European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1984:0070OB00608.840.0719.000
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben.
Dem Erstgericht wird nach Verfahrensergänzung eine neue Entscheidung aufgetragen.
Begründung:
Die Eltern der mj J*****, geboren am ***** und der mj U*****, geboren am *****, vereinbarten anlässlich der Scheidung ihrer Ehe nach § 55a EheG am 16. 5. 1983, dass der Mutter künftig alle aus den familienrechtlichen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern erfließenden rein persönlichen Rechte und Pflichten (§ 144 ABGB) allein zustehen. Für den Vater wurde ein Besuchsrecht einmal wöchentlich halbtägig und jeden zweiten Sonntag eines jeden Monats ganztägig vereinbart. Die Vereinbarung wurde durch das Pflegschaftsgericht genehmigt. Bereits am 18. 11. 1983 beantragte der Vater, ihm die „Pflege und Erziehung und die elterlichen Rechte“ über die mj J***** zu übertragen. Dieses Kind sei schon immer ihm mehr zugetan gewesen als der Mutter. Nach der Scheidung der Ehe sei die Mutter mit den Kindern nach A***** verzogen, worüber die mj J***** sehr unglücklich sei. Sie habe den Wunsch geäußert, zum Vater zu ziehen.
Mit Beschluss vom 30. 4. 1984 entzog das Erstgericht der Mutter die im § 144 ABGB angeführten Rechte und Pflichten über die mj J***** und übertrug diese Rechte und Pflichten dem Vater. Nach den Feststellungen des Erstgerichts bewohnt die Mutter mit den Kindern in A***** zwei wohnlich eingerichtete, durch einen separaten Eingang erreichbare Zimmer in einem Bauernhaus. Die mj U***** besucht vormittags einen Kindergarten, die mj J***** besucht die Hauptschule in Hartberg. Die Mutter ist am Vormittag als Verkäuferin beschäftigt, am Nachmittag hat sie Zeit für die Kinder. Nach den Besuchen beim Vater war die mj J***** still und wortkarg. Sie äußerte schließlich den Wunsch, zum Vater zu ziehen. Es bestand daher noch im Herbst 1983 zwischen Mutter und Tochter eine gespannte Atmosphäre. Die mj J***** fühlte sich zurückgesetzt und gegenüber ihrer Schwester benachteiligt. Bei einem deshalb im Wege der Erziehungsberatung durchgeführten Test kam eine geschwisterliche Rivalität und der Wunsch J*****s zum Ausdruck, wieder zum Vater zu kommen. Bei diesem Test wirkte J***** berechnend und stellte ihre Mutter bloß. In dem Erziehungsberatungsbefund vom 5. 12. 1983 kam die Erziehungsberaterin zu dem Ergebnis, dass eine Erweiterung des Besuchsrechts angezeigt, eine Rückführung der mj J***** zum Vater aber erst zu einem späteren Zeitpunkt zu erwägen sei. Eine Trennung der Geschwister dürfte sich eher positiv auswirken. Bei einem Hausbesuch einer Sozialarbeiterin des Jugendamts am 29. 3. 1984 brachte die Mutter zum Ausdruck, dass sie mit der mj J***** keine Schwierigkeiten mehr hat. Der Sozialarbeiterin erklärte die Minderjährige, dass sie doch gerne zum Vater möchte. Dieses Verlangen unterstreicht die Minderjährige dadurch, dass sie Gegenstände, die ihr lieb sind, zu den Besuchen beim Vater mitnimmt und dort zurücklässt. Es muss mit negativen Reaktionen der Minderjährigen gerechnet werden, wenn ihr die Erfüllung ihres Wunsches versagt wird. Die Voraussetzungen für eine gedeihliche Erziehung sind bei beiden Elternteilen vorhanden. Mit der Lebensgefährtin des Vaters und deren 11‑jährigem Sohn versteht sich die Minderjährige gut.
Das Erstgericht war der Auffassung, dass für die zu treffende Entscheidung letztlich das Wohl des Kindes ausschlaggebend sei. Das Wohl der mj J***** sei aber durch ihre Rückführung zum Vater eher gewährleistet, als durch ihre Belassung bei der Mutter, handle es sich doch nur um eine dem überzeugend geäußerten Wunsch der Minderjährigen entsprechende Rückführung in deren gewohnte Umgebung.
