Normen
ABGB §1425
Eisenbahnund Kraftfahrzeughaftpflichtgesetz §15 Abs3
EO §307
VersVG §156 Abs3
ABGB §1425
Eisenbahnund Kraftfahrzeughaftpflichtgesetz §15 Abs3
EO §307
VersVG §156 Abs3
Spruch:
Der Versicherer hat - außer dem Abandon - keine Möglichkeit, bei Vorhandensein mehrerer Dritter, deren Forderungen die Versicherungssumme übersteigen, die Last des Verteilungsverfahrens auf andere zu überwälzen; nur wenn alle Dritten gepfändet haben, kann er sich der exekutionsmäßigen Hinterlegung (§ 307 EO) bedienen. Die Hinterlegung nach § 1425 ABGB ist ihm vorenthalten
OGH 20. November 1975, 2 Ob 142/75 (OLG Graz 3 R 8/75; LGZ Graz 15 Cg 20/74)
Text
Am 29. Juli 1967 verschuldete Rudolf N als Lenker eines Sattelschleppers einen schweren Verkehrsunfall, bei dem mehrere Personen getötet und weitere Personen verletzt wurden und Sachschaden entstand. Die klagende Partei hat dem beim Unfall verletzten Herbert L Versicherungsleistungen erbracht und als Legalzessionar des Genannten gegen Rudolf N ein Versäumungsurteil über 37.460.40 S samt Anhang erwirkt.
Zur Hereinbringung dieser Forderung wurde der klagenden Partei Fahrnisexekution sowie Drittschuldnerexekution durch Pfändung und Überweisung des dem Verpflichteten Rudolf N gegen die beklagte Partei als Haftpflichtversicherer zustehenden Deckungsanspruches, allenfalls des fingierten Deckungsanspruches gemäß § 158c VersVG bewilligt.
Die als Drittschuldner in Anspruch genommene beklagte Partei äußerte sich dahin, daß der klagenden Partei kein Anspruch zustehe, da die Deckungsklage des Halters des Unfallsfahrzeuges abgewiesen worden sei und die beklagte Partei die Mindestversicherungssumme wegen der diese übersteigenden Ansprüche der Geschädigten zugunsten der Gesamtheit der geschädigten Dritten bei Gericht erlegen werde. Am 31. Dezember 1970 erlegte die beklagte Partei beim Bezirksgericht für ZRS Graz die Versicherungssumme von 600.000 S zugunsten des Halters und des Lenkers des Unfallsfahrzeuges sowie einer Reihe von Geschädigten bzw. deren Rechtsnachfolgern und Legalzessionaren, da die Gesamtsumme der erhobenen Ansprüche rund 2.8 Millionen Schilling betrage.
Mit der vorliegenden Klage begehrt die Klägerin auf Grund der Pfändung und Überweisung des dem Rudolf N gegen die beklagte Partei zustehenden fingierten Deckungsanspruches die Bezahlung eines Betrages von 41.450.60 S samt 4% Zinsen seit 18. Jänner 1971.
Die beklagte Partei beantragte im Hinblick auf die erfolgte gerichtliche Hinterlegung der Versicherungssumme die Klagsabweisung. Der zur Hinterlegung nach § 1425 ABGB berechtigende wichtige Grund liege darin, daß mehrere geschädigte Dritte vorhanden seien, deren Forderungen die Mindestversicherungssumme weit überstiegen, der beklagten Partei jedoch die genaue Höhe dieser Forderungen nicht bekannt und sie daher nicht imstande sei, das Verhältnis der Beträge gemäß § 156 Abs. 3 VersVG festzustellen.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Über den eingangs angeführten Sachverhalt hinaus stellte es ergänzend fest:
Der Deckungsprozeß des Versicherungsnehmers (Halters des Unfallsfahrzeuges) W gegen die beklagte Partei wurde zugunsten der beklagten Partei rechtskräftig entschieden. Insgesamt wurden von fünf Einzelpersonen Ersatzforderungen aus dem Unfallsereignis angemeldet, und zwar von Herbert L, Eugen B, Siegfried S, Franz K und Josefine B (bzw. von ihren Erben und von Legalzessionaren). Auf jede der genannten Personen entfiele daher zunächst ein Betrag von 120.000 S (§ 16 Abs. 3 EKHG); da von den Erben nach Josefine B aber nur 26.193.40 S geltend gemacht worden seien, wachse der verbleibende Anteil den übrigen vier Personen bzw. Personengruppen zu, die dadurch rund 140.000 S zu erhalten hätten.
