OGH 2Ob224/65

OGH2Ob224/6530.9.1965

SZ 38/152

Normen

Eisenbahn- und Kraftfahrzeughaftpflichtgesetz §9 (2)
Eisenbahn- und Kraftfahrzeughaftpflichtgesetz §9 (2)

 

Spruch:

Der Halter des Kraftfahrzeuges haftet, wenn der Lenker infolge eines Insektenstichs ins Auge während der Fahrt den Wagen verreißt und es dadurch zum Unfall kommt

Entscheidung vom 30. September 1965, 2 Ob 224/65

I. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien; II. Instanz:

Oberlandesgericht Wien

Text

Der bei der Klägerin pflichtversicherte Ing. Edmund S. hat am 20. Juli 1962 auf der Bundesstraße 17 im Gemeindegebiet Wiener-Neudorf als Insasse des vom Beklagten gelenkten Personenkraftwagens einen Unfall erlitten, an dessen Folgen er noch am selben Tage gestorben ist. Die Klägerin erbringt an die Witwe Frieda S. und an die Waise Eleonore S. die Pflichtleistungen aus der Sozialunfallversicherung, weil dieser Unfall des Genannten als Arbeitsunfall anerkannt worden ist. Das im Zusammenhang mit dem Unfall vom 20. Juli 1962 gegen den Beklagten wegen Vergehens nach den §§ 335, 337 lit. a StG. eingeleitete Strafverfahren ist gemäß § 109 StPO. eingestellt worden. Nunmehr nimmt die Klägerin den Beklagten auf Ersatz ihrer Aufwendungen im Rahmen der Halterhaftung nach dem EKHG. in Anspruch; die Klägerin verlangt die Zahlung von 29.004.06 S s. A. sowie die Feststellung, daß der Beklagte verpflichtet sei, der Klägerin alle Leistungen zu ersetzen, welche diese aus Anlaß des tödlichen Unfalls des Ing. Edmund S. vom 20. Juli 1962 auf Grund der jeweils in Geltung stehenden sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften über die gesetzliche Unfallversicherung zu erbringen habe, jedoch nur insoweit, als sie in den Ersatzansprüchen der Hinterbliebenen, welche diese ohne den in § 332 (1) SVG. vorgesehenen Rechtsübergang vom Schädiger selbst zu fordern berechtigt wären, bzw. in den im § 15 (1) Z. 3 EKHG. festgesetzten Haftungshöchstbeträgen Deckung fänden. Die beklagte Partei hat Grund und Höhe des Begehrens bestritten.

Während das Erstgericht die Klage wegen der Zuständigkeit des Arbeitsgerichtes zurückgewiesen hatte, hat die zweite Instanz auf den Rekurs der Klägerin unter Aufhebung des erstinstanzlichen Zurückweisungsbeschlusses dem Erstgerichte die Fortsetzung des Verfahrens aufgetragen.

Mit Urteil vom 28. Jänner 1965 hat das Erstgericht das oben bezeichnete Leistungs- und Feststellungsbegehren abgewiesen. Zum Unfall sei es gekommen, weil der Beklagte infolge eines Insektenstiches ins Unterlid des linken Auges während der Fahrt das Fahrzeug verrissen habe; die Ersatzpflicht des Beklagten sei bei diesen Umständen gemäß § 9 EKHG. ausgeschlossen.

Der Berufung der Klägerin hat das Berufungsgericht Folge gegeben, das Ersturteil aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen; zugleich hat das Berufungsgericht ausgesprochen, daß das Verfahren in erster Instanz erst nach Rechtskraft seines Beschlusses fortzusetzen sei. Die Haftungsbefreiung nach § 9 EKHG. komme dem Beklagten nicht zustatte, weil der Unfall unmittelbar auf die durch das Verhalten eines Tieres ausgelöste außergewöhnliche Betriebsgefahr zurückzuführen sei. Der vom Erstgerichte gebrauchte Abweisungsgrund treffe nicht zu. Das Verfahren sei ergänzungsbedürftig, weil noch nicht geprüft worden sei, ob die Voraussetzungen für die Nichtanwendung des EKHG. aus den Gründen des § 3 Z. 2 EKHG. gegeben seien.

Gegen den Beschluß des Berufungsgerichtes richtet sich der Rekurs der beklagten Partei: Sie steht auf dem Standpunkte, daß das Klagebegehren schon zufolge der in § 9 EKHG. normierten Haftungsbefreiung abzuweisen sei, so daß es der vom Berufungsgerichte angeordneten Verfahrensergänzung nicht bedürfe.

