OGH 2Ob63/66

OGH2Ob63/663.3.1966

SZ 39/44

Normen

ABGB §1310
StPO §393 (4)
StVO §3
StVO §20
StVO §76
ZPO §41
ABGB §1310
StPO §393 (4)
StVO §3
StVO §20
StVO §76
ZPO §41

 

Spruch:

Zur Frage des Verschuldens eines an einem Verkehrsunfall beteiligten 9jährigen Kindes

Gemäß § 393 (4) StPO. bilden die Kosten des Strafverfahrens einen Teil der Kosten des zivilgerichtlichen Verfahrens, ohne daß unterschieden wird, ob ein Schuldspruch oder ein Freispruch gefällt wurde. Es ist daher gemäß § 41 ZPO. nur die Notwendigkeit der Kosten zu prüfen

Entscheidung vom 3. März 1966, 2 Ob 63/66

I. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien; II. Instanz:

Oberlandesgericht Wien

Text

Nach dem festgestellten Sachverhalt ereignete sich am 30. Juni 1963 um i8.30 Uhr in Wien XXII., Sch.-Straße, ein Verkehrsunfall, bei dem die damals 9jährige Klägerin schwer verletzt wurde. Sie überquerte die Sch.-Straße und ging dabei zuerst über den selbständigen Gleiskörper der Straßenbahn und dann über die anschließende Fahrbahnhälfte durch die dort in zwei Fahrstreifen zum Stehen gekommenen Fahrzeugkolonnen. Beim Betreten der linken Fahrbahnhälfte wurde sie von dem in dritter Spur mit einem Motorrad herankommenden Beklagten niedergestoßen. Der Beklagte wurde im Strafverfahren freigesprochen.

Mit der vorliegenden Klage hat die klagende Partei Schadenersatz in der Höhe von 20.000 S Schmerzengeld, 20.000 S Entschädigung nach § 1326 ABGB. und 400 S Sachschaden, zusammen somit 40.400 S, und die Feststellung begehrt, daß ihr der Beklagte auch die zukünftigen Schäden zu ersetzen habe. Sie hat das alleinige Verschulden des Beklagten behauptet, weil dieser vorschriftswidrig in dritter Spur und zu schnell gefahren sei.

Der Beklagte hat das alleinige Verschulden der Klägerin eingewendet, weil diese unmittelbar vor seinem Motorrad über die Straße gelaufen sei, und Klagsabweisung begehrt.

Das Erstgericht hat eine Verschuldensteilung im Verhältnis 1 : 1 vorgenommen und den Beklagten verurteilt, der Klägerin 20.200 S zu bezahlen. Es hat auch dem Feststellungsbegehren mit der Einschränkung der Ersatzpflicht des Beklagten für zukünftige Schäden auf die Hälfte stattgegeben.

Das Berufungsgericht hat den Berufungen der beiden Parteien nicht Folge gegeben und ausgesprochen, daß der Wert des Streitgegenstandes 15.000 S übersteige.

Gegen das Urteil des Berufungsgerichtes richten sich die Revisionen beider Parteien.

Der Oberste Gerichtshof erkannte die beklagte Partei schuldig, der klagenden Partei den Betrag von 40.400 S samt den gesetzlichen Zinsen zu bezahlen und stellte fest, daß die beklagte Partei der klagenden Partei für alle aus dem Verkehrsunfall vom 30. Juni 1963 in Wien, Sch.-Straße in Zukunft entstehenden Schäden haftet.

Rechtliche Beurteilung

Aus den Entscheidungsgründen:

I. Zur Revision der Klägerin:

In rechtlicher Hinsicht wendet sich die Klägerin gegen die Ansicht des Berufungsgerichtes, daß sie ein Mitverschulden zur Hälfte treffe. Sie führt hiezu aus, daß sie die ihr gemäß § 76 StVO. obliegende Sorgfalt beim Überqueren der Straße angewendet habe. Mit einem so vorschriftswidrigen Verhalten des Beklagten habe sie nicht rechnen müssen. Sie habe sich um den von rechts kommenden Verkehr gekümmert, nachdem sie die Mitte der Fahrbahn überschritten hatte. Außerdem sei zu berücksichtigen, daß sie zur Zeit des Unfalles erst neun Jahre alt gewesen sei und das Berufungsgericht eine Interessenabwägung hätte vornehmen müssen.

