OGH 6Ob574/85

OGH6Ob574/8523.5.1985

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Samsegger als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch, Dr. Schobel, Dr. Riedler und Dr. Schlosser als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Erich A, Pensionist, derzeit Geriatrisches Krankenhaus der Stadt Graz, Albert-Schweitzer-Gasse 22, 8010 Graz, vertreten durch Dr. Günther Forenbacher, Rechtsanwalt in Graz, wider die beklagte Partei Waltraud A, Angestellte, Carnerigasse 28, 8010 Graz, vertreten durch Dipl.Ing. Dr. Peter Benda, Rechtsanwalt in Graz, wegen Ehescheidung, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes vom 14. Jänner 1985, GZ. 5 R 177/84-30, womit infolge der Berufungen beider Parteien das Urteil des Landesgerichtes für ZRS Graz vom 6. September 1984, GZ. 18 Cg 7/84-22, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluß gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

Text

Begründung

Die Streitteile haben am 26. Februar 1977 vor dem Standesamt der Landeshauptstadt Graz die Ehe geschlossen. Schon damals war der Kläger an multipler Sklerose erkrankt und an den Rollstuhl gefesselt. Die Beklagte ist diese Ehe eingegangen, obgleich sie wußte, daß dieses Leiden unheilbar ist und sich im Laufe der Zeit nur verschlimmert.

Der Kläger begehrte die Scheidung der Ehe aus dem Grunde des § 49 EheG und brachte hiezu vor, die Beklagte sei ihm mit Lieb- und Interesselosigkeit begegnet, habe seine Einweisung in die geschlossene Abteilung des Landeskrankenhauses Graz veranlaßt, sich nicht mehr weiter um ihn gekümmert und sich gegen die überstellung in die geriatrische Abteilung gestellt, in die er erst nach Intervention seiner Mutter habe verlegt werden können. Die Beklagte habe ihm von seiner Pension nur ein ungenügendes Taschengeld zur Verfügung gestellt und völlig ungerechtfertigt einen Entmündigungsantrag gestellt. Hilfsweise gründete der Kläger das Begehren auf § 55 EheG.

Die Beklagte beantragte zunächst unter Bestreitung der behaupteten Ehescheidungsgründe die Abweisung des Klagebegehrens, stellte jedoch für den Fall der Scheidung einen Mitschuldantrag, weil der Kläger durch sein liebloses und aggressives Verhalten sowie durch Verletzung seiner Unterhaltspflicht das überwiegende Verschulden an der Zerrüttung der Ehe trage.

Das Erstgericht schied die Ehe aus dem gleichteiligen Verschulden der Streitteile. Es traf nachstehende Feststellungen:

Die Krankheit des Klägers verschlechterte sich um die Jahresmitte 1979.

Bis dahin war er von der Beklagten zu Hause betreut worden und mußte nur zu therapeutischen Zwecken im Landeskrankenhaus Graz Aufenthalt nehmen. Am 5. Juni 1979 wurde er erstmals in das Landessonderkrankenhaus eingeliefert, weil die Nervenklinik des Landeskrankenhauses Graz seine Aufnahme wegen Pflegebedürftigkeit abgelehnt hatte. Nach weiterer Verschlechterung des Leidens wurde der Kläger in der Folge in immer kürzeren Zeitabständen zu neuerlichen Pflegeaufenthalten im Sonderkrankenhaus aufgenommen, bis er etwa 1980 derart pflegebedürftig geworden war, daß ihn die Beklagte zu Hause nicht mehr betreuen und pflegen konnte. Sie besuchte ihn zwar weiterhin regelmäßig an den Wochenenden im Sonderkrankenhaus und nahm ihn etwa alle 14 Tage auf Urlaub über das Wochenende mit nach Hause, war aber im übrigen außerstande, ihn selbst zu betreuen, weil sie mangels einer geeigneten Halbtagsbeschäftigung aus finanziellen Gründen eine Ganztagsbeschäftigung hatte annehmen müssen. Trotzdem zeigte sich der Kläger ihr gegenüber mürrisch, gereizt und streitsüchtig; immer wieder kam es zu Erregungszuständen mit Zornausbrüchen. Im Herbst 1981 drängte der Kläger auf Entlassung aus dem Sonderkrankenhaus und wollte unbedingt in ein anderes Krankenhaus oder Pflegeheim verlegt werden. Er warf der Beklagten immer wieder vor, sie kümmere sich nicht um ihn.

Nach Beratung durch eine Fürsorgerin kam die Beklagte zur überzeugung, daß der Kläger wegen seiner Pflegebedürftigkeit und seiner Aggressionstendenzen nicht, wie er das wünschte, in das Geriatische Krankenhaus der Stadt Graz verlegt werden würde. Am 27. Oktober 1981 weigerte sich der Kläger, die eheliche Wohnung nach einem besuchsweisen Aufenthalt zu verlassen und in das Landessonderkrankenhaus zurückzukehren. Die Beklagte versuchte ihn darauf, so gut es ging, zu Hause zu betreuen, fürchtete aber, daß der Kläger seinen Platz im Sonderkrankenhaus verlieren werde, wenn er dorthin nicht zurückkehrte. Der Kläger begann in der Folge mit ihr zu streiten und wurde auch gegen sie und ihren Sohn aus erster Ehe tätlich, sodaß sich die Beklagte veranlaßt sah, den Polizeiarzt zu rufen. Dieser wies den Kläger neuerlich in das Landessonderkrankenhaus ein; in der Folge unterließ es die Beklagte, ihn auf Urlaub nach Hause zu nehmen.

Als sich im weiteren Verlauf die Aggressionstendenzen beim Kläger verstärkten und er sich schon Anfang 1983 mit Scheidungsgedanken trug, während die Beklagte zu ihrer eigenen psychischen Entlastung, aber auch um den Kläger zu erziehen, ihre wöchentlichen Besuche auf den Sonntag einschränkte, sah sich die Mutter des Klägers veranlaßt, seinem Wunsch nach überstellung in das Geriatrische Krankenhaus zu entsprechen; dies gelang ihr auch über den Verein der multiplen Sklerotiker. Von diesem Zeitpunkt an war die Rivalität zwischen den beiden Frauen für das weitere Geschehen in der Ehe bestimmend. Der Kläger, dem das von der Beklagten zugestandene monatliche Taschengeld von 400 S bei einem Pensionseinkommen von insgesamt monatlich 10.300 S zu gering erschien, entzog seiner Gattin mit Wirkung vom 21. November 1983 über Betreiben seiner Mutter die Verfügungsberechtigung in Ansehung seines Pensionskontos und übertrug diese Rechte an seine Mutter. Diese unterließ es, die für die Ehewohnung aufgelaufenen Stromkosten zu bezahlen, sodaß die Beklagte genötigt war, für diesen Aufwand zwecks Abwendung drohender Stromabschaltung aus ihrem eigenen monatlichen Einkommen von rund 9.500 S (netto) als Bedienstete der Universität Graz aufzukommen. Wegen dieses Verhaltens beantragte die Beklagte am 9. Dezember 1983 die Entmündigung des Klägers. Der Antrag wurde abgewiesen, weil dem Kläger mit Ausnahme eines leichten Psychosyndroms im Rahmen seiner Grunderkrankung die geistige Fähigkeit zuerkannt wurde, seine Angelegenheiten selbst zu besorgen.

In der Folge verzichtete der Kläger auf seine Mietrechte an der ihm zugewiesenen Behindertenwohnung in Graz, Hüttenbrennergasse 52, die den Streitteilen als Ehewohnung diente, sodaß sich die Beklagte aus eigenen Mitteln eine andere Wohnung beschaffen mußte. Nachdem sie im Zuge einer Auseinandersetzung mit ihrer Schwiegermutter gelegentlich eines gemeinsamen Besuches beim Kläger am 31. Dezember 1983 von diesem aus dem Krankenhaus gewiesen worden war, stellte sie in der Folge nach mehrmaligen Besuchen und einer neuerlichen Auseinandersetzung mit der Mutter des Klägers am 4. März 1984 ihre Besuche beim Kläger ein.

In rechtlicher Hinsicht erblickte das Erstgericht in der Forderung des Klägers, die Beklagte solle ihn zu Hause betreuen, obwohl er habe wissen müssen, daß sie dazu nicht in der Lage sei, in der Entziehung der Berechtigung zur Verfügung über sein Einkommen und in der Aufgabe der Ehewohnung schwere Eheverfehlungen des Klägers und in der fehlenden Rücksichtnahme auf die psychische Ausnahmesituation des Klägers und der schwerwiegenden Lieblosigkeit und Einschränkung ihrer Besuche sowie den Entmündigungsantrag solche der Beklagten; diese stünden einander gleichwertig gegenüber.

Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes und führte zur Berufung des Klägers im wesentlichen aus, er trachte sein Verhalten unter Verweisung auf sein Leiden zu verniedlichen. Das Erstgericht habe jedoch diesem Umstand gebührend Rechnung getragen, sodaß der Kläger sich durch das gleichteilige Verschulden nicht beschwert erachten dürfe. Auf die Berufung der Beklagten sei deshalb nicht weiter einzugehen, weil die Beklagte in dieser nach dem Inhalt des Anfechtungsantrages die Scheidung der Ehe aus dem Grunde des § 55 Abs. 2

EheG und den Ausspruch des überwiegenden Verschuldens des Klägers an der Zerrüttung der Ehe anstrebe. Das auf § 55 EheG gestützte Begehren sei aber nur als Hilfsantrag für den Fall der Abweisung des Begehrens nach § 49 EheG erhoben worden. Solange letzteres - selbst nach den Ausführungen in der Berufung der Beklagten - nicht verneint werden könne, bestehe für die Beklagte, die nicht einmal eine Widerklage in diesem Sinne erhoben habe, keine Möglichkeit, zu erreichen, daß die Ehe aus dem Grunde des § 55 EheG geschieden werde.

Rechtliche Beurteilung

Die gegen das Urteil des Berufungsgerichtes nur mehr von der Beklagten erhobene Revision ist berechtigt.

Das Gericht zweiter Instanz hat die Berufung der Beklagten mit dem bloßen Bemerken für unberechtigt erachtet, die Beklagte strebe eine Scheidung gemäß § 55 Abs. 1 EheG und den Ausspruch des überwiegenden Verschuldens des Klägers an der Zerrüttung der Ehe gemäß § 69 Abs. 3 EheG an, obschon der Kläger primär die Scheidung wegen Verschuldens nach § 49 EheG begehrt und das Erstgericht diesem Begehren stattgegeben habe.

Es ist zwar richtig, daß der Kläger die Scheidung gemäß § 55 Abs. 1 EheG nur hilfsweise, also für den Fall der Abweisung des auf § 49 EheG gestützten Scheidungsbegehrens beantragt hat, sodaß der von der Beklagten angestrebte Ausspruch gemäß den §§ 55 Abs. 1, 69 Abs. 3 EheG die Abweisung des Begehrens nach § 49 EheG voraussetzt. Es trifft auch zu, daß die Beklagte weder im Berufungs- noch im Revisionsantrag mit wünschenswerter Deutlichkeit zum Ausdruck brachte, sie beantrage vorweg die Abweisung des Begehrens nach § 49 EheG. Aus dem Vorbringen in der Berufung (insbesondere AS 157) geht jedoch eindeutig hervor, daß sie eine Scheidung wegen (ihres) Verschuldens für unberechtigt hält. Der Rechtsmittelantrag der Beklagten kann demnach nur so verstanden werden, daß sie die Abänderung des Ersturteiles im Sinne der Abweisung des Haupt- und der Stattgebung des Eventualbegehrens anstrebt.

Es kann auch nicht gesagt werden, daß die Beklagte mit dem begehrten Verschuldensausspruch ('überwiegendes Verschulden des Klägers') zugestehe, selbst an der Scheidung mitschuldig zu sein (§ 60 Abs. 3 EheG). Sie beantragt vielmehr auszusprechen, den Kläger treffe das überwiegende Verschulden an der Zerrüttung der Ehe (§ 61 Abs. 3 EheG). Für einen solchen Schuldausspruch kommt es nicht darauf an, ob ein Scheidungstatbestand verwirklicht wurde, sondern darauf, ob eine Schuld an der Zerrüttung der Ehe anzunehmen ist. Dieses Zerrüttungsverschulden kann somit unter Umständen auch geringergradig sein (EFSlg. 43.698, 43.699; 41.289, 41.290 ua; Schwind, Eherecht 2 , 284; Schwind in Ehrenzweig, Familienrecht 3 67 f; Koziol-Welser, Grundriß II 7 202; Aicher in Ostheim, Schwerpunkte der Familienrechtsreform, 94 f und in Floretta, Das neue Ehe- und Kindschaftsrecht, S 124).

Ist aber die Berufung in diesem Sinne sachlich zu erledigen, so ist das Berufungsverfahren insoweit mangelhaft geblieben, als das Gericht zweiter Instanz in die Erörterung der geltend gemachten Anfechtungsgründe nicht eingetreten ist. Dieses Versäumnis wird das Berufungsgericht im fortgesetzten Verfahren nachzuholen haben. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs. 1 ZPO.

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