Herbert L hat gegen den Lenker N und den Halter W rechtskräftig zugesprochene Forderungen von 87.500 S an Schmerzensgeld, von 1316 S an Sachschaden, von 12.749.50 S an Verdienstentgang und einer monatlichen Rente von 382 S ab 1. September 1969; außerdem wurde die Haftung der Genannten für künftige Schäden zu 2/3 (richtig: 3/4) festgestellt.
Die Tiroler Gebietskrankenkasse hat als Legalzessionar des Herbert L einen rechtskräftigen Leistungsanspruch von 18.975.75 S samt Anhang und einen Feststellungsanspruch für 2/3 der künftigen Leistungen.
Von den übrigen Geschädigten und Anspruchswerbern auf die Versicherungssumme wurden Forderungen angemeldet, die die auf sie entfallende Quote weit übersteigen.
In rechtlicher Hinsicht war das Erstgericht der Auffassung, daß im Hinblick auf die die Deckungssumme übersteigenden Ersatzansprüche die einzelnen Geschädigten nur verhältnismäßig zu befriedigen seien. Da aber die Forderungen der einzelnen Anspruchsberechtigten nicht feststehen, könne dem Versicherer eine verläßliche Verteilung nicht zugemutet werden; er sei daher berechtigt, die Versicherungssumme bei Gericht zu erlegen. Den Grundsatz der verhältnismäßigen Befriedigung könne ein Geschädigter bzw. dessen Legalzessionar aber nicht dadurch umgehen, daß er den anderen Mitgläubigern durch Erwirkung eines exekutiven Pfandrechtes an der Versicherungssumme zuvorkomme.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der klagenden Partei gegen das erstgerichtliche Urteil Folge, hob das Ersturteil unter Rechtskraftvorbehalt auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Urteilsfällung an das Erstgericht zurück.
Der Oberste Gerichtshof gab dem Rekurs der Beklagten nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
Das Berufungsgericht bezieht sich auf die zu 8 Ob 186/72 = ZVR 1973/201 ergangene oberstgerichtliche Entscheidung. Dort wird gesagt, daß es als wichtiger Erlagsgrund für den Haftpflichtigen im Sinne des § 1425 ABGB anzusehen sei, wenn auf Grund desselben schädigenden Ereignisses die mehreren Geschädigten zustehenden Ersatzansprüche die Haftungshöchstsumme übersteigen, sich die forderungsberechtigten Geschädigten über die Höhe des jedem von ihnen zustehenden Ersatzbetrages nicht einigen können und dem Haftpflichtigen eine Klärung der Ansprüche nicht zugemutet werden kann. In dem der zitierten Entscheidung zugrunde liegenden Fall war somit zu prüfen, ob der beklagte Haftpflichtige (dort der Halter) zur Hinterlegung berechtigt war, während im vorliegenden Falle der Versicherer beklagt ist. Dessen Vorgehen ist aber, was für den Halter nicht zutrifft, im Lichte der Bestimmungen des § 156 VersVG zu beurteilen. Aus der besagten Entscheidung läßt sich daher für den gegebenen Fall nichts gewinnen. Gemäß § 156 Abs. 3 VersVG hat der Versicherer die Forderungen der mehreren Dritten nach Maßgabe des Abs. 2 nach dem Verhältnis ihrer Beträge zu berichtigen. Daß dieses Verfahren für den Versicherer unter Umständen mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist, soll nicht verkannt werden, doch ändert dies nichts am gesetzlichen Auftrag. Der Versicherer hat - außer dem Abandon, siehe dazu unten - keine Möglichkeit, die Last des Verteilungsverfahrens auf andere zu überwälzen (Prölß - Martin[20], Anm. 8 zu § 156; Bruck - Möller - Johannsen[8], 4. Band, 125, B94). Nur wenn alle Dritten gepfändet haben, kann er sich der exekutionsmäßigen Hinterlegung (§ 307 EO - § 853 der ZPO) bedienen. Die Hinterlegung nach § 1425 ABGB (§ 372 BGB)ist ihm vorenthalten (Prölß - Martin, Anm. 8); sie soll dem Versicherer im Interesse der Beschleunigung der Befriedigung verwehrt werden (Ehrenzweig, Vertragsversicherungsrecht, 378 Abs. 3).
