OGH 1Ob26/84

OGH1Ob26/8414.11.1984

SZ 57/171

Normen

AHG §6
AHG §6

 

Spruch:

Für den Beginn der Verjährung eines Amtshaftungsanspruches ist jener Zeitpunkt maßgebend, zu dem der Geschädigte nach den ihm bekannten Tatsachen ohne nennenswerte Mühe auf das Verschulden irgendeines Organs des Rechtsträgers schließen konnte. Wird der Anspruch aus schuldhaftem Verhalten verschiedener Organe abgeleitet, ist die Verjährung für jede Anspruchsgrundlage gesondert zu prüfen

OGH 14. 11. 1984, 1 Ob 26/84 (OLG Innsbruck 5 R 150/84; LG Innsbruck 6 Cg 29/83)

Text

Der Kläger war am 28. 7. 1976 im landesgerichtlichen Gefangenenhaus in Innsbruck, wo er eine Strafe verbüßte, damit beschäftigt, im Ziegelwerk den Kellergang und das dort befindliche Förderband zu reinigen. Dabei geriet er mit dem rechten Arm zwischen das laufende Förderband und die Antriebswalze, wodurch der rechte Arm oberhalb des rechten Ellbogens vollständig abgetrennt wurde; weiters erlitt er Brüche beider Unterarmknochen. Der Kläger wurde in stark schockiertem Zustand in die chirurgische Universitätsklinik Innsbruck eingeliefert. Die Knochenbrüche wurden durch Metallplatten stabilisiert, am Oberarm wurde eine Verkürzung um zirka 5 cm vorgenommen, sodaß eine spannungsfreie Rekonstruktion der Hauptgefäße und Hauptnerven ermöglicht wurde. Die chirurgische Rekonstruktion ist in bescheidenem Umfang gelungen. Die Finger sind praktisch verkümmert, schlecht durchblutet und gefühllos; eine kraftvolle Bewegung ist unterhalb des Ellbogengelenkes nur durch Streckung einigermaßen möglich, die Beugekraft ist gemindert. Die Schulterbeweglichkeit ist in gutem Umfang vorhanden. Die Durchblutung des gesamten Armbereiches ist gemindert. Der rechte Arm kann nur mehr zum groben Gegenhalten benützt werden, eine selbständige Greiffunktion ist nicht mehr gegeben. Am 10. 8. 1976 wurde der Kläger in der chirurgischen Universitätsklinik Innsbruck zum Unfallgeschehen befragt. Er erklärte, daß er sich am Unfall nicht schuldig fühle und diesen als reinen Unglücksfall betrachte. Seiner Meinung nach treffe niemanden ein Verschulden. Ob die Maschine genügend abgesichert gewesen sei, könne er nicht beurteilen. Diese Erklärung des Klägers veranlaßte das Bundesministerium für Justiz, ein Gutachten des Arbeitsinspektorates darüber einzuholen, ob die Unfallstelle "vorschriftsmäßig abgesichert" war. Dieses Gutachten wurde am 24. 11. 1976 erstattet und langte am 25. 11. 1976 beim Leiter des landesgerichtlichen Gefangenenhauses Innsbruck ein. Darin wird ausgeführt, daß eine bessere Verdeckung der Bandauflaufstelle angebracht gewesen wäre, eine derartige seitliche Verkleidung den Unfall aber vermutlich nicht verhindert hätte.