Der Oberste Gerichtshof gab dem Rekurs der beklagten Partei nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Aus der Begründung:

Zufolge der Systematik des EKHG. ist zu bemerken, daß nach dem Prozeßvorbringen der beklagten Partei vor dem Erstgericht zunächst die Frage der Anwendbarkeit des EKHG. gemäß § 3 Z. 2 dieses Gesetzes zu erörtern gewesen wäre; denn nur im Anwendungsbereiche dieses Gesetzes (§§ 1 bis 4) kommt die Haftung nach den §§ 5 ff. EKHG. in Betracht und wird die Frage der Haftungsbefreiung (§§ 9 f. EKHG.) aktuell. Das Erstgericht hat die Anwendbarkeit des Gesetzes unerörtert gelassen und das Klagebegehren aus dem Gründe der Haftungsbefreiung abgewiesen. Die Berufungsinstanz hat diesen Abweisungsgrund verneint und die Verfahrensergänzung zur Frage des Anwendungsbereiches des Gesetzes aufgetragen; zufolge des Rechtskraftvorbehaltes im Aufhebungs- und Rückverweisungsbeschluß der Berufungsinstanz muß nun in dritter Instanz die Haftungsbefreiung nach § 9 EKHG. erörtert werden, obwohl Feststellungen noch nicht vorliegen, ob das EKHG. anwendbar ist (§ 3 Z. 2 EKHG.).

Der vom Rekurswerber gerügte Rechtsirrtum der Berufungsinstanz in der Beurteilung gemäß § 9 EKHG. ist aus den nachstehenden Erwägungen nicht gegeben. Abs. 2 des § 9 EKHG. schränkt den Begriff des unabwendbaren Ereignisses im Sinne des § 9 (1) des Gesetzes in der Weise ein, daß die Generalklausel des ersten Absatzes nicht auf die Beispiele bezogen werden darf, die nach der Formulierung des zweiten Absatzes unter dem Gesichtspunkt eines Umkehrschlusses als unabwendbare Ereignisse von Gesetzes wegen ausscheiden. Nun gilt gemäß § 9 (2) EKHG. ein Ereignis insbesondere dann als unabwendbar, wenn es - unter anderem - auf das Verhalten eines Tieres zurückzuführen ist, sowohl der Halter als auch die mit Willen des Halters beim Betrieb tätigen Personen jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beachtet haben und der Unfall nicht unmittelbar auf die durch das Verhalten eines Tieres ausgelöste außergewöhnliche Betriebsgefahr zurückzuführen ist. Die Fassung des § 9 (2) EKHG. unterscheidet sich somit wesentlich von der Formulierung des § 7 (2) Satz 2 des vor dem BKHG. geltenden KraftfVerkG. (in der Anmerkung 2 letzter Absatz zu § 9 EKHG. auf S. 113 der von Veit besorgten Manz'schen Ausgabe des EKHG.[2], 1962, ist dennoch die seinerzeitige Anmerkung 9 letzter Absatz zu § 7 KraftfVerkG. auf S. 49 der Manz'schen Ausgabe des Kraftfahrzeughaftpflichtrechtes[5], 1956, ohne weiteres übernommen worden). Der Sinn der Neuregelung zu diesem Punkt ist den Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage über das EKHG. (vgl. Anmerkung 1 zu § 9 EKHG. auf S. 108 ff. in der oben bezogenen Ausgabe des EKHG. 1962) zu entnehmen und auch in der Lehre (vgl. Gschnitzer, Schuldrecht, Besonderer Teil und Schadenersatz, 1963, S. 197 f.) ist anerkannt, daß die Neuregelung laut § 9 (2) am Ende EKHG. eine Erweiterung der Haftung des Kraftfahrzeughalters mit sich gebracht hat; auslösend war das Verhalten des Tieres (vorliegendenfalls der Insektenstich ins Auge des Beklagten), wodurch es zum Verreißen des Fahrzeuges nach rechts und zum Anprall des Wagens an den neben der Straße befindlichen Fahrleitungsmast kam; der Schaden wurde unmittelbar durch die im Betrieb rascher Fahrzeuge liegende außergewöhnliche Betriebsgefahr verursacht. Die vom Rekurswerber vorgenommene Unterscheidung vermag nicht zu überzeugen. Gewiß ist die Reflexhandlung des Lenkers, die durch den Insektenstich ausgelöst worden war, die letzte Unfallsursache gewesen; dadurch ist aber der in § 9 (2) am Ende EKHG. vorgesehene Zusammenhang zwischen der Auslösung des Unfalles durch das Tier und der außergewöhnlichen Betriebsgefahr nicht aufgehoben worden.

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