OGH 9Os95/82

OGH9Os95/8217.8.1982

Der Oberste Gerichtshof hat am 17.August 1982

unter dem Vorsitz des Hofrates des Obersten Gerichtshofes Dr. Faseth in Gegenwart der Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon.Prof. Dr. Steininger, Dr. Horak, Dr. Hörburger und Dr. Reisenleitner als Richter sowie des Richteramtsanwärters Dr. Stolfa als Schriftführer in der Strafsache gegen Mehmet A wegen des Verbrechens des versuchten Totschlags nach § 15, 76 StGB

über die vom Angeklagten gegen das Urteil des Geschwornengerichtes beim Landesgericht Feldkirch vom 21.April 1982, GZ. 11 Vr 2393/81- 69, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung sowie die von der Staatsanwaltschaft erhobene Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung nach öffentlicher Verhandlung, nach Anhörung des Vortrages des Berichterstatters, Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr. Horak, nach Verlesung der Rechtsmittelschrift der Staatsanwaltschaft sowie nach Anhörung der Ausführungen der Verteidigerin, Rechtsanwalt Dr. Haszler, und der Ausführungen des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Tschulik, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerden des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft werden verworfen.

Der Berufung der Staatsanwaltschaft wird Folge gegeben und die über den Angeklagten verhängte Freiheitsstrafe auf 5 (fünf) Jahre erhöht. Der Angeklagte wird mit seiner Berufung auf diese Entscheidung verwiesen.

Gemäß § 390 a StPO fallen dem Angeklagten die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde der am 3.Oktober 1956 geborene Textilarbeiter Mehmet A auf Grund des Wahrspruchs der Geschwornen des Verbrechens des versuchten Totschlags nach § 15, 76 StGB schuldig erkannt, weil er am 20.Oktober 1981 in Götzis seine Gattin Leyla A dadurch zu töten versucht hatte, daß er sie mit seinem Personenkraftwagen von hinten anfuhr und niederstieß, wobei er sich in einer allgemein begreiflichen heftigen Gemütsbewegung zu dieser Tat hatte hinreißen lassen.

Die Geschwornen hatten (jeweils stimmeneinhellig) die anklagekonform auf versuchten Mord nach § 15, 75

StGB lautende Hauptfrage I. verneint, die Eventualfrage II. wegen versuchten Totschlags jedoch bejaht;

demzufolge entfiel eine Beantwortung der weiteren Eventualfragen III., IV. und V. in Richtung des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung (§ 87 StGB), des Vergehens der schweren Körperverletzung (§ 83 Abs 1, 84 Abs 1 StGB) und des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung (§ 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB).

Sowohl der Angeklagte Mehmet A, als auch die Staatsanwaltschaft bekämpfen das Urteil mit Nichtigkeitsbeschwerden.

Rechtliche Beurteilung

Zur Beschwerde des Angeklagten:

Einen Verfahrensmangel im Sinn der Z. 3 des § 345 Abs 1 StPO erblickt der Angeklagte zunächst in der trotz seiner Verwahrung dagegen erfolgten Verlesung jener Vorerhebungs- und Voruntersuchungsakte, die unter Mitwirkung eines nicht gerichtlich beeideten und der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtigen Dolmetschers (Sojan B) zustandegekommen seien.

Die Rüge versagt. Abgesehen nämlich davon, daß der Angeklagte A ein Mißverständnis bei der Protokollierung seiner Angaben im Vorverfahren gar nicht konkret behauptet und auch nicht in Abrede gestellt hat, zumindest vor der Gendarmerie (vgl. S. 39 ff.), sowie unmittelbar nach der Tat gegenüber Leyla A (S. 193) und gegenüber Beamten des Gendarmeriepostenkommandos Götzis (vgl. S. 147) - wenngleich seiner Verantwortung nach tatsachenwidrig - ein Handeln mit Tötungsvorsatz - entsprechend seiner vorherigen Ankündigung gegenüber Aloisia C und Christa D (vgl. S. 213, 290) - zugegeben zu haben (vgl. S. 449 ff.), kommen als nichtige Vorerhebungs- oder Voruntersuchungsakte im Zuge von Erhebungen durch die Sicherheitsbehörden verfaßte Protokolle und Berichte grundsätzlich überhaupt nicht (vgl. ÖJZ-LSK. 1976/240 = RZ. 1976/118 u. a.), und auch gerichtliche Beweisaufnahmen nur dann in Betracht, wenn sie - was gegebenenfalls aber nicht zutrifft - gegen Bestimmungen verstoßen, deren Verletzung die Strafprozeßordnung selbst ausdrücklich mit Nichtigkeit bedroht (vgl. Mayerhofer-Rieder III/2, Nr. 1 ff. zu § 281 Abs 1 Z. 2 StPO).