Der Kläger erstattete am 15. 2. 1977 bei der Staatsanwaltschaft Innsbruck Anzeige gegen unbekannte Täter, jedenfalls Bedienstete des landesgerichtlichen Gefangenenhauses Innsbuck, wegen fahrlässiger Körperverletzung. Am 25. 7. 1977 wurde von der Staatsanwaltschaft Innsbruck Antrag auf Bestrafung des Justizwachmanns Manfred B wegen Vergehens nach § 88 Abs. 4 erster Fall StGB gestellt. Mit Urteil des Bezirksgerichtes Innsbruck vom 11. 12. 1977, 18 U 993/77, wurde der Beschuldigte von dem wider ihn erhobenen Strafantrag, er habe am 28. 7. 1976 als verantwortliches Aufsichtsorgan die erforderliche Aufsicht über die Reinigungsarbeiten am Förderband im landesgerichtlichen Gefangenenhaus Innsbruck unterlassen, wodurch der Strafgefangene Helmut H (Kläger) am Körper verletzt wurde, gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen; Helmut H habe das Förderband in Abwesenheit des JWM B eingeschaltet, dem Beschuldigten könne ein Überwachungsverschulden nicht angelastet werden. Das Urteil ist in Rechtskraft erwachsen. Am 25. 7. 1979 richtete der Kläger vom landesgerichtlichen Gefangenenhaus Innsbruck aus ein Aufforderungsschreiben gemäß § 8 AHG an die Finanzprokuratur zur Anerkennung seiner Ersatzansprüche aus dem Unfall vom 28. 7. 1976. Das Aufforderungsschreiben langte am 27. 7. 1979 bei der Finanzprokuratur ein. Mit Bescheid des Bundesministeriums für Justiz vom 12. 9. 1979, Z 404.116/33-V 8/78, wurde dem Kläger eine Teilrente zuerkannt; im Bescheid wurde von einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 70 vH ausgegangen. Am 2. 10. 1979 stellte der Kläger den Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe und Beistellung eines Rechtsanwalts zur Verfahrenshilfe zur "Einbringung einer Klage gegen einen Bescheid des BM f. Justiz". Dieser Antrag langte am 8. 10. 1979 beim Schiedsgericht der Sozialversicherung für Tirol ein. Mit Beschluß des Erstgerichtes vom 9. 1. 1979 wurde dem Kläger die Verfahrenshilfe bewilligt. Mit Bescheid der Rechtsanwaltskammer für Tir. vom 16. 10. 1979 wurde Dr. Ewald K, Rechtsanwalt in Innsbruck, zum Verfahrenshelfer bestellt; der Bestellungsbeschluß wurde am 18. 10. 1979 an den Kläger und den bestellten Verfahrenshelfer abgefertigt. Mit dem am 31. 10. 1979 abgefertigten Schreiben lehnte die Finanzprokuratur die Anerkennung des vom Kläger erhobenen Ersatzanspruches ab. Am 5. 11. 1979 wurde Dr. Ewald K vom landesgerichtlichen Gefangenenhaus verständigt, daß der Kläger ihn zu sprechen wünsche. Rechtsanwalt Dr. Ewald K begab sich am 6. 11. 1979 in das landesgerichtliche Gefangenenhaus und wurde dort vom Kläger über den Inhalt der zu erhebenden Klage informiert. Die Klage langte am 9. 11. 1979 bei Gericht ein.

Der Kläger begehrt, gestützt auf die Bestimmungen des Amtshaftungsgesetzes, von der beklagten Republik Österreich den Betrag von 548 981.16 S als Schmerzensgeld und Entschädigung für Verunstaltung und den weiteren Betrag von 42 500 S als Verdienstentgang. Er führte zur Begründung aus, der Unfall sei darauf zurückzuführen, daß am Förderband entgegen den Betriebsvorschriften keine Schutzvorrichtung

ngebracht gewesen sei und der diensthabende Justizwachebeamte seine Aufsichts- bzw. Kontrollpflicht verletzt habe.

Die beklagte Partei beantragte Abweisung des Klagebegehrens. Der Unfall sei auf das eigenmächtige Verhalten des Klägers zurückzuführen, der entgegen den ihm erteilten Anweisungen Reinigungsarbeiten bei laufendem Förderband durchgeführt habe. Eine Verletzung von Aufsichts- und Kontrollpflichten durch Justizwacheorgane liege nicht vor. Das behauptete Fehlen einer Schutzvorrichtung am Förderband sei für den Unfall ohne Bedeutung. Die Ansprüche des Klägers seien verjährt.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren wegen Verjährung ab.

Das Berufungsgericht gab der gegen dieses Urteil erhobenen Berufung des Klägers Folge, hob es unter Beisetzung eines Rechtskraftvorbehalts auf und verwies die Rechtssache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück. Vor Einlangen des vom Leiter des landesgerichtlichen Gefangenenhauses eingeholten Gutachtens des Arbeitsinspektorates sei dem Kläger das Wissen, daß vorgeschriebene Schutzvorkehrungen am Förderband fehlten und dies auf ein Verschulden eines Organs der beklagten Partei zurückzuführen sei, nicht zumutbar gewesen. Das Gutachten sei am 25. 11. 1976 vorgelegen, sodaß die dreijährige Verjährungsfrist (§ 6 Abs. 1 erster Satz AHG) im Zeitpunkt der Überreichung der Klage am 9. 11. 1979 noch nicht abgelaufen gewesen sei.

