OGH 6Ob307/68

OGH6Ob307/688.1.1969

SZ 42/2

Normen

ABGB §879 (1)
ABGB §879 (2) Z4
ABGB §879 (1)
ABGB §879 (2) Z4

 

Spruch:

§ 879 (1) ABGB. kann bei Ausbeutungen herangezogen werden, wenn zwar nicht alle Tatbestandsmerkmale des § 879 (2) Z. 4 ABGB. vorliegen, aber ein zusätzliches Element der Sittenwidrigkeit gegeben ist.

Entscheidung vom 8. Jänner 1969, 6 Ob 307/68.

I. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien; II. Instanz:

Oberlandesgericht Wien.

Text

Der Kläger wurde vom Beklagten seit dem Jahre 1954 rechtsfreundlich vertreten. Der Beklagte gewährte dem Kläger auch Darlehen gegen eine Verzinsung von 20% jährlich. Auch fällige Honorarforderungen schlug der Beklagte der jeweiligen Darlehensrestschuld zu und berechnete die Zinsen von 20% von dem gesamten Betrag. Am 19. März 1962 bezifferte der Beklagte gegenüber dem Kläger seine Forderung für Ende 1961 mit 360.000 S und erklärte, es stunden ihm noch Zinsen seit 1. Jänner 1962 und ein Honorar von weiteren 100.000 S für Verhandlungen mit der Firma S. auf einer Grundlage von 6.5 Millionen Schilling zu. Schließlich kam es zu einer Vereinbarung, auf Grund welcher sich der Kläger verpflichtete, dem Beklagten das Haus Wien D.straße 128 a zum Wert von 140.000 S an Zahlungsstatt zu übergeben und einen Betrag von 120.000 S zu bezahlen, womit die Forderungen des Beklagten gegen den Kläger abgegolten sein sollten. Der Verkehrswert der Liegenschaft betrug im Jahre 1962 277.000 S.

Der Kläger ficht den Vergleich vom 19. März 1962 gemäß § 879 (2) Z. 4, hilfsweise gemäß § 879 (1) ABGB. als nichtig an und führt aus, er habe sich bei Abschluß des Vergleiches in einer familiär bedingten Zwangslage befunden, die der Beklagte ausgebeutet habe. Der Kläger begehrt Rückübertragung der Liegenschaft und Rechnungslegung über deren Erträgnisse.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es gelangte zu dem Ergebnis, daß weder ein auffallendes Mißverhältnis von Leistung und Gegenleistung vorliege, noch eine Zwangslage des Klägers und ihre Ausbeutung durch den Beklagten.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers Folge, hob das Urteil erster Instanz unter Rechtskraftvorbehalt auf und verwies die Rechtssache zur Ergänzung des Verfahrens und zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurück.

Das Berufungsgericht ging gleich dem Erstgericht davon aus, daß der Tatbestand des § 879 (2) Z. 4 ABGB. nicht vorliege, weil nicht feststehe, daß der Beklagte eine Zwangslage des Klägers bei Abschluß des strittigen Vergleiches ausgebeutet habe. Fehle es aber an einem Merkmal des Wuchers, so könne immer noch auf die Generalklausel des § 879 (1) ABGB. zurückgegriffen werden. Der Erstrichter habe sich aber mit dem ausdrücklich erhobenen Einwand nicht auseinandergesetzt, die vertraglich bedungene Vergütung von jährlichen Zinsen in Höhe von 20% verstoße an sich gegen die guten Sitten. Ein auffälliges Mißverhältnis der beiderseitigen Leistungen könne auch ohne die subjektiven Voraussetzungen des Wuchers eine Sittenwidrigkeit und damit die Nichtigkeit des Vertrages bewirken. Eine solche Nichtigkeit könne auch die Anfechtung des Vergleiches ermöglichen. Diese allfällige Sittenwidrigkeit der abgeschlossenen Darlehensverträge sei als Vorfrage zu prüfen. Obwohl die Sittenwidrigkeit im Sinne des § 879 (1) ABGB. ein auffallende Mißverhältnis der Leistungen voraussetze, so könne doch nicht von vornherein gesagt werden, daß ein Zinsfuß von jährlich 20% in dieser Hinsicht unbedenklich sei. Die Prüfung dieser Frage werde die Einholung eines Sachverständigengutachtens darüber erfordern, welcher Zinsfuß samt Nebenspesen für private Darlehen üblicherweise in Rechnung gestellt werde. Dabei werde unter Umständen auch die Frage der Besicherung der Kredite eine Rolle spielen. Darüber hinaus habe sich der Erstrichter auch mit der Frage bestrittener Leistungen des Klägers bzw. des Beklagten nicht hinreichend auseinandergesetzt. Sollten Forderungen zweifelhaft bleiben, dann seien sie als solche festzustellen, weil das Prozeßrisiko bei Beurteilung der Frage der Sittenwidrigkeit eines Vergleiches in Anschlag gebracht werden müsse. Der Erstrichter habe auch über die Forderung eines anwaltlichen Honorars des Beklagten von 100.000 S keine Feststellungen getroffen und es vermöge sich die Ansicht, die Forderung sei lediglich mit 50.000 S in Rechnung zu stellen, auf keine Verfahrensergebnisse zu stützen.

