Spruch:
Es verstößt gegen die Prozeßgesetze, wenn das Berufungsgericht die in der Mängelrüge der Berufung gerügte Unterlassung der Vernehmung eines Zeugen zu Unrecht mit der Begründung für unbegrundet erachtet, ein taugliches Beweisthema sei in erster Instanz nicht angegeben worden
Entscheidung vom 12. Juli 1965, 2 Ob 220/65
I. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien; II. Instanz:
Oberlandesgericht Wien
Text
Der Kläger hat als Lenker eines Motorrollers am 9. Dezember 1960 in W. einen Verkehrsunfall erlitten. Im Zusammenhang mit diesem Unfall ist der Zweitbeklagte mit Strafverfügung des Bezirksgerichtes M. vom 6. Februar 1961 - rechtskräftig - der Übertretung nach § 431 StG. schuldig erkannt worden (er habe als Lastkraftwagenlenker den Vorrang des Klägers nicht beachtet, wodurch dieser mit seinem Motorroller zum Sturz kam und leichte Verletzungen erlitt). Nunmehr macht der Kläger aus dem Verkehrsunfall vom 9. Dezember 1960 Schadenersatzansprüche gegen die beiden Beklagten zur ungeteilten Hand geltend, und zwar gegen den Zweitbeklagten aus Verschulden und gegen die erstbeklagte Partei als Kraftfahrzeughalterin gemäß § 19
(2) EKHG. Am Schluß der Streitverhandlung ist nicht mehr strittig, daß die Beklagten dem Kläger für den gesamten Schaden hatten.
Das Erstgericht hat die beklagten Parteien zur ungeteilten Hand schuldig erkannt, dem Kläger den Betrag von 3100 S s. A. zu bezahlen, und das Mehrbegehren punkto 44.832.82 S s. A. sowie auf Leistung einer ab 1. Mai 1963 zu bezahlenden Monatsrente von 94.70 S und auf Feststellung, die Beklagten hätten dem Kläger gegenüber aus allen Schäden, die diesem aus dem Verkehrsunfall vom 9. Dezember 1960 in Zukunft noch entstehen könnten, aufzukommen, abgewiesen. Der zuerkannte Betrag setzt sich zusammen aus Schmerzengeld in der Höhe von 2500 S und aus Ersatz des Sachschadens im Betrage von 600 S.
Lediglich der Kläger hat berufen und damit zu erreichen gesucht, daß seinem Klagebegehren zur Gänze stattgegeben werde.
Dieser Berufung hat das Berufungsgericht nicht Folge gegeben und das Ersturteil in dem das Klagebegehren zum Teil abweisenden Ausspruch bestätigt; zugleich hat das Berufungsgericht ausgesprochen, daß der Wert des Streitgegenstandes 15.000 S übersteige.
Gegen das Berufungsurteil richtet sich die Revision des Klägers: er zieht die Revisionsgrunde des § 503 Z. 2, 3 und 4 ZPO. an und beantragt die Abänderung des Berufungsurteiles dahin, daß dem Klagebegehren (zur Gänze) stattgegeben werde; hilfsweise hat der Kläger beantragt, das Berufungsurteil bzw. auch das Ersturteil aufzuheben und die Streitsache an die zweite bzw. erste Instanz zurückzuverweisen.
Der Oberste Gerichtshof hob das Urteil des Berufungsgerichtes auf und verwies die Streitsache zur neuerlichen Verhandlung an das Berufungsgericht zurück.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
Im Vordergrund steht die Mängelrüge des Revisionswerbers wegen Unterlassung der Zeugenvernehmung Dris. R. Sch. In diesem Zusammenhang hatte das Erstgericht ausgeführt, es sei aus den von der Haftpflichtversicherung der Beklagten eingeholten vertrauensärztlichen Gutachten Dris. Sch., die im Sinne der Klagsbehauptungen lauten, für den Kläger nichts zu gewinnen, weil sich diese Gutachten lediglich auf die Angaben des Klägers stützen; daher habe sich die Vernehmung dieses Begutachters erübrigt. Die in diesem Zusammenhang erhobene Mängelrüge der Berufung hat die Berufungsinstanz als unbegrundet erachtet, weil der Kläger als beweisführende Partei schon bei Stellung des Beweisantrages kein taugliches Beweisthema habe angeben können. Zutreffend wendet sich der Revisionswerber gegen diese Erledigung des Berufungsgerichtes. Die klagende Partei hatte ja vor dem Erstgericht die Vernehmung des sachverständigen Zeugen Dr. Sch. - Dr. Sch. ist Oberarzt im Arbeitsunfallkrankenhaus Meidling und Facharzt für Unfallchirurgie - zum Nachweis dafür beantragt, daß "die festgestellten krankhaften Veränderungen der linken Schulter des Klägers unfallskausal seien", und dazu vorgebracht, daß der genannte Arzt den Kläger im Auftrage des Haftpflichtversicherers der beklagten Parteien untersucht habe und in seinem Gutachten vom 5. Dezember 1961 zu jener Schlußfolgerung gekommen sei, die den Prozeßbehauptungen des Klägers entspreche. Bei dieser Aktenlage widerspricht die oben dargestellte Erledigung der Berufungsinstanz zur Mängelrüge der Berufung der Prozeßordnung; denn das von der klagenden Partei vor dem Erstgericht angegebene Beweisthema hält sich durchaus im Rahmen der in § 350 ZPO. getroffenen Regelung.
Bereits unter diesem Gesichtspunkt muß mit der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Rückverweisung der Streitsache laut Spruch vorgegangen werden; dem Ermessen der Berufungsinstanz bleibt vorbehalten, die Berufungsverhandlung zu ergänzen.
Zum übrigen Vorbringen der Parteien in dritter Instanz kann derzeit nicht Stellung genommen werden, weil die Beurteilung der Schadenersatzansprüche endgültige Feststellungen zur Voraussetzung hat und derartige Feststellungen im Sinne der obigen Ausführungen noch nicht vorliegen. Zur Vermeidung von Weiterungen im künftigen Verfahren ist nur noch zu bemerken, daß eine Bindung des Streitrichters an einen Bescheid eines Sozialversicherungsträgers im Sinne der Ausführungen des Revisionswerbers nicht besteht; diesbezüglich liegt offensichtlich ein Mißverständnis des Revisionswerbers vor; denn selbst während der Geltung der Reichsversicherungsordnung (vgl. §§ 901 und 1543 RVO.) war das Gericht an die in einem Verfahren nach der RVO. ergangene Entscheidung nur in den Vorfragen, ob ein entschädigungspflichtiger Unfall vorliege und in welchem Umfang sowie von welchem Versicherungsträger die Entschädigung zu gewähren sei, gebunden; abgesehen davon, hat eine Regelung über die sogenannte gebundene Beweiswürdigung im Sinne des § 268 ZPO. in diesen Belangen nicht bestanden.
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