Gegen den Beschluß des Berufungsgerichtes wendete sich der Rekurs der beklagten Partei. Dem Kläger habe bereits unmittelbar nach dem Unfall die von ihm nunmehr behauptete Unterlassung der Aufsichtspflicht von Justizwacheorganen bekannt sein müssen. Es sei ihm aber auch die Tatsache, daß am Förderband keine Schutzverkleidung angebracht gewesen sei, bekannt gewesen. Der Kläger habe demnach bereits unmittelbar nach dem Unfall auf das Verschulden irgendeines Organs der beklagten Partei schließen können, sodaß die Verjährungsfrist mit dem Unfalltag, dem 28. 7. 1976, zu laufen begonnen habe. Auch unter Berücksichtigung der durch das eingeleitete Aufforderungsverfahren bewirkten Hemmung der Verjährung für die Dauer von drei Monaten seien die Ansprüche des Klägers im Zeitpunkt der Überreichung der Klage am 9. 11. 1979 verjährt gewesen.

Der Oberste Gerichtshof gab dem Rekurs der beklagten Partei nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Aus der Begründung:

Gemäß § 6 Abs. 1 AHG verjähren Ersatzansprüche nach § 1 AHG in drei Jahren nach Ablauf des Tages, an dem der Schaden dem Geschädigten bekannt geworden ist. Die Verjährung wird durch die Aufforderung gemäß § 8 AHG für die dort bestimmte Frist oder, wenn die Aufforderung innerhalb dieser Frist beantwortet wird, bis zur Zustellung dieser Antwort an den Geschädigten gehemmt. § 6 Abs. 1 AHG beschränkt allerdings den Beginn der Verjährungsfrist scheinbar allein auf das Bekanntwerden des Schadens, ohne daß es auf die nach § 1489 ABGB erforderliche Kenntnis auch der Person des Schädigers ankäme. Nach ständiger Rechtsprechung beginnt die Frist des § 1489 erster Satz ABGB erst zu laufen, wenn dem Geschädigten neben der Kenntnis des Schadens, der seinen Anspruch gegen den Schädiger begrundenden Sachverhalt soweit bekannt ist oder bekannt sein kann, daß er eine Klage mit Aussicht auf Erfolg erheben könnte (SZ 56/76; ZVR 1982/277; SZ 52/167). Die Bestimmung des § 6 Abs. 1 AHG bedarf aber, wie der OGH bereits in der Entscheidung SZ 52/186 ausgesprochen hat, berichtigender Auslegung. Der Gesetzgeber hat die Vorschrift des § 6 Abs. 1 AHG erkennbar bloß mit jener des § Abs. 1 AHG in Einklang zu bringen versucht, wonach bei der Geltendmachung des Ersatzanspruchs ein bestimmtes Organ nicht genannt werden muß; daher ist die Kenntnis der Person des Beschädigers für den Beginn der Frist nicht erforderlich (Loebenstein-Kaniak, Komm. 96); es genügt der Beweis, daß der Schaden nur durch die Rechtsverletzung irgendeines Organs des beklagten Rechtsträgers entstanden sein konnte. Da aber sonst der Schadenersatzanspruch grundsätzlich nach den Bestimmungen des bürgerlichen Rechts geregelt sein sollte (JBl. 1973, 155 ua.), kann nicht angenommen werden, daß der Gesetzgeber den Beginn der Verjährungsfrist in jenen Ausnahmefällen, in denen die Schadensverursachung durch ein Organ des Rechtsträgers nicht auf der Hand liegt, zu Lasten des Geschädigten dahin regeln wollte, daß diesem nicht einmal bekannt sein müsse, daß der Schaden durch irgendein Organ des Rechtsträgers zugefügt wurde. Für den Beginn der Verjährung ist daher jener Zeitpunkt maßgebend, zu dem der Kläger auf Grund der ihm bekannten Tatsachen ohne nennenswerte Mühe auf das Verschulden irgendeines Organs des beklagten Rechtsträgers schließen konnte (SZ 52/186; vgl. SZ 50/87; SZ 44/115; Koziol, Haftpflichtrecht[2] I 320). Dabei ist auf die Umstände des konkreten Falls abzustellen (RZ 1979/27) und die Erkundungspflicht des Geschädigten nicht zu überspannen (ZVR 1982/277).

