OGH 6Ob90/63

OGH6Ob90/6327.3.1963

SZ 36/51

Normen

Jugendgerichtsgesetz 1961 §22 (1) Z2 lita
JWG §29
JWG §31 (1)
Jugendgerichtsgesetz 1961 §22 (1) Z2 lita
JWG §29
JWG §31 (1)

 

Spruch:

Vor Anordnung der vorläufigen Fürsorgeerziehung wird i. S. des § 31

(1) JWG. regelmäßig eine eigene Ermittlungstätigkeit des Gerichtes nicht erforderlich sein.

Entscheidung vom 27. März 1963, 6 Ob 90/63.

I. Instanz: Jugendgerichtshof Wien; II. Instanz: Jugendgerichtshof Wien.

Text

Das Bezirksjugendamt Landstraße stellte unter Zustimmung des Amtes der Wiener Landesregierung als Fürsorgeerziehungsbehörde hinsichtlich der am 15. November 1947 geborenen mj. Gertrud K. den Antrag,

1. auf Übernahme des Vormundschaftsaktes GZ. ... des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien durch den Jugendgerichtshof Wien gemäß § 22 (1) Z. 2 lit. a JGG. 1961,

2. auf Anordnung der vorläufigen Fürsorgeerziehung wegen Gefahr im Verzug gemäß § 31 JWG.,

3. auf Anordnung der Fürsorgeerziehung gemäß § 29 JWG.

Das Erstgericht, d. i. der Jugendgerichtshof Wien, das in der Folge die Einbeziehung des P-Aktes des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien zur Weiterführung im Akte GZ. P ... des Jugendgerichtshofes Wien gemäß § 22 JGG. 1961 anordnete, erließ folgenden Beschluß:

"In der Vormundschaftssache mj. Gertrud K., geboren am 15. November 1947, wird über die genannte Minderjährige gemäß § 29 JWG. die Fürsorgeerziehung angeordnet, welche gemäß § 31 (1) JWG. bis zur Rechtskraft dieses Beschlusses als vorläufige Fürsorgeerziehung zu gelten hat."

Über Rekurs der ehelichen Mutter und Vormunderin und des Mitvormundes hob das Rekursgericht den erstgerichtlichen Beschluß auf und trug dem Erstgerichte die Ergänzung des Verfahrens und neuerliche Entscheidung auf. Das Erstgericht stütze seine Feststellungen ausschließlich auf die Erhebungen der antragstellenden Behörde und die vorliegenden Befunde und Gutachten des psychologischen Dienstes der Magistratsabteilung 11. Die Richtigkeit dieser Erhebungsergebnisse werde aber von der Mutter (Vormunderin) sowie dem Mitvormund bestritten. Die Frage, welchen Erfolg die Fürsorgeerziehung in einem geschlossenen Heim für die Minderjährige zeitigen könne, sei nicht weiter überprüft worden. Die Minderjährige sei weder von einem Gerichtsarzt noch von einem seitens des Gerichtes bestellten Psychologen begutachtet worden. Inzwischen habe überdies die Minderjährige - wie aus einem Nachtragsbericht der Mutter und des Mitvormundes hervorgehe - einen Selbstmordversuch durch Öffnen der Pulsadern unternommen. Nach den in diesem Zusammenhang aufgestellten Behauptungen habe sich die Minderjährige in einem völlig erschöpften, unterernährten und körperlich herabgekommenen Zustand befunden. Schon in dem Befund und Gutachten vom 9. November 1962 werde unter anderem erwähnt, daß derzeit noch nicht festgestellt werden könne, ob bei der Minderjährigen ein Nacherziehungserfolg, etwa durch eine Heimunterbringung, zu erwarten sei. Bedenken in dieser Richtung seien auf Grund der von Mutter und Mitvormund behaupteten Vorfälle nur noch verstärkt worden. Außerdem hätten Mutter und Mitvormund im Rekursverfahren behauptet, daß bei der Minderjährigen, welche nunmehr die Ernsthaftigkeit ihrer Verfehlungen und die damit verbundenen Folgen einsehe, eine derartige innere Wandlung eingetreten sei, daß sie nach Überzeugung aller, die mit ihr persönlichen Kontakt haben, als von ihrer Fehlhaltung geheilt betrachtet werden könne. Die Untersuchung der Minderjährigen durch einen vom Gericht zu bestellenden Jugendpsychiater sei geboten. Falls eine Heimerziehung im Rahmen einer Fürsorgeerziehung vom Jugendpsychiater nicht befürwortet werden sollte, werde überprüft werden müssen, ob die Minderjährige im Familienverband belassen werden könne oder ob eine anderweitige Unterbringung bei gleichzeitig gesicherter behördlicher Kontrolle ihrer Lebenshaltung vorzuziehen sei.