Ebenso begründet es - der Auffassung des Angeklagten zuwider - keine Urteilsnichtigkeit, wenn der Schwurgerichtshof, nachdem sich die Zeugin Leyla A in der Hauptverhandlung ihrer Aussage entschlagen hatte, die Verlesung ihrer Angaben vor der Gendarmerie anordnete und es ablehnte, die Genannte zu einer Aussage zu verhalten. Es wäre im Gegenteil unzulässig gewesen, auf die Zeugin dahin Einfluß zu nehmen, daß sie auf ihr Entschlagungsrecht verzichtet (vgl. Mayerhofer-Rieder III/1, Nr. 47 zu § 152 StPO). Hatte sie aber hievon in gesetzmäßiger Weise Gebrauch gemacht, so war die Niederschrift ihrer Angaben vor der Gendarmerie zu verlesen (vgl. ÖJZ-LSK. 1980/112 u.a.). Diese Vorgangsweise des Schwurgerichtshofes widersprach auch nicht Art. 6 Abs 3

lit d MRK. (der die Anwendbarkeit des § 252 StPO im übrigen nicht beeinflußt), wonach nur eine durchführbare Befragung von Belastungszeugen nicht verweigert werden darf (vgl. 11 Os 64/75); da vorliegend das Entschlagungsrecht nach § 152 StPO in Anspruch genommen wurde, konnte naturgemäß auch die Ausübung des Fragerechts nach § 249 StPO nicht ermöglicht werden (vgl. 10 Os 157/75).

Das Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen Univ.Prof. Dr. Konrad E wurde in der Hauptverhandlung nicht verlesen und befand sich nicht unter den Aktenstücken, die der Vorsitzende in das Beratungszimmer der Geschwornen bringen ließ (S. 461). Die darauf bezüglichen Beschwerdeausführungen gehen mithin ins Leere und bedürfen keiner weiteren Erwiderung.

Als einen Nichtigkeit nach der Z. 5 des § 345 Abs 1 StPO verwirklichenden Verfahrensmangel rügt der Angeklagte zunächst die Abweisung seines Antrages auf Vornahme eines Lokalaugenscheines unter Beiziehung des (Tat-) Zeugen Franz F, des Erhebungsbeamten des Landesgendarmeriekommandos für Vorarlberg und des verkehrstechnischen Sachverständigen Dipl.Ing. Manfred G zum Beweis dafür, 'ob es sich bei den festgestellten Spuren um Brems-, Drift- oder Beschleunigungsspuren handelte, zur Endlage der verletzten Leyla A und der aus diesen Anhaltspunkten ersichtlichen Absicht des Angeklagten'.

Die Rüge schlägt nicht durch.

Die Begründung des bezüglichen Zwischenerkenntnisses, 'im Hinblick auf die bisherigen Beweisergebnisse' bedürfe es der begehrten Beweisaufnahme nicht, entspricht zwar nicht der Vorschrift des § 238 Abs 2 StPO; doch ist unzweifelhaft erkennbar, daß dieser Formverstoß auf die Entscheidung keinen den Angeklagten nachteiligen Einfluß zu üben vermochte.

Während nämlich ein Ortsaugenschein bei den gegebenen Verhältnissen - zwischen der Tat und der Hauptverhandlung lagen die erfahrungsgemäß mit mehrfacher Schneeräumung verbundenen Wintermonate - von vornherein nichts erwarten ließ, was zur Klärung der Frage beitragen konnte, wie die am Tatort kurz nach dem Vorfall von der Gendarmerie objektivierten Reifenspuren beschaffen waren, ist weder dem Beweisantrag zu entnehmen noch aus den Akten erkennbar, inwiefern aus der Endlage der Verletzten Schlußfolgerungen auf das Vorhaben des Angeklagten - der ja die Kollision an sich nie in Abrede stellte -

gezogen werden könnten.