Abschließend gelangte das Berufungsgericht zu der Auffassung, es könne der vorliegenden Klage nur dann ein Erfolg beschieden sein, wenn ein auffallendes Mißverhältnis der Werte der gegenseitigen Leistungen festzustellen sei.

Der Oberste Gerichtshof gab dem Rekurs des Beklagten gegen den berufungsgerichtlichen Aufhebungsbeschluß nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Aus der Begründung:

Die Meinung des Rekurswerbers, die Sache sei im Sinne der Entscheidung erster Instanz spruchreif, kann nicht geteilt werden.

Wenn das Berufungsgericht den Sachverhalt in tatsächlicher Hinsicht als nicht genügend klargestellt beurteilt, dann kann der Oberste Gerichtshof unter der Voraussetzung einer richtigen rechtlichen Beurteilung der Sache in zweiter Instanz, dem nicht entgegentreten. Die Überprüfung des angefochtenen Aufhebungsbeschlusses hat sich daher auf die Frage zu beschränken, ob das Berufungsgericht von rechtlich zutreffenden Erwägungen ausgegangen ist.

Entgegen der Meinung des Berufungsgerichtes hält der Oberste Gerichtshof die Sache auch hinsichtlich des primären Anfechtungsgrundes des § 879 (2) Z. 4 ABGB. nicht für spruchreif. Die Frage des auffallenden Mißverhältnisses von Leistung und Gegenleistung berührt beide geltend gemachten Anfechtungsgrunde jedenfalls. Mit Recht hat das Berufungsgericht diese Frage als wesentlich beurteilt. Soweit es hier noch Tatfragen für aufklärungsbedürftig hält, so unterliegt dies seiner Beurteilung. Angefochten wird der Generalvergleich in allen seinen Bestimmungen. Es wird deshalb notwendig sein, die vom Berufungsgericht aufgezeigten Unklarheiten in erster Instanz zu beseitigen. Dies gilt nicht nur für die Honorarforderungen des Beklagten, sondern auch für dessen Darlehensforderungen und die daraus abgeleiteten Zinsenansprüche. Daß der Beklagte keinesfalls ohne besondere Vereinbarung berechtigt war, auch von seinen Honoraransprüchen 20% jährliche Zinsen zu berechnen, bedarf keiner Begründung. Sollte das fortgesetzte Verfahren in tatsächlicher Hinsicht ein auffallendes Mißverhältnis von Leistung und Gegenleistung zu Tage fördern, dann wird entgegen der Ansicht des Berufungsgerichtes doch noch die Frage einer Zwangslage des Klägers und ihrer Ausbeutung durch den Beklagten näher zu untersuchen sein. Auf Grund der gegenwärtigen Aktenlage kann der Wuchertatbestand noch nicht ausgeschlossen werden. Unzureichend sind die Feststellungen darüber, welchen Einfluß die durch familiäre Umstände bedingte Übernahme drückender Verpflichtungen des Klägers auf seinen Entschluß hatte, sich mit dem Beklagten unter nachteiligen Bedingungen zu vergleichen. Dabei darf nicht übersehen werden, daß nach den schon heute vorliegenden Feststellungen die Übernahme drückender Verpflichtungen mit dem strittigen Vergleich in einem zeitlichen Naheverhältnis liegt. Allerdings wird das Erstgericht Anlaß haben, gemäß § 182 ZPO. den Kläger zu einer Präzisierung seines Vorbringens anzuhalten, das in der gegenwärtigen Fassung nur sehr allgemein andeutet, was der Kläger meint. Was die allfällige Ausbeutung einer noch klarzustellenden Zwangslage betrifft, so ist nicht zu übersehen, daß die vom Kläger an den Beklagten auf Grund des Vergleichs zu übereignende Liegenschaft mit fast genau der Hälfte ihres Verkehrswertes der Verrechnung zugrundegelegt wurde. Es erhebt sich nun die Frage, welche Kenntnisse oder ungefähren Kenntnisse die Parteien vom wirklichen Verkehrswert der Liegenschaft hatten, als sie einen Verrechnungswert der Liegenschaft von 140.000 S vereinbarten.

Sollte das fortgesetzte Verfahren zu dem Ergebnis führen, daß der Tatbestand des § 879 (2) Z. 4 ABGB. wirklich nicht vorliegt, dann wird auf das Problem des grundsätzlichen Verhältnisses zwischen einer Generalklausel und den anschließend genannten vom Gesetz beispielsweise aufgezählten Sondertatbeständen einzugehen sein. Hier wird insbesondere die Frage eines allenfalls als übermäßig festgestellten vertraglichen Darlehenszinsfußes in den Zusammenhängen des ganzen Falles von Bedeutung sein.

