OGH 13Os173/82

OGH13Os173/8216.12.1982

Der Oberste Gerichtshof hat am 16.Dezember 1982

unter dem Vorsitz des Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Harbich, in Gegenwart der Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Müller, Dr. Horak, Dr. Schneider und Dr. Hörburger als Richter sowie des Richteramtsanwärters Mag. Hammer als Schriftführers in der Strafsache gegen Hans A wegen des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs. 1 und 2

StGB. über die vom Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengerichts vom 8.Juni 1982, GZ. 6 a Vr 10.331/81-32, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung nach öffentlicher Verhandlung, nach Anhörung des Vortrags des Berichterstatters, Hofrats des Obersten Gerichtshofs Dr. Schneider, der Ausführungen des Verteidigers Dr. Weber und der Ausführungen des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalts Dr. Hauptmann, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird verworfen.

Der Berufung wird nicht Folge gegeben.

Gemäß § 390 a StPO. fallen dem Angeklagten die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

Der am 25.August 1931 geborene Postbeamte Hans A wurde des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs. 1 und Abs. 2, zweiter Fall, StGB. schuldig erkannt, weil er am 28. September 1981

in Wien Karl B (richtig: C) durch Versetzen eines Herzstichs (mit einem Messer von 15 cm Klingenlänge) eine schwere Körperverletzung absichtlich zugefügt hat, wobei die Tat den Tod des Geschädigten zur Folge hatte.

Diesen Schuldspruch bekämpft Hans A mit einer auf § 281 Abs. 1 Z. 3, 5 und 9 lit. b StPO. gestützten Nichtigkeitsbeschwerde. In der Verfahrensrüge macht der Angeklagte geltend, die Anklageschrift sei ihm, obgleich er sich zur Zeit ihrer Einbringung bereits in Haft befunden habe, der Vorschrift des § 209 Abs. 1 StPO. zuwider niemals persönlich kundgemacht worden; infolge dieser Unterlassung sei die ihm laut § 221 Abs. 1 StPO. zugestandene Vorbereitungsfrist, die erst nach Rechtskraft der Versetzung in den Anklagestand zu laufen beginne (SSt. 9/93), verkürzt worden. Dem ist entgegenzuhalten, daß die Anklageschrift zwar nicht dem Angeklagten persönlich, wohl aber seinem damaligen Wahlverteidiger - über dessen bereits am 11.Dezember 1981 (noch vor Schluß der Voruntersuchung) namens des Angeklagten gestelltes Ersuchen (ON. 15)

-

am 26.April 1982 zugestellt worden ist (siehe S. 3 g unten sowie den in der Sammelmappe im Akt erliegenden Rückschein). Der Verteidiger hat hierauf am 4.Mai 1982 ausdrücklich (und vom Angeklagten unwidersprochen) auf die Erhebung eines Einspruchs verzichtet (S. 3 g verso unten).

Eine Zustellung der Anklageschrift auf Verlangen des verhafteten Angeklagten an dessen Verteidiger ist im § 209 Abs. 3 StPO. ausdrücklich vorgesehen. Dieser Vorschrift ist - der Ansicht des Beschwerdeführers zuwider - keineswegs zu entnehmen, daß es in einem solchen Fall zu einer zweimaligen Kundmachung bzw. Zustellung der Anklageschrift (sowohl an den Verteidiger als auch an den Angeklagten persönlich) kommen müßte. Eine Abweichung von der allgemeinen Regel des § 79 Abs. 2 StPO., wonach u.a. die Anklageschrift entweder der Partei (dem Beschuldigten) selbst oder ihrem bestellten Vertreter zugestellt werden muß, ist im § 209 Abs. 1 bis 3 StPO. insofern zwar vorgesehen, als dem verhafteten Angeklagten die Anklageschrift grundsätzlich persönlich und nur auf dessen Verlangen dem Verteidiger zuzustellen ist. Ein weiteres, von der Regel des § 79 Abs. 2 StPO. abweichendes Gebot, im letzterwähnten Fall die Anklage zweifach - sowohl an den verhafteten Beschuldigten als auch an dessen Verteidiger - zuzustellen, ergibt sich aus den speziell für die Anklageschrift geltenden Zustellungsvorschriften hingegen nicht. Einer solchen Doppelzustellung kommt auch seit dem Entfall einer gesonderten, nur vom verhafteten Beschuldigten selbst vorzunehmenden Einspruchsanmeldung auf Grund des Art. IV Abs. 1 und 6 des Bundesgesetzes vom 23.Jänner 1957, BGBl. Nr. 31, kein erkennbarer Sinn zu, weil nicht mehr auf eine mögliche Aufspaltung der Einspruchsbefugnis zwischen dem zur Anmeldung allein berechtigten verhafteten Beschuldigten (siehe Lohsing-Serini S. 362) und seinem zur Ausführung des Einspruchs befugten Verteidiger Rücksicht genommen werden muß. Der Hinweis des Beschwerdeführers auf § 421 Abs. 1 StPO., woraus sich ergebe, daß die Zustellung der Anklageschrift an den Verteidiger nur dann rechtswirksam sei, wenn der Aufenthalt des Beschuldigten unbekannt oder außerhalb der Republik Österreich gelegen ist, vermag ebenfalls nicht zu überzeugen; denn die erwähnte Vorschrift sieht für diesen Fall die Zustellung der Anklageschrift an einen eigens hiefür zu bestellenden Verteidiger vor und spricht keineswegs der Anklagezustellung an den Verteidiger in anderen Fällen (etwa jenem der §§ 209 Abs. 4, 79 Abs. 2 StPO.) die Wirksamkeit ab.

Ebensowenig geht aus § 209 Abs. 3 StPO. hervor, daß das auf Zustellung der Anklageschrift an den Verteidiger gerichtete Verlangen vom (verhafteten) Beschuldigten persönlich und erst bei der Kundmachung der Anklageschrift an letzteren gestellt werden muß, um wirksam zu werden, mag ein solches Ersuchen auch vielfach (vgl. das StPOForm.

Ankl. 2: Protokoll über die Kundmachung der Anklageschrift an einen verhafteten Beschuldigten) erst bei dieser Gelegenheit vom Beschuldigten vorgebracht werden. Die Stellung dieses Verlangens durch den Verteidiger namens des Beschuldigten ist als Ausübung der im § 44 Abs. 1 StPO. geregelten, hinsichtlich der speziellen Prozeßhandlung durch das Gesetz nicht ausdrücklich eingeschränkten umfassenden Vertretungsbefugnis anzusehen. Es besteht auch kein Grund für die Annahme der Unwirksamkeit eines solchen Ersuchens vor der Einbringung der Anklageschrift. Eine Analogie zum unwirksamen (Foregger-Serini3 Erl. I zu § 210 StPO.) Einspruchsverzicht vor der Kundmachung der Anklageschrift ist nicht statthaft, geht es doch bei der Stellung eines Verlangens gemäß § 209 Abs. 3 StPO. nur um die Ausübung der Berechtigung, sich zur Bekämpfung der Anklageschrift eines Verteidigers zu bedienen, nicht aber um einen im vorhinein abgegebenen Verzicht auf ein Anfechtungsrecht.

Angesichts der im § 44 Abs. 1 StPO. normierten umfassenden Vertretungsbefugnis des einmal bestellten Verteidigers bleibt das weitere Vorbringen der Verfahrensrüge, wonach die Anklageschrift dem Verteidiger ohne Wissen und ohne Verständigung des Angeklagten zugestellt und der Einspruchsverzicht gleichfalls ohne Einwilligung des letzteren abgegeben worden sein soll, unbeachtlich: Es ist nämlich nicht Aufgabe des Gerichts, festzustellen, ob eine Handlung des Verteidigers die Zustimmung des Angeklagten hat; vielmehr ist eine Rechtshandlung des Verteidigers nur dann als unwirksam zu behandeln, wenn schon zur Zeit ihrer Vornahme dem Gericht bekannt ist, daß zwischen Verteidiger und Angeklagtem hierüber kein Konsens besteht (EvBl. 1979/164). Im übrigen ist eine Verletzung der Vorschriften des § 209 StPO. nur mit einem Einspruch gegen die Anklageschrift geltend zu machen. Hierauf wurde - wie vorstehend dargelegt, rechtswirksam - verzichtet.

Die in der Mängelrüge nach § 281 Abs. 1 Z. 5 StPO.

erwähnten Verfahrensergebnisse betreffend die Vorgeschichte der Tat und die angebliche Neigung des Karl C zu heftigen, gewalttätigen Reaktionen hätten nur dann einer Erörterung bedurft, wenn Anhaltspunkte für eine Notwehrsituation oder wenigstens für die irrtümliche Annahme einer solchen seitens des Beschwerdeführers hervorgekommen wären. Das ist nicht der Fall gewesen; denn nicht einmal die Verantwortung des Angeklagten deutet darauf hin, daß nach dem Eindringen des C in die Wohnung ein Angriff des letzteren auf ein notwehrfähiges Rechtsgut stattgefunden hätte oder unmittelbar bevorgestanden oder vom Angeklagten irrigerweise als unmittelbar drohend angenommen worden wäre. Seine ursprüngliche Behauptung, erst während eines Handgemenges mit C das Messer ergriffen und den Stich geführt zu haben (S. 22 oben), hat der Rechtsmittelwerber in der Folge nicht aufrechterhalten (auch die Tatzeugin Friederika C hatte diese Version nur gegenüber den am Tatort intervenierenden Polizeibeamten bestätigt, ist aber im weiteren Verfahren hievon eindeutig abgerückt:

S. 22 unten, 41 f., 70, 257 f.). Schon bei seiner polizeilichen Einvernahme hat der Angeklagte vielmehr betont, von dem ihm unbewaffnet und wortlos entgegenkommenden C nicht bedroht worden zu sein (S. 36; siehe auch S. 65, 145). über seine Vorstellungen hinsichtlich des unmittelbar bevorstehenden Verhaltens seines Opfers hat der Beschwerdeführer schließlich in der Hauptverhandlung lediglich zum Ausdruck gebracht, wegen des blassen Gesichts und des verbissenen Gesichtsausdrucks des C gewußt zu haben, daß er 'von ihm etwas zu erwarten habe' (S. 255). Auch diese Verantwortung enthält keinen Hinweis auf einen im Gang befindlichen oder unmittelbar drohenden Angriff des C oder vom Angeklagten in dieser Richtung für die allernächste Zukunft konkret gehegte Befürchtungen. Hat demnach eine Notwehrsituation weder tatsächlich noch vermeintlich bestanden, so bedurfte eines keines Eingehens auf nur mehr für eine Notwehr- oder Putativnotwehrüberschreitung maßgebende Umstände. Ebensowenig entscheidend ist das Motiv der Bewaffnung des Nichtigkeitswerbers mit dem Messer, kommt es doch nur auf den Vorsatz bei der Verwendung dieser Waffe an. Ein ursprüngliches Vorhaben, C mit dem Messer lediglich einzuschüchtern (S. 254, insbesondere S. 35, 65), schließt weder die zur Tatzeit vorhandene Absicht, den C schwer zu verletzen, noch die richtige Beurteilung der Situation als für den Täter ungefährlich aus.

Daß die Exploration durch den psychiatrischen Sachverständigen ergab, der Angeklagte habe sich nicht gefürchtet, ist nicht aktenwidrig; werden doch in diesem Zusammenhang Teile des schriftlichen Befunds (S. 137 und 157) lediglich in geraffter Form wiedergegeben. Im übrigen käme nach den obigen Darlegungen der behaupteten Furcht des Beschwerdeführers vor C nur in einer Notwehrsituation oder in einem Irrtum über das Bestehen einer Notwehrlage (Putativnotwehr) eine Bedeutung zu, weil nur dann zu klären wäre, ob und aus welchem Affekt der Angeklagte die Grenzen der nötigen Verteidigung überschritten hat. Die mangelnde Relevanz der Affektlage des Täters macht deutlich, daß auf die angeblich 'panische Angst' des Angeklagten vor C (vgl. die Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen S. 159

drittletzter Absatz) gar nicht einzugehen war.

Unter § 281 Abs. 1 Z. 9 lit. b StPO. reklamiert der Beschwerdeführer Putativnotwehr, eventuell Putativnotwehrüberschreitung aus einem asthenischen Affekt, ohne daß die überschreitung auf Fahrlässigkeit beruhe. Dem Urteilssachverhalt läßt sich aber die vom Rechtsmittelwerber behauptete Verkennung der Situation keineswegs entnehmen. Im Fehlen einer Konstatierung, ob der Angeklagte einem solchen Irrtum unterlegen ist, kann ein Feststellungsmangel in der Bedeutung des § 281 Abs. 1 Z. 9 lit. b StPO. nicht erblickt werden. Urteilsnichtigkeit gemäß der zitierten Gesetzesstelle wäre nur dann bewirkt, wenn Erörterungen in dieser Richtung auf Grund der Verfahrensergebnisse geboten, mit anderen Worten, wenn dem Akteninhalt Hinweise auf Umstände zu entnehmen gewesen wären, die zu einer überprüfung der Schuldausschließungsgründe der §§ 3 Abs. 2 und 8 StGB. genötigt hätten. Derartige Anhaltspunkte sind aber - wie bereits in der Erledigung der Mängelrüge dargetan - nicht hervorgekommen.

Rechtliche Beurteilung

Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher zu verwerfen.

Das Schöffengericht verhängte über den Angeklagten nach dem zweiten Strafsatz des § 87 Abs. 2 StGB. eine Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Jahren. Es berücksichtigte bei der Strafzumessung als erschwerend nichts, als mildernd die bisherige Unbescholtenheit und das Eingeständnis des Tatsächlichen (ersichtlich gemeint: des objektiven Tatablaufs).

Mit seiner Berufung strebt der Angeklagte unter Hinweis auf die durch ein sogenanntes Dreiecksverhältnis gekennzeichnete Lage des Falls und die bisherige Unbescholtenheit des zur Tatzeit fünfzigjährigen Angeklagten sowie unter Reklamierung weiterer Milderungsumstände (§ 34 Z. 4, 7, 8 und 11 StGB.) die Herabsetzung der Freiheitsstrafe (auch in Anwendung des § 41 StGB.) und (bei entsprechender Strafreduzierung) die Gewährung der bedingten Strafnachsicht an.

Der Berufung kommt Berechtigung nicht zu.

Auszugehen ist davon, daß die Strafe ohnehin nahe der Untergrenze

des gesetzlichen Rahmens geschöpft wurde.

Der vom Berufungswerber ausdrücklich verlangten Anwendung des § 41 StGB. steht die Tatsache des nicht beträchtlichen überwiegens der Milderungsumstände gegenüber. Dabei kommt es nämlich nicht allein auf die im § 34 StGB. beispielsweise aufgezählten 'besonderen' Milderungsgründe an; es sind vielmehr auch der Unrechtsgehalt der Tat und alle sonst nach den allgemeinen Grundsätzen für die Strafbestimmung gemäß § 32 Abs. 2 und 3 StGB. bedeutsamen Momente zu berücksichtigen, welche die Tat als überdurchschnittlich schwer oder als überdurchschnittlich leicht und damit schon für sich allein eventuell als derart weit unter der Norm liegend ausweisen können, daß selbst die gesetzliche Mindeststrafe als überhöht angesehen werden müßte (siehe EBRV. 1971 S. 135 und 136, wonach die außerordentliche Strafmilderung für atypisch leichte Fälle vorgesehen ist und die überwiegenden Milderungsgründe stets das Gewicht der Tat als solche betreffen; vgl. LSK. 1979/338, zuletzt u. a. 13 Os 135/80). Geht man von der Motivation und der Ausführung der dem Schuldspruch zugrunde liegenden Tat aus, dann fallen die Schuld und der Unrechtsgehalt derart ins Gewicht, daß die Voraussetzungen des § 41 StGB. zu verneinen sind.

Der Milderungsumstand des § 34 Z. 4 StGB. ist nicht gegeben, weil mit der dort angeführten 'Furcht' diejenige vor einem Anstifter, einem Vorgesetzten oder Dienstgeber gemeint ist, wie der sprachliche Zusammenhang mit der 'Einwirkung eines Dritten' und mit dem 'Gehorsam' klar erkennen läßt. Die Tat wurde auch - dem Berufungsvorbringen zuwider -

nicht aus Unbesonnenheit begangen. Dieser Milderungsgrund greift nämlich nur dann Platz, wenn die einer augenblicklichen Eingebung entsprungene Tathandlung weder auf eine kriminelle Neigung noch auf die grundsätzliche Geringschätzung fremder Interessen zurückzuführen ist (12 Os 124/82).

Letztere Voraussetzung ist bei dem festgestellten heftigen Angriff mit einem großen Messer zu negieren.

Der - vom Angeklagten ferner beanspruchte - Milderungsgrund des § 34 Z. 8 StGB. liegt schon deshalb nicht vor, weil sich seine die Tat auslösende, allenfalls heftige Gemütsbewegung keinesfalls als allgemein begreiflich darstellt, ist dem Berufungswerber doch in der schon geschilderten Situation zwischen ihm und den Eheleuten C ein sittlicher Vorwurf nicht zu ersparen.

Schließlich wurde - wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt - die Tat auch nicht unter Umständen begangen, die einem Schuldausschließungs- oder Rechtfertigungsgrund nahekommen. Die Gewährung der bedingten Strafnachsicht verbietet sich schon nach dem Strafmaß.

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