Was hingegen das Gutachten des Ing. H betrifft, konnte dieses in der Hauptverhandlung am 21.April 1982

nicht erörtert werden, weil es erst am 6.Mai 1982 (siehe S. 519), also nach Urteilsfällung, bei Gericht einlangte.

Verteidigungsrechte des Angeklagten wurden aber auch durch die Ablehnung seines weiteren Antrages, einen Sachverständigen über den sozio-kulturellen Hintergrund der Tat zum Beweis dafür zu vernehmen, daß es im türkisch-moslemischen Kulturkreis zum Ehrenkodex gehöre, daß eine Ehefrau, die sich mit einem anderen Mann eingelassen hatte, rigiden Sanktionen unterzogen werde, bzw. der Mann zumindest verbal erklären müsse, er werde seine Frau umbringen, nicht geschmälert. Denn abgesehen davon, daß in dem Beweisantrag nicht einmal behauptet wird, die 'rigiden Sanktionen' könnten im Einzelfall nicht auch die Tötung der Frau umfassen, vermögen soziologische Aussagen allgemeiner Art ihrer Natur nach grundsätzlich nichts Entscheidendes zur Beurteilung des tatsächlichen Verhaltens einer Einzelperson und des diesem zugrundeliegenden Willens beizutragen, zumal dem zurechnungsfähigen Menschen erfahrungsgemäß die Fähigkeit innewohnt, vom üblichen Verhaltensschema abzuweichen. Es war daher das vom Angeklagten erwartete Ergebnis dieser Beweisaufnahme - von einem seinem Kulturkreis angehörenden Menschen werde in einem Falle wie diesem erwartet, daß er einen Agressionsakt setze und verbale Drohungen äußere, ohne sie dann tatsächlich auszuführen, um die verletzte Ehre wiederherzustellen - von vornherein nicht geeignet, die den Geschwornen durch die Gesamtheit der bereits vorliegenden Verfahrensergebnisse vermittelte Sach- und Beweislage maßgebend zu verändern.

Die im ganzen unbegründete Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten

war daher zu verwerfen.

Zur Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft:

Mit Beziehung auf den Nichtigkeitsgrund der Z. 6

des § 345 Abs 1 StPO macht die Anklagebehörde geltend, die Eventualfrage II. sei zu Unrecht gestellt worden, weil in Wahrheit keine Tatsachen vorgebracht worden seien, durch die die allgemeine Begreiflichkeit einer heftigen Gemütsbewegung des Angeklagten zur Tatzeit indiziert und nach denen daher die in der Anklage bezeichnete Tat nur als versuchter Totschlag zu werten gewesen wäre. Der Argumentation der Staatsanwaltschaft kann jedoch nicht beigepflichtet werden.

Es trifft zu, daß die Frage, ob eine Gemütsbewegung allgemein begreiflich ist, nach einem objektiven Maßstab beantwortet werden und deren Ursache gegebenenfalls für einen Durchschnittsmenschen sittlich verständlich sein muß. Entgegen der Ansicht der Staatsanwaltschaft sind jedoch Tatumstände, die, wenn sie als erwiesen angenommen werden, einen tiefgreifenden Affekt, in welchem sich der Angeklagte A zu einer auf Tötung seiner Gattin gerichteten Handlung hat hinreißen lassen, allgemein begreiflich erschienen ließen und die den Schwurgerichtshof daher zur Stellung einer Eventualfrage gemäß § 314 StPO

wegen versuchten Totschlags verpflichteten (vgl. 11 Os 108/76, 12 Os 152/80), im Beweisverfahren tatsächlich zur Sprache gekommen. Nach dem Gutachten des gerichtspsychiatrischen Sachverständigen Dr. Herbert I hat der Angeklagte in einer - möglicherweise den Tatentschluß erst auslösenden - heftigen Gemütsbewegung gehandelt, deren Ursache darin gelegen war, daß er sich von seiner Gattin durch ehewidrige Beziehungen zu einem anderen Mann hintergangen fühlte (vgl. S. 409 f., 458 f.). Ein derartiger psychischer Ausnahmezustand kann aber im Verhältnis zu seinem Anlaß in dem Sinne allgemein verständlich sein, daß ein rechtstreuer Mensch sich vorstellen kann, er wäre unter den gegebenen besonderen Umständen ebenfalls in eine solche Gemütsverfassung geraten. Daß es auch in einer vergleichbaren Situation nicht generell, sondern nur in Ausnahmefällen zu einer gesteigerten Affektspannung und zu einer entsprechenden Tatreaktion unter Entladung dieses Affektes kommt, vermag nichts daran zu ändern, daß es für einen Durchschnittsmenschen - auch objektiv betrachtet -