Diesen Ausführungen kommt Berechtigung zu. Im vorliegenden Fall war die Klägerin gemäß § 3 StVO. 1960 nicht nur dem besonderen Schutz der anderen Verkehrsteilnehmer anvertraut, sondern sie durfte auch darauf vertrauen, daß sie von links einer Gefahr nicht ausgesetzt sei. Sie hatte die Fahrbahnmitte überschritten und hat, wie sie auch in der Schule bei der Verkehrserziehung unterrichtet worden war, vorerst ihren Blick nach rechts gerichtet, um festzustellen, ob von dort her ein Fahrzeug kommt, das sie zu berücksichtigen habe. Sie hat sich auf diese Weise durchaus vorschriftsmäßig verhalten und keineswegs gegen die Vorschrift des § 76 (4) lit. c StVO. 1960 verstoßen. Die Klägerin konnte insbesondere auch mit Rücksicht auf ihr Alter von 9 Jahren der Meinung sein, daß ihr nur von rechts her eine Gefahr drohen könnte. Sie hat sich auch an die Vorschrift des § 76 (5) StVO. 1960 gehalten und die Fahrbahn in angemessener Eile überquert. Die Klägerin hat auch nicht gegen § 76 (6) StVO. 1960 verstoßen, weil sie mit der sicheren Überquerung der Fahrbahn rechnen konnte. Wenn sie nicht stehengeblieben ist, um sich zu vergewissern, daß sie auch auf einen von links kommenden Verkehrsteilnehmer Rücksicht zu nehmen habe, so kann ihr dies mit Rücksicht auf das grob vorschriftswidrige Verhalten des Beklagten einerseits und mit Rücksicht auf ihr Alter andererseits nicht als Verschulden angerechnet werden. In diesem Fall ist der Vertrauensgrundsatz zu ihren Gunsten anzuwenden. Wie noch im Zusammenhang mit der Revision des Beklagten näher ausgeführt werden wird, ist der Unfall einzig und allein auf das grob vorschriftswidrige Verhalten des Beklagten zurückzuführen.

Der Klägerin sind daher die von ihr geltend gemachten Ansprüche zuzuerkennen, weil, was ebenfalls noch ausgeführt werden wird, auch der vom Beklagten der Höhe nach bestrittene Anspruch der Klägerin nach § 1326 ABGB. von den Untergerichten richtig bemessen wurde.

Das angefochtene Urteil ist daher wie im Spruch abzuändern.

II. Zur Revision des Beklagten:

In rechtlicher Hinsicht wendet sich der Beklagte gegen die Ansicht des Berufungsgerichtes, daß ihn an dem Verkehrsunfall überhaupt ein Verschulden treffe. Er ist der Meinung, er habe im Sinne des § 3 StVO. 1960 darauf vertrauen dürfen, daß ein Fußgänger nicht durch die zum Stillstand gekommenen Autokolonnen über die Straße laufen werde. Das Verhalten der Klägerin bedeute auch ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 9 EKHG.

Diesen Ausführungen kann nicht beigepflichtet werden. Wie schon oben dargestellt wurde, ist der Vertrauensgrundsatz in diesem Falle nicht zugunsten des Beklagten, sondern zugunsten der Klägerin anzuwenden. Der Beklagte hätte sich auf jeden Fall, ob er nun von dem Wachebeamten eingewiesen wurde oder nicht, bewußt sein müssen, daß er sich in dritter Spur entgegen der Vorschrift des § 12 (5) StVO. 1960 bewegt und daß er daher eine besondere Vorsicht und Aufmerksamkeit anzuwenden habe, um andere Verkehrsteilnehmer, die an ein solches vorschriftswidriges Verhalten nicht denken konnten und mußten, nicht zu gefährden. Auch wenn er von dem Wachebeamten eingewiesen worden wäre, hätte er im Sinne des § 41 (3) StVO. 1960 dieser Anweisung nur folgen dürfen, wenn dies ohne Gefährdung von Personen möglich gewesen wäre. Der Beklagte wäre jedenfalls verpflichtet gewesen, nicht nur die Fahrbahn vor ihm, sondern auch deren Umgebung zu beobachten. Er mußte damit rechnen, daß sich durch die zum Stillstand gekommenen Autokolonnen allenfalls auch ein Fußgänger bewegen könnte, um auf diese Weise die Fahrbahn zu überqueren. Nach dem Sachverständigengutachten, dem auch die Untergerichte gefolgt sind und das daher auch zur Grundlage für die Beurteilung in dritter Instanz genommen werden kann, hätte der Beklagte bei der gegebenen Verkehrssituation eine Geschwindigkeit von 15 km/h einhalten und in Bremsbereitschaft fahren müssen. Der Beklagte ist aber mit einer Geschwindigkeit von 35 bis 40 km/h und nicht bremsbereit gefahren. Daraus allein schon ergibt sicheine grobe Verletzung der Verkehrsvorschriften (§ 20 (1) StVO. 1960). Bei gehöriger Aufmerksamkeit hätte der Beklagte die Klägerin schon sehen können, als diese die rechte Fahrbahnhälfte überquerte. Er hätte, wenn er aufmerksam gewesen wäre, seine Fahrweise auf die die Straße überquerende Klägerin einstellen können. Bei gehöriger Aufmerksamkeit hätte der Beklagte auch die Möglichkeit gehabt, er wäre hiezu auch nach § 22 (1) StVO. 1960 verpflichtet gewesen, die Klägerin durch ein Hupenzeichen zu warnen. Der Beklagte hat sich somit durch seine mehrfach gegen die Verkehrsvorschriften verstoßende Fahrweise und durch seine Unaufmerksamkeit die Möglichkeit genommen, den Unfall zu verhindern. Es steht nämlich auch fest, daß die Klägerin noch einen Weg von zirka 2 m zurückzulegen hatte, als der Beklagte noch zirka 14-16 m entfernt war. Er hätte daher schon durch ein leichtes Ausbiegen nach links den Unfall überhaupt vermeiden können. Zumindest aber hätte er durch eine starke Bremsung seine weit überhöhte Geschwindigkeit noch so weit herabsetzen können, daß der Anprall an den Körper der Klägerin wesentlich herabgemindert worden wäre. Dadurch wären jedenfalls die schweren Unfallsfolgen vermieden worden.

Der Oberste Gerichtshof ist daher der Ansicht, daß den Beklagten das alleinige Verschulden an diesem Unfall trifft. Der Freispruch im Strafverfahren hindert keineswegs diese Beurteilung des Verhaltens des Beklagten, weil das Zivilgericht an ein freisprechendes Erkenntnis und an die rechtliche Beurteilung der Sache durch das Strafgericht nicht gebunden ist. Im übrigen wird auf die obigen Ausführungen zur Revision der Klägerin verwiesen.

Der Beklagte wendet sich schließlich noch gegen die Bemessung der Entschädigung nach § 1326 ABGB. mit 20.000 S. Er ist der Meinung, daß ein Betrag von 10.000 S angemessen wäre. Da eine Anfechtung dem Gründe nach nicht vorliegt, ist darauf nicht weiter einzugehen. Die Klägerin wurde jedenfalls in der Weise "verunstaltet", daß ihr die Milz und eine Niere entfernt werden mußte. Nach dem Sachverständigengutachten, dem sich auch die Untergerichte angeschlossen haben, ist die Klägerin dadurch nicht nur in ihrer Berufswahl stark behindert, sondern auch im Falle einer Schwangerschaft gefährdet. Der ihr zuerkannte Betrag von 20.000 S erscheint daher keineswegs überhöht.

Aus den angeführten Gründen muß daher der Revision der Erfolg versagt bleiben.

Mit Rücksicht darauf, daß im Zivilverfahren das Verschulden des Beklagten an dem Unfall festgestellt wurde, erscheint es auch gerechtfertigt, der Klägerin die durch ihre Privatbeteiligung im Strafverfahren entstandenen Kosten zuzusprechen. Gemäß § 393 (4) StPO. bilden die Kosten des Strafverfahrens einen Teil der Kosten des zivilgerichtlichen Verfahrens, ohne daß unterschieden wird, ob ein Schuldspruch oder ein Freispruch gefällt wurde. Es ist daher gemäß § 41 ZPO. nur die Notwendigkeit der Kosten zu prüfen. Mit Rücksicht darauf, daß das Strafverfahren als eine Vorbereitung des Zivilprozesses angesehen werden kann, ist auch die Notwendigkeit der Kosten der Klägerin als Privatbeteiligte trotz des Freispruches des Beklagten zu bejahen.

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