Der Kläger grundet seinen Ersatzanspruch auf die Behauptung der Vernachlässigung von Aufsichtspflichten durch Justizwacheorgane und darauf, daß am Förderband eine erforderliche Schutzvorrichtung nicht angebracht gewesen sei. Erfüllt ein Sachverhalt die Tatbestände mehrerer anspruchsbegrundender Rechtssätze, die nebeneinander zur Anwendung gelangen, und ist nach jeder dieser Normen auf Grund desselben Sachverhalts ein auf dieselbe Leistung gerichteter Anspruch desselben Gläubigers gegen denselben Schuldner gegeben, spricht man von Anspruchskonkurrenz (Koziol aaO 343; Koziol-Welser, Grundriß[6] I 27). Es ist umstritten, ob dem Gläubiger mehrere auf dieselbe Leistung gerichtete Ansprüche zustehen, die aber miteinander insofern verknüpft sind, als die

Erfüllung des einen Anspruchs auch den anderen zum Erlöschen bringt, oder ob dem Gläubiger nur ein Anspruch zusteht, der sich auf verschiedene Anspruchsgrundlagen stützt. Nach herrschender Ansicht ist in Ansehung jeder Anspruchsgrundlage gesondert zu prüfen, ob deren Voraussetzungen vorliegen (Koziol aaO 344). Das muß umso mehr gelten, wenn derselbe Anspruch nicht aus verschiedenen Rechtssätzen, sondern aus verschiedenen Sachverhalten (schuldhaftem Verhalten verschiedener Organe) abgeleitet wird. Unter diesen Voraussetzungen scheidet auch die Annahme einer einheitlichen Verjährung nach der für den Kläger günstigsten Verjährungsregel, wie sie Koziol (aaO 345) bei Anspruchsnormenkonkurrenz lehrt, aus. Die Frage der Verjährung ist vielmehr in Ansehung jeder Anspruchsgrundlage gesondert zu prüfen.

Was die behauptete Unterlassung der Anbringung einer Schutzvorrichtung am Förderband betrifft, so mag zwar dem Kläger schon im Zeitpunkt des Unfalls bekannt gewesen sein, daß eine solche Schutzvorrichtung fehlte, es war ihm aber die Kenntnis, daß eine Schutzvorrichtung erforderlich war und die unterlassene Anbringung einer solchen irgendeinem Organ der beklagten Partei zum Verschulden gereicht, nicht zumutbar. Auch das Bundesministerium für Justiz hatte offenbar Zweifel, ob das Förderband den gesetzlichen Vorschriften entsprach. Es veranlaßte deshalb die Einholung eines Gutachtens des Arbeitsinspektorates. Vor dem Einlangen dieses Gutachtens und seiner Kenntnis mußte auch der Kläger nicht auf ein Verschulden eines Organs der beklagten Partei schließen. Da das Gutachten erst am 25. 11. 1976 beim Leiter des landesgerichtlichen Gefangenenhauses einlangte und damit frühestens in diesem Zeitpunkt auch dem Kläger zur Verfügung stehen konnte, ist dieser Anspruch des Klägers nicht verjährt. Ob der Inhalt des Gutachtens geeignet ist, dem Klagebegehren zum Erfolg zu verhelfen, ist für den Eintritt der Verjährung ohne Belang. Der Anspruch des Klägers ist aber auch insofern nicht verjährt, als er auf die behauptete Verletzung von Aufsichts- und Kontrollpflichten gestützt wird. Bei Prüfung dieser Frage kann nicht unbeachtet bleiben, daß der Kläger den Unfall als Strafgefangener erlitten hat und ihm demnach Nachforschungen, welchen Pflichtenkreis ein Justizwacheorgan trifft, nicht in solchem Maße möglich war, daß er wissen mußte, daß irgendein Justizwacheorgan ein Verschulden trifft. Er selbst erklärte auch noch am 10. 8. 1976, daß seiner Meinung nach niemanden ein Verschulden treffe. Eine nähere Klärung des Geschehensablaufs, insbesondere ob einem Organ der beklagten Partei ein Überwachungsverschulden anzulasten ist, ist erst in dem über Veranlassung des Klägers beim Bezirksgericht Innsbruck zu 18 U 993/77 eingeleiteten Strafverfahren erfolgt. Wohl hätte der Kläger zur Klärung der Frage des Überwachungsverschuldens unverzüglich Strafanzeige erstatten können, doch kann nicht gesagt werden, daß die Klärung der Verschuldensfrage in kürzerer Zeit möglich gewesen wäre, als dies dann tatsächlich im Strafverfahren der Fall war.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte