OGH 7Ob14/76

OGH7Ob14/764.3.1976

SZ 49/35

Normen

Allgemeine Bedingungen für die Unfallversicherung Art2 Z1
Allgemeine Bedingungen für die Unfallversicherung Art2 Z1

 

Spruch:

Tödlicher Schuß eines Justizwachebeamten auf einen Häftling, der seinen Fluchtversuch trotz wiederholter Warnung und Abgabe eines Warnschusses fortsetzt - kein "Unfall" im Sinne des Art. 2 Z. 1 AUVB 1965

OGH 4. März 1976, 7 Ob 14/76 (OLG Graz 3 R 130/75; LGZ Graz 19 Cg 681/75)

Text

Der Gatte der Klägerin, Alfred S, befand sich im März 1974 beim LGSt Graz in Untersuchungshaft. Bei seiner Vorführung zu einer ersten Tagsatzung beim BGZ Graz am 26. März 1974 unternahm er einen Fluchtversuch. Der ihn vorführende Justizwachebeamte Günther G verfolgte Alfred S und rief ihm wiederholt nach: "Stehen bleiben, ich schieße, S bleib stehen, ich muß schießenÜ" Als Günther G den Flüchtenden im Hochparterre des Gerichtsgebäudes eingeholt hatte, stand er ihm mit in Anschlag gebrachter Dienstpistole gegenüber und forderte Alfred S abermals auf, stehenzubleiben. Dieser setzte jedoch seine Flucht fort, worauf Günther G nach neuerlicher Androhung des Waffengebrauches einen Schuß abgab, der jedoch nicht traf. Als Alfred S trotzdem seine Flucht fortsetzte, gab Günther G einen Schuß gegen die Beine des Alfred S ab, der diesen tödlich verletzte. Alfred S war bei der Beklagten unfallversichert. Die Versicherungssumme für den Todesfall betrug 100 000 S. Mit Schreiben vom 30. Oktober 1974 lehnte die Beklagte die Auszahlung der Versicherungssumme mit der Begründung ab, daß der Risikoausschluß nach Art. 3 III Z. 2 AUVB 1965 gegeben sei, weil sich der Unfall bei der vorsätzlichen Ausführung oder des Versuches von "Vergehen" ereignet habe.

Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin von der Beklagten die Zahlung der vereinbarten Versicherungssumme von 100 000 S samt Anhang. Der von Alfred S unternommene Fluchtversuch stelle keinen gerichtlich strafbaren Tatbestand dar.

Die Beklagte beantragte Klagsabweisung und bestritt das Vorliegen eines versicherungspflichtigen Unfalles im Sinne des Art. 2 Z. 1 AUVB. Außerdem habe Alfred S dem ihn vorführenden Wachebeamten im Zuge seiner Flucht mehrere Schläge versetzt und dadurch das Verbrechen der öffentlichen Gewalttätigkeit nach § 81 StG begangen. Es liege daher auch der Risikoausschluß nach Art. 3 III Z. 1 lit. b und 2 AUVB 1965 vor.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es war der Ansicht, daß der Tod des Alfred S nicht die Folge eines versicherungspflichtigen Unfalls gewesen sei, und bejahte außerdem die von der Beklagten in Anspruch genommene Leistungsfreiheit nach Art. 3 III Z. 1 lit. b und 2 AUVB.

Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil.

Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der Klägerin nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Aus den Entscheidungsgründen:

In ihrer Rechtsrüge wendet sich die Revisionswerberin gegen die das Vorliegen eines versicherungspflichtigen Unfalles verneinenden Rechtsausführungen des Berufungsgerichtes. Ihr getöteter Gatte Alfred S habe im Hinblick auf die Regelung des Schußwaffengebrauches der österreichischen Sicherheitsorgane nicht damit rechnen müssen, daß der Justizwachebeamte Günther G seine Pistole gegen ihn richten werde. Ihr Gatte sei schließlich auch durch einen abgeirrten, bzw. nur gegen seine Beine gerichteten Schuß des Günther G getötet worden.

Diese Ausführungen vermögen nicht zu überzeugen: Nach Art. 2 Z. 1 AUVB 1965 gilt als Unfall jedes vom Willen des Versicherten unabhängige Ereignis, das, plötzlich von außen mechanisch oder chemisch auf seinen Körper einwirkend, eine körperliche Beschädigung oder den Tod des Versicherten nach sich zieht. Zum Begriff der Plötzlichkeit des Unfalles gehört aber, wie die Untergerichte zutreffend hervorheben, auch das Moment des Unerwarteten und des Unentrinnbaren (Prölß - Martin, VersVG[20], 1057; Wussow, AUB[4], 58; RGZ 97/189; u. a. m.). Für den Versicherten muß daher die Lage so gewesen sein, daß er sich bei normalem Geschehensablauf den Folgen des Ereignisses im Augenblick ihres Einwirkens auf seine Person nicht mehr entziehen konnte. Unter diesem Gesichtspunkt ist daher nicht von Bedeutung, ob der Justizwachebeamte Günther G zum Waffengebrauch berechtigt war, sondern ob Alfred S im konkreten Fall damit rechnen mußte, daß Günther G durch Anwendung von Waffengewalt versuchen werde, seine Flucht zu vereiteln; das muß aber auf Grund des von den Untergerichten festgestellten Sachverhaltes bejaht werden. Günther G brachte nämlich, als er Alfred S im Hochparterre des Gerichtsgebäudes eingeholt hatte, gegen diesen seine Dienstpistole bereits in Anschlag und gab, als Alfred S seine Flucht fortsetzte, einen Schuß ab, der jedoch nicht traf. Spätestens ab diesem Zeitpunkt (Abgabe des ersten Schusses) mußte Alfred S damit rechnen, daß Günther G weiterhin von seiner Schußwaffe Gebrauch machen werde, wenn er seine Flucht fortsetzen wollte. Das spätere Ereignis (tödlicher Schuß) war daher für Alfred S weder unerwartet noch unentrinnbar, weil er dessen Eintritt durch die Aufgabe seines Fluchtversuches hätte verhindern können. Wenn daher die Untergerichte das Vorliegen eines versicherungspflichtigen Unfalles verneinten, so kann hierin ein Rechtsirrtum nicht erblickt werden. Ob der Klägerin die Aktivlegitimation fehlt und die von der Beklagten noch geltend gemachten Risikoausschlüsse nach Art. 3 III Z. 1 lit. b und Z. 2 AUVB 1965 tatsächlich vorliegen, braucht daher nicht mehr untersucht zu werden.

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