OGH 7Ob95/75

OGH7Ob95/7518.9.1975

SZ 48/93

Normen

ZPO §36
ZPO §64
ZPO §36
ZPO §64

 

Spruch:

Beantragt eine durch einen Rechtsanwalt vertretene Partei die Bewilligung der Verfahrenshilfe und die Beigebung eines Rechtsanwaltes, so ist sie vom Prozeßgericht zu einer Anzeige im Sinne des § 36 Abs. 1 ZPO anzuleiten; sonst gilt dieser Antrag auch als Anzeige des Erlöschens des Vollmachtsverhältnisses zu ihrem bisherigen Rechtsvertreter; auch in diesem Fall ist der Beginn der Berufungsfrist nach § 464 Abs. 3 ZPO zu beurteilen

OGH 18. September 1975, 7 Ob 95/75 (LGZ Wien 41 R 757/74; BG Innere Stadt Wien 42 C 303/75)

Text

Mit Aufkündigung vom 19. Juni 1973, 42 K 203/73-1, kundigte die Klägerin der Beklagten die im Hause Wien 7, K-Straße Nr. 41 gemietete Wohnung Nr. 3 zum 31. Juli 1973 gerichtlich auf. Gegen die vom Erstgericht erlassene Aufkündigung vom 25. Juni 1973 (ON 1) erhob die Beklagte rechtzeitig Einwendungen und beantragte deren Aufhebung. Das Erstgericht erkannte die Aufkündigung für rechtswirksam und verurteilte die Beklagte, die vorgenannte Wohnung binnen 14 Tagen zu räumen und der Klägerin geräumt zu übergeben. Dieses Urteil wurde dem Verlassenschaftskurator Ronald R zu Handen seines frei gewählten Rechtsvertreters Dr. M St. am 19. Juni 1974 zugestellt. Am 26. Juni 1974 beantragte der Verlassenschaftskurator beim Erstgericht mit ZPO-Form 1 die Bewilligung der Verfahrenshilfe im vollen Umfange, insbesondere die Bestellung eines Rechtsanwaltes für das Berufungsverfahren. Das Erstgericht entschied im Sinne dieses Antrages. Mit Bescheid der Rechtsanwaltskammer für Wien, Niederösterreich und das Burgenland wurde der Rechtsanwalt Dr. H K zum Vertreter der beklagten Partei bestellt. Dieser Bescheid wurde Dr. H K nach den vom Berufungsgericht auftragsgemäß durchgeführten Erhebungen am 9. Oktober 1974 zugestellt. Die Zustellung einer Ausfertigung des Ersturteiles erfolgte hingegen erst am 11. Juli 1975 (ON 29). Dr. H K erhob am 17. Oktober 1974 (Postaufgabe) Berufung gegen das Ersturteil, die das Berufungsgericht als verspätet zurückwies. Es vertrat die Ansicht, daß die Bestimmungen des § 464 Abs. 3 ZPO dann unanwendbar seien, wenn die Verfahrenshilfe genießende Partei durch einen frei gewählten Rechtsanwalt vertreten sei. Da eine Vollmachtsaufkündigung hinsichtlich des frei gewählten Rechtsvertreters nach der Aktenlage nicht erfolgt sei, komme der Zustellung des Ersturteiles an den zur Verfahrenshilfe bestellten Rechtsanwalt für den Beginn des Laufes der Rechtsmittelfrist keine Bedeutung zu. Diese sei vielmehr von der Zustellung des Ersturteils an den gewählten Rechtsvertreter der beklagten Partei (19. Juni 1974) zu berechnen. Die erst am 17. Oktober 1974 erhobene Berufung sei daher verspätet.

Der Oberste Gerichtshof gab dem Rekurs der Beklagten Folge, hob den Beschluß des Berufungsgerichtes auf und trug diesem die Fortsetzung des Berufungsverfahrens auf.

Rechtliche Beurteilung

Aus der Begründung:

Für eine die Verfahrenshilfe genießende oder beantragende Partei, die innerhalb der Frist des § 464 Abs. 1 ZPO die Bestellung eines Rechtsanwaltes beantragt hat, beginnt die Berufungsfrist erst mit der Zustellung des Bescheides über die Bestellung des Rechtsanwaltes und einer schriftlichen Urteilsausfertigung zu laufen (§ 464 Abs. 3 ZPO). Durch diese Schutzbestimmung soll die Partei vor den Nachteilen bewahrt werden, die sich für sie im Nichtanwaltsprozeß dadurch ergeben können, daß im Berufungsverfahren die Vertretung durch Rechtsanwälte geboten ist (Fasching, Ergänzungsband, 54). Diese Nachteile drohen aber der Partei nicht nur, wenn sie bisher noch nicht durch einen Rechtsanwalt vertreten war, sondern - selbst im Anwaltsprozeß - auch dann, wenn das Vertretungsverhältnis mit ihrem bisherigen Rechtsvertreter durch Kündigung oder Widerruf vor erfolgter Urteilszustellung erloschen ist (Fasching, 55). Das gleiche muß auch dann gelten, wenn der frei gewählte Rechtsanwalt die Vollmacht erst während des Laufes der Rechtsmittelfrist gekundigt hat. Denn nach dem Schutzzweck der vorgenannten Norm kommt es nicht darauf an, ob der bisherige Rechtsvertreter der Partei nach § 36 Abs. 2 ZPO verpflichtet ist, für sie weiter einzuschreiten, um sie vor Rechtsnachteilen zu bewahren, sondern darauf, daß die Partei im Hinblick auf ihre Vermögenslage außerstande ist, die mit einer weiteren rechtsfreundlichen Vertretung verbundenen finanziellen Lasten ohne Beeinträchtigung ihres notwendigen Unterhaltes zu tragen (vgl. auch Fasching, Ergänzungsband, 55). Gewiß erlangt die Auflösung des Vollmachtsverhältnisses dem Prozeßgegner und dem Gerichte gegenüber erst dann rechtliche Wirksamkeit, wenn das Erlöschen der Vollmacht durch einen beim Prozeßgericht einzubringenden Schriftsatz angezeigt wurde (§ 36 Abs. 1 ZPO). Der Oberste Gerichtshof teilt aber nicht die Rechtsansicht des Berufungsgerichtes, daß das Vollmachtsverhältnis der Rekurswerberin zu ihrem frei gewählten Rechtsanwalt nach der Aktenlage als nicht erloschen zu betrachten sei. Beantragt nämlich eine durch einen Rechtsanwalt vertretene Partei die Bewilligung des Armenrechtes und die Beigebung eines Rechtsanwaltes, so hat sie das Prozeßgericht über die allfällige Auflösung des Vollmachtsverhältnisses zu ihrem bisherigen Rechtsvertreter zu befragen und zu einer Anzeige im Sinne des § 36 Abs. 1 ZPO anzuleiten. Unterläßt dies - wie hier - das Prozeßgericht und entscheidet es sofort im Sinne des von der Partei gestellten Antrages, so ist davon auszugehen, daß der vorgenannte Antrag der Partei auch die Anzeige des Erlöschens des Vollmachtsverhältnisses zu ihrem bisherigen Rechtsvertreter in sich schließt (vgl. Fasching Ii, 289; 4 Ob 649/71). Denn es geht nicht an, einen dem Gericht unterlaufenen Fehler der Partei anzulasten. Es begann daher auch im vorliegenden Fall für die Rekurswerberin die Berufungsfrist nicht bereits mit der Zustellung des Ersturteiles an ihren frei gewählten Rechtsanwalt zu laufen. Die von Dr. H K am 17. Oktober 1974 zur Post gegebene Berufung ist daher im Hinblick auf die an ihn erst am 9. Oktober 1974 erfolgte Zustellung seines Bestellungsbescheides als rechtzeitig zu betrachten. Die Zurückweisung der Berufung der Rekurswerberin durch das Berufungsgericht erfolgte somit zu Unrecht. Die Entscheidung RZ, 1958/14 betraf einen anders gelagerten Fall, in welchem eine Partei ungeachtet der Bestellung eines Armenvertreters durch einen von ihr frei gewählten Rechtsanwalt eine Berufung einbringen ließ.

Dem Rekurs war daher Folge zu geben, der angefochtene Beschluß aufzuheben und dem Berufungsgericht die Fortsetzung des Berufungsverfahrens aufzutragen.

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