Wohl ist die Aufzählung in § 879 (2) ABGB. nur eine beispielsweise. Unter Umständen kann auch, wenn eine Ausbeutung gegeben ist, die Generalklausel des § 879 ABGB. herangezogen werden, obwohl nicht alle Tatbestandsmerkmale des Wuchers vorliegen (SZ. VIII 61, JBl. 1946 S. 65, siehe aber die Begründung der E. Rspr. 1937 Nr. 161). Es ist aber auch ein Umkehrschluß aus der Beispielsaufzählung möglich. Für seine Zulässigkeit ist die Tendenz des die Generalklausel enthaltenden Gesetzes, die Bedeutung der Klausel in seinem Gefüge und die Gestaltung der aufgezählten Sondertatbestände maßgebend (Gschnitzer, Klang Kommentar[2] IV/1 S. 188 Klang, JBl. 1946 S. 63 ff.). Dieser Umkehrschluß muß aus der Bestimmung des § 879 (2) Z. 4 ABGB. dann gezogen werden, wenn nichts anderes vorliegt als die Vereinbarung eines übermäßigen Zinsfußes. Dies folgt daraus, daß es seit dem Reichsgesetz RGBl. 62/1868 keine Beschränkung des vertragsmäßigen Zinsfußes gibt. Der Vertragsfreiheit sind hier, sofern nicht die Voraussetzungen des § 879 (2) Z. 4 ABGB. gegeben sind, grundsätzlich keine Schranken gesetzt. Hier ist mit Rücksicht auf die Gestaltung des aufgezählten Sondertatbestandes des § 879 (2) Z. 4 ABGB., unter den auch die wucherische Vereinbarung übermäßiger Zinsen fällt, in Verbindung mit dem Gesetz RGBl. 62/1868, das eine gesetzliche Beschränkung des Zinsfußes ausdrücklich ablehnt, der Umkehrschluß geboten, daß dann, wenn die Tatbestandsmerkmale des Wuchers, abgesehen von der Übermäßigkeit des Entgelts nicht gegeben sind, aus der Höhe des vereinbarten Zinsfußes allein nicht die Ungültigkeit der Zinsenvereinbarung abgleitet werden kann.

Auf Grund dieser Erwägungen kann die vom Berufungsgericht angestellte Überlegung, es könne unter allen Umständen auf die Generalklausel des § 879 (1) ABGB. zurückgegriffen werden, wenn ein Tatbestandsmerkmal des Wuchers fehle, in dieser ganz allgemeinen Fassung nicht gebilligt werden. Eine Heranziehung der Generalklausel wird aber dann möglich und geboten sein, wenn ein den individuellen Fall prägendes besonderes zusätzliches Element der Sittenwidrigkeit hinzukommt. Diese Voraussetzung könnte hier vorliegen, wenn man bedenkt, daß der Beklagte versucht hat, seine Ansprüche mit Anwendung eines Zinsfußes von jährlich 20% auch auf die anwaltlichen Honorarforderungen zu berechnen. Welche größenordnungsmäßige Auswirkung dies hat, steht vorläufig nicht fest. Auch das besondere Vertrauens- und Verpflichtungsverhältnis zwischen einem Rechtsanwalt und seinem eigenen Klienten verbietet die schrankenlose Anwendung rein kommerzieller Gedankengänge auf Seite des Rechtsanwaltes, mögen sie auch außerhalb dieses besonderen persönlichen Verhältnisses noch in den Grenzen des Zulässigen liegen. Der Fall liegt also so, daß die Sittenwidrigkeit des angefochtenen Vergleiches auch dann gegeben sein könnte, wenn der Tatbestand des Wuchers auch nach erschöpfender Klarstellung des Sachverhaltes nicht vorliegen sollte.

Der Umstand, daß der Kläger nicht nur den strittigen Vergleich selbst als sittenwidrig angreift, sondern auch die vorausgegangenen Darlehensverträge, auf Grund deren die verglichenen Ansprüche berechnet wurden, steht einem Erfolg der Klage nicht im Wege. Der Vergleich ist entgegen dem Wortlaut des § 1380 ABGB. nicht unter allen Umständen ein Neuerungsvertrag in dem Sinne, daß er einen von den verglichenen Ansprüchen vollständig losgelösten eigenen Rechtsgrund bildet (EvBl. 1955 Nr. 23 S. 52). Ebenso wie beim Anerkenntnis (JBl. 1961 S. 123) werden auch beim Vergleich wohl verzichtbare Einwendungen abgeschnitten, doch bleiben unverzichtbare Einwendungen, wie etwa jene der Sittenwidrigkeit, unberührt. Der Vergleich unterscheidet sich ja vom Anerkenntnis nur durch die Entgeltlichkeit des Vertrages. Demgemäß werden die Sittenwidrigkeit der Darlehensverträge und die Vereinbarung eines Verrechnungswertes der Liegenschaft von 140.000 S eine Vorfrage bilden. Aus all diesen Gründen ist die Sache noch nicht spruchreif und die Aufhebung des Urteils erster Instanz gerechtfertigt. Dem nicht stichhältigen Rekurs war also ein Erfolg zu versagen.

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