Spruch:
Wer als Bedienungsmann eines Sesselliftes diesen nicht anhält, um einem Verletzten das gefahrlose Aufsteigen zu ermöglichen, haftet für den Absturz dieses Fahrgastes
Entscheidung vom 14. September 1966, 7 Ob 135/66
I. Instanz: Landesgericht Innsbruck; II. Instanz: Oberlandesgericht Innsbruck
Text
Der Kläger, der 1912 geboren und Facharzt für Frauenheilkunde ist, stürzte am 2. März 1962 beim Schifahren und verletzte sich im Bereich des rechten Schlüsselbeines. Er wollte daher nicht mit den Schiern, sondern mit dem Sessellift der Beklagten zu Tal fahren. Der Erstbeklagte bediente den Sessellift in der Bergstation. Er half dem Kläger in einen in Fahrt befindlichen Sessel, der Kläger fiel aber gleich darauf aus dem Sessel den Hang hinunter und verletzte sich schwer. Wegen dieses Unfalles begehrt der Kläger vom Erstbeklagten als schuldtragendem Seilbahnbediensteten und von den übrigen Beklagten als Seilbahnunternehmen bzw. persönlich haftenden Gesellschaftern des Unternehmens Schadenersatz. Er begehrt für Behandlung und Spitalsaufenthalt insgesamt 13.446 S, die der Höhe nach außer Streit gestellt wurden. Weiter begehrt er 50.000 S Schmerzengeld und 30.000 S Verdienstentgang für zwei Monate, insgesamt also 93.446 S, wovon er 1000 S, die er im Strafverfahren gegen den Erstbeklagten als Privatbeteiligter zugesprochen erhalten hat, abzog.
Das Erstgericht verurteilte die Beklagten zur Zahlung von 48.543.50 S und wies das Mehrbegehren ab. Es stellte folgenden Sachverhalt fest: Der Kläger wurde unmittelbar nach dem Schiunfall von dem gerade anwesenden Facharzt für Chirurgie Dr. B. untersucht und bei ihm eine Lösung der Verbindung des rechten Schlüsselbeines mit dem Brustbein festgestellt. Dadurch war der Kläger am Gebrauch der rechten Hand behindert, es handelte sich aber nur um eine geringfügige Verletzung. Dr. B. riet dem Kläger, mit dem Sessellift zu Tal zu fahren, aber wegen der Behinderung der rechten Hand nicht auf den fahrenden Lift aufzusitzen. Der Sessellift verfügt auf der Bergstation über keine Einsteigevorrichtung für die Talfahrt und soll nur in Notfällen für eine Talfahrt verwendet werden. In einem solchen Fall ist aber genügend Platz zum Einsteigen und für Hilfspersonen vorhanden. Es muß dann auf einem etwa 10 m langen Geländestreifen eingestiegen werden, der sich zwischen der Bergstation und dem Geländeabbruch hinzieht. Der Ort des Einsteigens ist so zu wählen, daß von ihm zum Geländeabbruch ein Sicherheitsabstand von ungefähr 8 m liegt. Die Entfernung des Sessels vom Boden soll nur 50 cm betragen. Der Kläger teilte bei der Bergstation dem Erstbeklagten mit, daß er sich verletzt habe und mit dem Lift zu Tal fahren wolle. Er ersuchte den Erstbeklagten mehrmals, den Lift zum Stillstand zu bringen, was durch einen Druck auf einen Knopf ohne weiteres möglich gewesen wäre. Der Erstbeklagte lehnte ein Anhalten des Lifts aber ab, weil er vom Kläger nicht den Eindruck hatte, daß dieser sich nicht auf den fahrenden Sessel setzen könne und weil er die dienstliche Anweisung erhalten hatte, den Lift nicht zu oft anzuhalten. Der Erstbeklagte bezeichnete dem Kläger einen Punkt zum Einsteigen, der nur 2 m vom Geländeabbruch entfernt war, weil er nur von dieser Stelle aus feststellen konnte, ob bei der Bergfahrt eine Beförderungslücke auftreten werde, die es ihm gestatte, dem Kläger beim Einsteigen zu helfen. Seine Haupttätigkeit war ja, den ankommenden Liftbenützern beim Aussteigen zu helfen. An der bezeichneten Stelle erschien auch der Abstand des Sessels zum Boden am günstigsten. Bei einer Verkehrslücke führte der Erstbeklagte einen Sessel von hinten an den am angegebenen Punkt stehenden Kläger heran, der Kläger, der die rechte Hand wegen der Verletzung in der Tasche des Anoraks hatte und daher nur die linke Hand benützte, kam nicht recht auf den Sessel zu sitzen. Wegen des geringen Abstandes vom Geländeabbruch konnte er auch nicht mehr absteigen, sondern stürzte den Abbruch hinunter und schlug auf einem Träger des Lifts auf. Dabei erlitt er schwere, mit einem Schock verbundene Verletzungen, und zwar eine Kopfwunde, einen Trümmerbruch des rechten Schlüsselbeins, Brüche der 1., 5. und 6. Rippe und einen Bluterguß in der Brusthöhle. Der Kläger mußte operiert und eine Nagelung des Schlüsselbeins vorgenommen werden.
Rechtlich führte das Erstgericht aus, den Sturz des Klägers vom Lift habe in erster Linie der Erstbeklagte verschuldet, weil er den Lift nicht zum Stillstand gebracht und weil er die Aufstiegstelle für den Kläger zu knapp am Hangabbruch gewählt habe. Den Kläger treffe ein Mitverschulden, weil er trotz Warnung durch Dr. B. den fahrenden Lift bestiegen habe. Das Verschulden des Erstbeklagten überwiege aber, und es sei eine Verschuldensteilung im Verhältnis 3 : 1 zu Lasten des Erstbeklagten anzunehmen. Das Schmerzengeld sei mit 25.000 S angemessen, wovon 1000 S abzuziehen seien, die dem Kläger im Strafverfahren zugesprochen wurden. Der Verdienstentgang sei mit 30.000 S anzunehmen, weil der Kläger nicht nur während der zwei Monate seiner Arbeitsunfähigkeit einen Ausfall an Verdienst gehabt habe, sondern auch während der folgenden Monate und allenfalls sogar Jahre. Von den unbestrittenen Spitalsaufenthalts- und Behandlungskosten von 13.446 S sei ein Betrag von 2721.80 S abzuziehen, den der Kläger an Versicherungsleistungen erhalten habe. Von dem so errechneten Gesamtbetrag von 64.724.20 S gebühren dem Kläger wegen seines Mitverschuldens drei Viertel, also 48.543.15 S.
Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung.
Der Oberste Gerichtshof gab den Revisionen beider Parteien nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Mit Recht weist das Berufungsgericht darauf hin, daß der Transport eines verletzten Schifahrers mit dem Lift kein Gefälligkeitsakt des Erstbeklagten, sondern eine selbstverständliche Pflicht war, die keineswegs mit seiner hauptsächlichen Aufgabe, die in der Bergstation ankommenden Fahrgäste zu betreuen, in Widerspruch stand. Beide Tätigkeiten ließen sich ohne weiteres miteinander vereinbaren.
Eine Verweisung eines so leicht Verletzten, wie es der Kläger damals war, auf einen Abtransport mit einem Akja durch die Bergrettung muß als abwegig und sowohl dem Verletzten als auch den Bergrettungsmännern unzumutbar bezeichnet werden. Wenn ein Schilift vorhanden ist, wird ein derart Verletzter wohl nirgends mit einem Akja zu Tal befördert werden. Gerade weil der Erstbeklagte kein Arzt ist, durfte er sich nicht auf den äußeren Eindruck, den der Kläger auf ihn machte, verlassen, sondern mußte darauf Bedacht nehmen, daß sich der Kläger unsicher fühlte und ausdrücklich bat, den Lift anzuhalten, um aufsteigen zu können. Daß der Erstbeklagte trotzdem den Kläger sozusagen dazu drängte, doch auf den fahrenden Lift aufzusteigen, stellt ein bedeutendes Verschulden dar. Wenn der Erstbeklagte auch die dienstliche Anweisung hatte, den Lift nicht oft abzustellen, war er hiezu im vorliegenden Fall zweifellos berechtigt und verpflichtet. Eine Gefährdung anderer Fahrgäste oder auch nur eine nennenswerte Verzögerung ihrer Beförderung wäre durch das Anhalten, das ja nur für wenige Sekunden notwendig gewesen wäre, nicht erfolgt. Die Wahl des ungünstigen Standplatzes für das Aufsteigen des Klägers hängt mit dem Nichtabstellen des Lifts untrennbar zusammen, von einer Zwangslage des Erstbeklagten kann aber nicht gesprochen werden. Durch ein kurzes Abstellen des Lifts wären alle diese Probleme beseitigt worden. Der Kläger hätte in Ruhe auch auf einem vom Abbruch weiter entfernt gelegenen Punkt aufsteigen können, er hätte aber auch ohne Gefahr auf den vom Erstbeklagten bezeichneten Punkt aufsteigen können, falls gerade dort ein Sessel angehalten hätte. Der Erstbeklagte mußte sich bewußt sein, daß beim Aufsteigen auf den fahrenden Lift für einen verletzten oder auch nur behinderten Fahrgast im vorliegenden Fall zwei Gefahren bestanden, nämlich, nicht richtig auf dem Sessel Platz nehmen zu können und wegen des nahen Abbruches nicht mehr rechtzeitig den Sessel wieder verlassen zu können. Beide Umstände haben ja auch tatsächlich zum Unfall geführt. Das Verschulden des Erstbeklagten wurde von den Untergerichten daher mit Recht als überwiegend gewertet. Die Untergerichte haben sein Verschulden ohne Rücksicht auf das Straferkenntnis selbständig festgestellt, ein Freispruch des Erstbeklagten in einem wiederaufgenommenen Strafverfahren wäre für das Zivilverfahren nicht bindend, eine Unterbrechung des Verfahrens war daher nicht notwendig.
Aber auch den Kläger trifft ein Mitverschulden. Wenn er sich tatsächlich zu unsicher fühlte, auf einen fahrenden Lift aufzusteigen, hätte er dies dem Erstbeklagten eindringlicher vor Augen führen und energischer auf einem Anhalten des Lifts bestehen müssen. Üblicherweise haben Benützer von Sesselliften in einer Hand Schier und Stöcke und vielfach noch am Rücken oder auf der Brust einen Rucksack zu tragen, sodaß sie keine oder nur eine Hand zum Aufsteigen frei haben. Trotzdem werden die Lifte ohne Anhalten bestiegen. Der Kläger, der völlig unbelastet war und nur im Gebrauch der rechten Hand behindert war, hat daher den Unfall auch durch ein ungeschicktes Verhalten mitverschuldet. Wenn sein Verschulden auch weitaus geringer zu werten ist, als das Verschulden des Erstbeklagten, so erscheint doch eine Aufteilung in dem von den Untergerichten festgelegten Verhältnis dem beiderseitigen Verschulden angemessen.
Bei der Bemessung des Schmerzengeldes ist zu beachten, daß es sich um sehr schwere Verletzungen handelte, die eine lange Behandlung erforderten und die nicht zuletzt auch im Hinblick auf das Alter des Klägers gefährlich waren, was dem Kläger als Arzt bewußt war. Auch seine Furcht, den Beruf als Facharzt für Geburtshilfe nicht mehr ausüben zu können, erscheint nicht unbegrundet. In der Rechtsprechung wurde zwar ein Schmerzengeld von 25.000 S vielfach für weitaus schwerere Verletzungen zuerkannt, bei Berücksichtigung der psychischen Belastung des Klägers und der seit der Verletzung bis zum Schluß der Verhandlung (1962 - 1965) eingetretenen Minderung der Kaufkraft des Schillings (vgl. Jarosch - Müller - Piegler, Schmerzengeld S. 84) erscheint das von den Untergerichten dem Kläger zuerkannte Schmerzengeld dennoch angemessen.
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