Das Rekursgericht änderte den erstgerichtlichen Beschluss im Sinne einer Abweisung des Antrags des Vaters ab. Die Übertragung der einem Elternteil bereits zuerkannten persönlichen Rechte und Pflichten über ein Kind auf den anderen Elternteil dürfe nur bei Vorliegen wichtiger Gründe erfolgen. Das Vorliegen solcher Gründe verneinte das Rekursgericht unter Hinweis auf die Ergebnisse des mit der Minderjährigen durchgeführten Testes und den Inhalt des Erziehungsberatungsbefundes vom 5. 12. 1983.
Rechtliche Beurteilung
Der gegen die Entscheidung des Rekursgerichts erhobene Revisionsrekurs des Vaters ist berechtigt.
Dem Rekursgericht ist zwar darin beizupflichten, dass ein Wechsel in den Pflege‑ und Erziehungsverhältnissen nur dann vorgenommen werden kann, wenn besonders wichtige Gründe eine Änderung geboten erscheinen lassen (SZ 53/142 mwN). Nach § 177 Abs 2 Satz 2 ABGB hat jedoch das Gericht vor seiner Entscheidung darüber, welchem der beiden Elternteile alle aus den familienrechtlichen Beziehungen zwischen Eltern und mj Kindern erfließenden rein persönlichen Rechte und Pflichten allein zustehen, das mindestens 10‑jährige Kind zu hören. Die Anhörungspflicht besteht auch im Falle einer nachträglichen Änderung einer bereits getroffenen Regelung (EFSlg 38.428). Aus der genannten Bestimmung ergibt sich die gesteigerte Rücksichtnahme auf die Persönlichkeit des Kindes, und es wir der Bedeutung Rechnung getragen, die einer Entscheidung nach § 177 ABGB für das Kind zukommt (AB 587 BlgNR 14. GP 14). Der festgelegten Altersgrenze liegt offenbar die Annahme zu Grunde, dass ein Kind im Alter von zehn Jahren bereits eine gewisse Urteils‑ und Kritikfähigkeit besitzt und in der Lage ist, einen eigenen Willen zu artikulieren (vgl EFSlg 36.045; 31.396; Hinz in MünchKomm Rz 38 zu § 1671). Oberste Richtschnur für die Regelung des Eltern‑Kindschaftsverhältnisses ist aber immer das Wohl des Kindes (EFSlg 38.392 f ua). Ob unter diesem Gesichtspunkt im vorliegenden Fall dem Wunsch der mj J***** ausschlaggebende Bedeutung zukommt, lässt sich aufgrund der bisherigen Feststellungen nicht abschließend beurteilen. Es liegen keine Feststellungen darüber vor, ob beim Vater eine dem Alter und der künftigen Entwicklung des Mädchens entsprechende Unterbringung und Beaufsichtigung auch bei Abwesenheit des Vaters gewährleistet ist. Es blieb auch ungeprüft, ob der Wunsch des Kindes einer gefestigten Neigung oder bloß einer vorübergehenden Laune entspringt. Das bisherige Verhalten des Kindes deutet zwar auf eine sachliche Motivierung seines Wunsches hin, lässt aber einen sicheren Schluss in dieser Richtung nicht zu. Nach den Feststellungen des Erstgerichts ist mit negativen Reaktionen der Minderjährigen zu rechnen, falls ihr die Erfüllung ihres Wunsches versagt bleibt, ohne dass den Feststellungen oder der ihr zu Grunde liegenden Stellungnahme des Jugendamts entnommen werden könnte, welcher Art diese Reaktionen sind und aufgrund welcher Umstände eine solche Annahme gerechtfertigt ist. Eine Klarstellung der letztgenannten Umstände wird wohl nur im Wege der Einholung eines fundierten Gutachtens aus dem Fachgebiet der Psychologie zu erreichen sein (vgl Treitz , Die Verteilung der elterlichen Gewalt bei Auflösung der Elternehe und bei dauerndem Getrenntleben der Eltern 66 f).
Demgemäß ist dem Revisionsrekurs Folge zu geben.
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