Ein Wechsel in den Pflege- und Erziehungsverhältnissen könne nach § 176 ABGB auch dann vorgenommen werden, wenn besonders wichtige Gründe eine Änderung geboten erscheinen lassen. Solche wichtige Gründe lägen hier vor. Die Mutter, die das Kind von Geburt an betreut habe, habe sowohl hinsichtlich Verpflegung und Unterbringung, als auch bezüglich Erziehung und Beaufsichtigung versagt und dadurch die Grundlage für das Zurückbleiben des Kindes in seiner geistigen und seelischen Entwicklung herbeigeführt. Zwar könne nicht mit absoluter Gewißheit gesagt werden, daß durch die übertragung von Pflege und Erziehung auf den Vater eine Verbesserung der Situation des Kindes erzielt werden könne, doch liege es am Vater und dessen Lebensgefährtin, den Vertrauensvorschuß zu rechtfertigen. Sollte auch dieser Elternteil bei der Betreuung und Förderung des Kindes versagen, sei die Unterbringung des Kindes auf einen Pflegeplatz unabdingbar. Die Mutter bekämpft die Entscheidung des Rekursgerichtes mit außerordentlichem Revisionsrekurs. Das Rekursgericht sei offenbar selbst nicht überzeugt, daß seine Entscheidung im Interesse des Kindes gelegen sei und diesem zum Wo l gereiche. Die Mutter habe dem Antrag des Vaters nur zugestimmt, weil sie sich in einer Notlage befunden und weder über eine entsprechende Wohnung, noch über das lebensnotwendige Einkommen verfügt habe. Ihre Situation habe sich jedoch inzwischen gebessert, da ihr Ehegatte nunmehr zur Sicherung des Lebensbedarfes des Ehepaares eine monatliche Sozialhilfe von S 4.860,- beziehe. Mit diesem Betrag, mit dem vom Vater für das Kind zu leistenden Unterhalt von S 1.000,- monatlich und mit der Familienbeihilfe für Luzia könnten die Lebensbedürfnisse der Familie zur Genüge gedeckt werden. Die Mutter verfüge nunmehr auch über eine sehr schöne Wohnung in Oberpullendorf, Spitalstraße 18, bestehend aus 3 Zimmern, Küche, Bad und WC. Das Rekursgericht habe es nicht für notwendig befunden, die Mutter vor der Entscheidung zu vernehmen. Es sei daher eine Verletzung des rechtlichen Gehörs und damit eine Nichtigkeit des Verfahrens gegeben. Der schlechte Erfolg der schulischen Leistungen könne nicht allein auf das Fehlen des Kindes vom Unterricht zurückgeführt werden. Luzia sei ein lebhaftes Zigeunerkind, es seien auch die Erbanlagen, die Mentalität und das Milieu zu berücksichtigen. Das Kind sei überdies nicht gefragt worden, ob es zu seinem Vater wolle. Die Lebensgefährtin des Vaters könne die Mutter nicht ersetzen. Die Überweisung des Kindes in die Pflege und Erziehung des Vaters liege nicht im Interesse des Kindes und gereiche diesem nicht zum Wohl.

Rechtliche Beurteilung

Da das Gericht zweiter Instanz die Entscheidung des Erstgerichtes bestätigt hat, ist der Rekurs an den Obersten Gerichtshof gemäß § 16 Abs 1 AußStrG nur im Fall einer offenbaren Gesetz- oder Aktenwidrigkeit oder einer begangenen Nullität zulässig. Eine Nichtigkeit des Verfahrens erblickt die Mutter darin, daß das Rekursgericht sie nicht vernommen und so das rechtliche Gehör verletzt habe.

Zwar würde die Verletzung des rechtlichen Gehörs einen schweren, Nichtigk it begründenden Verfahrensverstoß bilden (EFSlg.37.151 ua.). Die Mutter wurde jedoch bereits im Verfahren vor dem Erstgericht wiederholt vernommen (20.3.1984, AS 45; 9.7.1984, AS 74; 12.7.1984, AS 76) und hatte dabei die Möglichkeit, ihren Standpunkt vorzutragen. Es kann daher keine Rede davon sein,daß sie keine Gelegenheit gehabt hätte, gehört zu werden und Anträge zu stellen. Der Grundsatz des Parteiengehörs fordert nur, daß der Partei ein Weg eröffnet werde, auf dem sie ihre Argumente für ihren Standpunkt sowie überhaupt alles vorbringen kann, was der Abwehr eines gegen sie erhobenen Anspruches dienlich sei (7 Ob 669/78). Der Umstand, daß die Mutter nicht auch im Rekursverfahren vernommen wurde, bildet daher keine Verletzung des vorgenannten Grundsatzes. Mit ihren weiteren Ausführungen wendet sich die Mutter im wesentlichen gegen die rechtliche Beurteilung des angefochtenen Beschlusses. Offenbare Gesetzwidrigkeit liegt jedoch nur vor, wenn ein Fall im Gesetz ausdrücklich und so klar gelöst ist, daß kein Zweifel über die Absicht des Gesetzgebers aufkommen kann und trotzdem eine damit in Widerspruch stehende Entscheidung gefällt wird. Nicht jede unrichtige rechtliche Beurteilung bildet daher eine offenbare Gesetzwidrigkeit (SZ 39/103 uva.). Offenbare Gesetzwidrigkeit kann schon begrifflich nicht vorliegen, wenn es sich um eine Ermessensentscheidung handelt (SZ 49/76), außer die Entscheidung verstößt gegen eine klare Gesetzeslage oder gegen die Grundprinzipien des Rechts und ist ganz willkürlich und mißbräuchlich (EvBl 1979/185).

Einen Vorwurf in der Richtung, sie verfüge über keine - entsprechende - Wohnung, um ihrer Sorgepflicht für das Kind nachkommen zu können, haben die Vorinstanzen gegen die Mutter nicht erhoben. Festgestellt wurde lediglich, daß die Mutter diese Wohnung aus finanziellen Gründen nicht genügend beheizen könne und Luzia deshalb wiederholt zur Großmutter habe schicken müssen. Der Umstand, daß der Ehemann der Mutter derzeit Sozialhilfe zur Sicherung des Lebensunterhalts für sich, die Mutter und das Kind erhält, wie die Mutter bereits in ihrem Rekurs gegen die Entscheidung des Erstgerichtes vorgebracht hat, vermag daran nichts zu ändern. Die Vorinstanzen haben die übertragung der elterlichen Rechte und Pflichten (§ 144 ABGB) auf den Vater darüber hinaus im wesentlichen nicht deshalb als notwendig angesehen, weil es der Mutter (und ihrem Mann) an den erforderlichen Mitteln fehle, um für den Lebensunterhalt der mj. Luzia zu sorgen, sondern weil sie nicht imstande sei, im nötigen Umfang für die Erziehung des Kindes zu sorgen und ihm die nötige Unterstützung im schulischen Fortgang zu geben.

Eine Änderung in der Zuerkennung der elterlichen Rechte und Pflichten an einen Elternteil setzt eine Gefährdung der Interessen des Kindes voraus. Sie darf nur dann angeordnet werden, wenn sie im Interesse des Kindes dringend geboten ist; es müssen die Voraussetzungen des § 176 Abs 1 ABGB vorliegen (EvBl 1979/42 und 51).

Das Rekursgericht hat seiner Entscheidung eben diese Erwägungen zugrundegelegt. Ist es zum Ergebnis gekommen, daß die Mutter nach den festgestellten Umständen das Wohl des Kindes gefährdet, stellt dies eine Ermessensentscheidung dar, bei der offenbare Gesetzwidrigkeit, wie dargelegt, schon begrifflich - von den erwähnten Ausnahmen abgesehen - nicht gegeben sein kann. Gewiß sind bei einer Entscheidung über die Zuerkennung der elterlichen Rechte und Pflichten auch die im Rekurs aufgezeigten Umstände (Zigeunerkind, Erbanlagen, Mentalität, Milieu) zu berücksichtigen. Doch könnte selbst dann, wenn in der angefochtenen Entscheidung hierauf nicht entsprechend Bedacht genommen worden wäre, noch nicht gesagt werden, es liege ein Ermessensmißbrauch vor. Dies wird im Revisionsrekurs auch gar nicht geltend gemacht.

Eine Anhörung des Kindes vor der Entscheidung ist in § 177 Abs 2 ABGB erst ab einem Alter von mindestens 10 Jahren vorgesehen. Die Unterlassung der Anhörung könnte im übrigen nicht eine offenbare Gesetzwidrigkeit, sondern nur einen Verfahrensverstoß begründen. Wird ein Elternteil, dem die elterlichen Rechte und Pflichten allein zustehen, in der Weise des § 145 Abs 1, erster Satz, ABGB betroffen - wird ihm also, wie hier, die Pflege und Erziehung ganz entzogen - , stehen diese dem anderen Elternteil gemäß § 177 Abs 3 ABGB und sohin kraft Gesetzes zu. Die Rechtsprechung versteht dies mit der Einschränkung, daß eine bereits eingelebte Regelung nur dann abgeändert werden soll, wenn besondere Umstände dafür sprechen, daß die durch die Verhältnisse des neuen Pflege- und Erziehungsberechtigten eröffneten Möglichkeiten aller Voraussicht nach zu einer beachtlichen Verbesserung der Lage und der Zukunftserwartungen des Kindes führen werden (SZ 53/142). Daß auch der Vater durch sein Verhalten das Wohl des Kindes gefährde oder gefährden werde, wurde nicht festgestellt. Es wurde vielmehr erhoben, daß sich die Wohnverhältnisse des Vaters gegenüber der Zeit der Zuweisung des Kindes in die Pflege und Erziehung seiner Mutter entscheidend gebessert haben, daß die Betreuung des Kindes auch in der Zeit, in der der Vater wegen des von ihm betriebenen Altwarenhandels von zu Hause abwesend ist, gesichert ist, und daß keine Umstände vorliegen, die dem Wohl des Kindes zum Nachteil gereichen könnten. Sind die Vorinstanzen bei dieser Sachlage davon ausgegangen, daß die beim Vater festgestellten Umstände gegenüber jenen bei der Mutter nur eine Verbesserung für die Situation des Kindes mit sich bringen könnten - wenn auch keine absolute Gewißheit hiefür bestehe - , kann darin gleichfalls kein Ermessensmißbrauch gefunden werden.

Offenbare Gesetzwidrigkeit haftet dem angefochtenen Beschluß daher ebensowenig an wie ein Nichtigkeit begründender Verfahrensverstoß. Der Revisionsrekurs war daher mangels Vorliegens eines Beschwerdegrundes im Sinne des § 16 Abs 1 AußstrG als unzulässig zurückzuweisen.

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