Das Verteilungsverfahren setzt nach herrschender Lehre nicht voraus, daß bereits alle Forderungen durch Urteil, Vergleich oder Anerkenntnis (§ 156 Abs. 2 VersVG) festgestellt sind. Solche noch nicht festgestellten Forderungen hat der Versicherer nach § 156 Abs. 3, 2. Satz, im Verteilungsverfahren durch Bildung einer Rücklage zu berücksichtigen, wenn er mit ihrer Geltendmachung bei entsprechender Sorgfalt rechnen muß (Prölß - Martin, Anm. 6; Bruck - Möller - Johannsen, B 96).
Da der Abandon nur im Innenverhältnis wirkt, dem gerichtlichen Erlag der Deckungssumme seitens des Haftpflichtigen oder des Versicherers im Verhältnis Schädiger-Geschädigter also keine schuldbefreiende Wirkung zukommt (ZVR 1958/ 125; ZVR 1970/157), ist Abandon durch Hinterlegung mit Wirkung gegen den Geschädigten nur dann zulässig, wenn sie zugunsten des Versicherungsnehmers und aller aus dem Unfall anspruchsberechtigten Geschädigten und mit Zustimmung aller Beteiligten erfolgt (Prölß - Martin[20], Anm. 5 zu § 3 AHB = § 10 Abs. 4 AKB = Art. 3 Abs. 3 AKHB 1967). Daß die Zustimmung aller Beteiligten hier vorläge, wurde nicht behauptet.
Hat der Versicherer unzulässigerweise nicht selbst die Verteilung vorgenommen, wird das Gericht die Höhe der der klagenden Partei zustehenden Forderung, die dem sich aus § 156 Abs. 3 VersVG ergebenden Verhältnis entspricht, festzustellen haben. Dabei ist auf den Schluß der mündlichen Streitverhandlung abzustellen (vgl. Prölß - Martin, Anm. 7).
Im Sinne des Vorgesagten fehlen somit Feststellungen, die eine abschließende rechtliche Beurteilung des Klagsanspruches ermöglichen, und zwar über die genaue Höhe der Ansprüche der Geschädigten und über die Höhe der im vorliegenden Fall heranzuziehenden amtlich festgesetzten Mindestversicherungssumme (§ 158c Abs. 3 VersVG; vgl. Prölß - Martin[20], Anm. 8 zu § 158c VVG). Ein Haftungshöchstbetrag nach § 15 EKHG kommt nicht in Betracht, weil die Haftung des "leistungsfreien" Versicherers durch § 158c VersVG erschöpfend geregelt ist. Die Verteilung hat auch hinsichtlich der Ansprüche von Sozialversicherungsträgern verhältnismäßig zu erfolgen. Solche Ansprüche sind - entgegen der in 2 Ob 363/65 = EvBl. 1966/310 = JBl. 1966, 423 = RZ 1966, 102 = ZVR 1966/341, vertretenen Ansicht - nicht mehr vorrangig zu behandeln (2 Ob 156, 157/75).
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