verständlich erscheint, wenn bei einem Ehemann, der sich durch die Untreue seiner Gattin gekränkt und vor den Augen seines Gesellschaftskreises bloßgestellt fühlt, eine heftige Gemütsbewegung hervorgerufen wird. Da sohin durch Ergebnisse des Beweisverfahrens die Annahme von Tatsachen in den näheren Bereich der Möglichkeit gerückt worden war, nach denen - wenn sie als erwiesen angenommen wurden - die Ursache der besonderen Gemütsbeschaffenheit des Angeklagten A zur Tatzeit in den erwähnten äußeren Umständen und nicht bloß in verwerflichen Neigungen und Leidenschaften lag, und eine solche heftige Gemütsbewegung auch als im dargelegten Sinn allgemein verständlich zu beurteilen sein konnte, ist der Schwurgerichtshof bei der Prüfung der rechtlichen Erheblichkeit der vorgebrachten Tatsachen ohne Rechtsirrtum zum Ergebnis gelangt, daß den Geschwornen bezüglich des in Betracht kommenden Tatbestandes zur Hauptfrage eine Alternative in Form einer auf versuchten Totschlag lautenden Eventualfrage geboten werden müsse.

Die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft war daher gleichfalls zu verwerfen.

Das Geschwornengericht verhängte über den Angeklagten gemäß § 41, 76 StGB eine Freiheitsstrafe in der Dauer von vier Jahren. In deren Bemessung wertete es die sehr erhebliche Verletzung der Leyla A (die an sich schwere Verletzung war mit einer Berufsunfähigkeit und Gesundheitsschädigung von insgesamt 52 Tagen verbunden) als erschwerend, wogegen es als mildernd die bisherige Unbescholtenheit des Angeklagten, seine durch fremde Lebensformen geprägte Mentalität, sein zur Wahrheitsfindung beitragendes Geständnis vor der Gendarmerie und vor dem Untersuchungsrichter, das provozierende Verhalten des Opfers und den Umstand in Betracht zog, daß die Tat beim Versuch geblieben war. Hievon ausgehend vermeinte es, daß die Milderungsgründe die Erschwerungsgründe nicht nur der Zahl, sondern auch dem Gewichte nach beträchtlich überwiegen und begründete Aussicht bestehe, der Angeklagte werde auch bei Verhängung einer das gesetzliche Mindestmaß unterschreitenden Freiheitsstrafe keine weiteren strafbaren Handlungen begehen, weshalb von der außerordentlichen Strafmilderung des § 41 StGB Gebrauch gemacht werden könne.

Mit ihren Berufungen streben der Angeklagte eine Reduzierung, die Anklagebehörde hingegen eine Erhöhung des Strafausmaßes an. Lediglich das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft ist berechtigt. Die durch die türkische Lebensform geprägte Mentalität des Angeklagten und das von ihm als provozierend empfundene Verhalten des Opfers stellten - neben anderen Umständen - wesentliche Prämissen für die Annahme dar, der Angeklagte habe sich beim Tatgeschehen in einer heftigen Gemütsbewegung befunden (S. 409 ff.). Diese für die Verurteilung (bloß) wegen des privilegierten Deliktes des Totschlags maßgebliche Tatsachen dürften demnach bei der Strafzumessung nicht nochmals zum Zuge kommen.

Die solcherart reduzierten Milderungsgründe vermögen die als erschwerend ins Gewicht fallende gravierende Verletzung des Opfers aber keineswegs aufzuwiegen, weshalb in Stattgebung der staatsanwaltschaftlichen Berufung unter Ausschaltung der außerordentlichen Strafmilderung spruchgemäß zu erkennen war. Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der bezogenen Gesetzesstelle.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte