Spruch:
Auch die Parteien sind gemäß § 357 ZPO berechtigt, mündliche Aufklärungen über das schriftliche Sachverständigengutachten zu verlangen
OGH I5. 4. 1971, 1 Ob 85/71 (OLG Linz 3 R 88/70; LG Linz 1 Cg 150/68)
Text
Die Klägerin erlitt am 4. 4. 1968 bei einem Sturz im Hof einen Schenkelhalsbruch am linken Bein ohne Verschiebung der Bruchstücke.
Sie begehrt aus dem Titel des Schadenersatzes von den Beklagten zur ungeteilten Hand den Ersatz der von ihr getragenen Behandlungskosten im Betrag von S 50.197.40, ferner die Bezahlung eines Schmerzengeldes von S 70.0O0.-, zusammen also von S 120.197.40, sowie die Feststellung der Schadenersatzpflicht der Beklagten. Das Verschulden erblickte die Klägerin bei der erstbeklagten Stadtgemeinde darin, daß sie auf der Unfallstation des Allgemeinen Krankenhauses der Stadt L nur von einem in Ausbildung gestandenen Arzt untersucht worden und daß es auf Grund der von diesem gestellten Fehldiagnose nicht zur Einleitung der zweckmäßigen Behandlung gekommen sei; bei dem Zweitbeklagten als Krankenhausbesitzer und dem viertbeklagten Primararzt in einer unsachgemäßen und verzögerten Behandlung des Schenkelhalsbruches, Nichtbeiziehung eines Unfallchirurgen bzw Nichteinweisung in ein Unfallspital und beim drittbeklagten Primararzt in der Unterlassung der ordnungsgemäßen Behandlung.
Das Erstgericht verurteilte nur die Erstbeklagte zur Zahlung eines Schmerzengeldbetrages in der Höhe von S 5000.- und wies das gesamte Mehrbegehren ab.
Das Berufungsgericht ergänzte das Beweisverfahren (§ 496 Abs 3 ZPO), indem es gemäß § 488 Abs 3 ZPO den Sachverständigenbeweis neu, uzw durch je einen Sachverständigen aus den Fächern der Unfallchirurgie und der inneren Medizin, durchführte.
Nach Verwertung der eingeholten schriftlichen Sachverständigengutachten der Fachärzte Dr Bruno Z (Unfallchirurgie) und Dr Otto P (innere Medizin) gelangte das Berufungsgericht zu einer Bestätigung des Urteiles des Erstgerichtes.
Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der Klägerin Folge, hob das berufungsgerichtliche Urteil auf und verwies die Streitsache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurück.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
Als Verfahrensmangel rügt die Klägerin, daß ihr - ungeachtet eines entsprechenden Antrages - die Möglichkeit genommen worden sei, von den im Berufungsverfahren mit der Abgabe eines schriftlichen Gutachtens betrauten Sachverständigen die ihr notwendig erscheinenden Aufklärungen und Erläuterungen zu erhalten.
Die von der Rechtsmittelwerberin angesprochene Bestimmung des § 357 ZPO besagt, daß im Falle der Anordnung der schriftlichen Begutachtung den Sachverständigen die Verpflichtung obliegt, auf Verlangen über das schriftliche Gutachten mündliche Aufklärungen zu geben oder das schriftlich erstattete Gutachten bei der mündlichen Verhandlung zu erläutern. Das Berufungsgericht hat den in diese Richtung zielenden Antrag der Klägerin mit dem Hinweis auf die Lehrmeinung Faschings abgelehnt, der darauf verweist, daß das Gesetz keine Aussage darüber enthalte, auf wessen Verlangen die mündliche Ergänzung einer schriftlichen Begutachtung erfolgen könne, wer also Anspruch auf mündliche Ergänzung bzw Erläuterung des schriftlichen Gutachtens erheben könne. Aus Satz 1 des § 357 ZPO ergebe sich aber - so Fasching (III 491 Anm 3) - daß die Entscheidung, ob schriftlich oder mündlich zu begutachten sei, in das pflichtgemäße, nach den 366 Abs 1, 515 ZPO überprüfbare Ermessen des Gerichtes falle. Habe dieses aber die Grundsatzfrage allein zu lösen und sei dadurch den Parteien auch jeder Anspruch auf Gutachtenerstattung in bestimmter Form entzogen, dann obliege ihm allein auch die Beurteilung, ob das schriftliche Gutachten allen Anforderungen genüge oder nicht. Den Parteien stehe demzufolge kein Rechtsanspruch auf Ergänzung eines schriftlichen Gutachtens durch mündliche Vernehmung des Sachverständigen zu. Die mündlichen Erläuterungen und Aufklärungen seien von den Ergänzungen iS des § 362 Abs 2 ZPO wohl zu trennen. Im Falle des § 357 ZPO entscheide nur das Gericht, ob es das Gutachten als hinreichend klar und verständlich findet, während der § 362 Abs 2 ZPO den Parteien ausdrücklich ein Antragsrecht auf Ergänzung und Verbesserung unvollständiger, mangelhafter und unzureichender Gutachten einräumt.
Der Oberste Gerichtshof vermag der Schlußfolgerung Faschings, daß aus den geschilderten Erwägungen in der Ablehnung eines Antrages der Parteien auf mündliche Erläuterung eines schriftlich erstellten Gutachtens (§ 357 ZPO) kein Verfahrensmangel gelegen sein könne, nicht zu folgen.
Auszugehen ist von der Vorschrift des § 357, Satz 2, ZPO, wonach im Falle der Anordnung einer schriftlichen Begutachtung die Sachverständigen verpflichtet sind, auf Verlangen über das schriftliche Gutachten mündliche Aufklärungen zu geben oder dasselbe bei der mündlichen Verhandlung zu erläutern. Gewiß läßt sich aus dieser Formulierung nicht entnehmen, auf wessen Verlangen der Sachverständige in der mündlichen Verhandlung das schriftlich erstellte Gutachten zu erläutern, also Aufschlüsse über dessen Inhalt zu geben hat. Der zitierte Gesetzestext darf jedoch nicht isoliert betrachtet, er muß vielmehr im Zusammenhang mit der in den "Allgemeinen Bestimmungen über den Beweis und die Beweisaufnahme" enthaltenen Vorschrift des § 289 Abs 1 ZPO gesehen und verstanden werden, die den Parteien neben dem Recht auf Anwesenheit bei der Beweisaufnahme auch ein Fragerecht sichert. Die Parteien können darnach grundsätzlich an die Zeugen und Sachverständigen alle Frage stellen, die zur Aufklärung oder zur Vervollständigung des Sachverhaltes dienen, soweit der Vorsitzende die Fragen nicht "unangemessen" findet. Unangemessen kann eine Fragestellung - abgesehen von ihrer Form - im Hinblick auf ihren Inhalt sein, insbesondere dann, wenn sie nicht geeignet erscheint, dem im § 289 Abs 1 ZPO angegebenen Zwecke zu dienen (vgl Neumann, Komm zu den Zivilprozeßgesetzen[9], II 1017).
Wird erwogen, daß den Parteien grundsätzlich ein Fragerecht zusteht, dann kann die Bestimmung des § 357, Satz 2, ZPO zwanglos nur dahin ausgelegt werden, daß den Parteien damit die Möglichkeit gewahrt bleiben sollte, auch bei angeordneter schriftlicher Begutachtung an den Sachverständigen die ihnen notwendig erscheinenden Fragen zu stellen und solcherart auf eine Klarstellung und Vervollständigung des schriftlichen Gutachtens hinzuwirken.
Auch Pollak (System des österreichischen Zivilprozeßrechtes[2], II, 673 f) ist abweichend von Fasching der Auffassung, daß der Sachverständige zur mündlichen Verhandlung auch im Falle des schriftlich erstatteten Gutachtens erscheinen muß, um sich dem Fragerechte des Gerichtes und der Parteien zur Verfügung zu halten und sich gegebenenfalls einem "Verhör" durch das Gericht und durch die Parteien zu unterwerfen hat. Neumann (aaO 1081) wiederum weist darauf hin, daß das Gericht die Parteien von dem Einlangen des schriftlich erstellten Gutachtens gemäß § 286 ZPO zu verständigen und - erforderlichenfalls - entweder von Amts wegen oder über Antrag der Parteien die Ergänzung desselben zu veranlassen hat. Außerdem oder statt einer Ergänzung oder, insofern es der Zweck erfordert, können nach der Lehrmeinung Neumanns unter allen Umständen die Sachverständigen zur Verhandlung geladen werden, um über das schriftliche Gutachten mündliche Aufklärungen zu geben oder das Gutachten zu erläutern, und solcherart auch die Voraussetzung dafür zu schaffen, daß die Parteien das ihnen nach den 341, 342 bzw 289 ZPO zustehende Fragerecht ausüben können.
Im vorliegenden Fall hat die Klägerin in der mündlichen Berufungsverhandlung zwar nicht ausdrücklich auf dem ihr zustehenden Fragerecht bestanden. Das Verlangen, zum Zwecke der Erörterung des schriftlichen Gutachtens die beiden vom Berufungsgericht bestellten Sachverständigen in der mündlichen Berufungsverhandlung zu vernehmen, kann aber sinnvoll nur dahin verstanden werden, daß es der Klägerin dabei um die Ausübung dieses Rechtes ging. Daß etwa unangemessene Fragen zu erwarten gewesen wären, wird der Klägerin vom Berufungsgericht nicht unterstellt und kann auch nicht aus den Revisionsdarlegungen im Rahmen der Mängelrüge abgeleitet werden, so daß iS obiger Ausführungen die Klägerin in dem ihr von der Prozeßordnung eingeräumten Fragerecht verkürzt erscheint.
In der aufgezeigten Richtung erweist sich daher das Verfahren des Berufungsgerichtes als mangelhaft, so daß das angefochtene Urteil, ohne daß auf die übrigen geltend gemachten Anfechtungsgrunde einzugehen wäre, aufgehoben und die Streitsache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden mußte.
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