Der Oberste Gerichtshof gab dem Rekurs des Amtes der Wiener Landesregierung teilweise Folge und änderte die untergerichtlichen Beschlüsse dahin ab, daß gemäß § 31 (1) JWG. die vorläufige Fürsorgeerziehung angeordnet, über deren Umwandlung in die (endgültige) Fürsorgeerziehung (29 JWG.) oder die Aufhebung der vorläufigen Fürsorgeerziehung aber erst nach Verfahrensergänzung zu entscheiden sein werde.

Rechtliche Beurteilung

Aus der Begründung:

Der Antrag auf Einleitung der Fürsorgeerziehung zielt zwar in seinem Endergebnis auf die Anordnung der (endgültigen) Fürsorgeerziehung gemäß § 29 JWG. ab, doch wurde ausdrücklich beantragt, zunächst wegen Gefahr im Verzug die vorläufige Fürsorgeerziehung anzuordnen. Die vorläufige Fürsorgeerziehung aber ist eine provisorische Maßnahme nach der Art einer einstweiligen Verfügung (SZ. XXXIII 110 u. v. a.), die im Interesse des Kindes möglichst rasch zur Anwendung zu kommen hat, wobei gemäß § 31 (1) JWG. die Glaubhaftmachung der Voraussetzungen der Fürsorgeerziehung genügt (vgl. auch Ourednik, "Das Wiener Jugendwohlfahrtsrecht", S. 127). Vor Anordnung der vorläufigen Fürsorgeerziehung wird daher regelmäßig eine eigene Ermittlungstätigkeit des Gerichtes nicht erforderlich sein. Das Gericht kann sich vielmehr auf das von der Antragsbehörde vorgelegte Material stützen (Anm. 2 zu § 31 (1) JWG. in der Manzschen Ausgabe des Verfahrens außer Streitsachen von Fetter - Edlbacher 1956, 6 Ob 332/62), das im vorliegenden Fall zu einer Glaubhaftmachung (§ 274 ZPO.) der Voraussetzungen der Fürsorgeerziehung jedenfalls ausreicht. Die vom Rekursgericht vermißten weiteren Erhebungen sind nur bei Prüfung der Frage, ob die vorläufige Fürsorgeerziehung in die Fürsorgeerziehung umzuwandeln oder aber aufzuheben sei, von Bedeutung. Für die Anordnung der vorläufigen Fürsorgeerziehung bedarf es keiner Verfahrensergänzung. Aus dem von der Behörde vorgelegten Material - das, soweit es bis zur Beschlußfassung des Erstgerichtes bereits bestanden hat, zu berücksichtigen war (§ 10 AußStrG., SZ. XXXIII 110) - zeichnet sich ein Verhalten der Minderjährigen ab, das eine weitgehende sittliche Verwahrlosung der Minderjährigen - die unbestritten bereits mehrmals auf mehrere Tage von zu Hause ausriß, abgängig war, sich herumtrieb und dann von der Polizei aufgegriffen wurde - glaubhaft macht und deren sofortige Entfernung aus ihrer bisherigen Umgebung wegen unzulänglicher Erziehung erforderlich erscheinen läßt, um zu verhindern, daß sich die bescheinigten sittlichen Defekte noch mehr verschärfen. Die Sache ist demnach in Ansehung der Entscheidung über die beantragte Anordnung der vorläufigen Fürsorgeerziehung spruchreif. Daher konnte der Oberste Gerichtshof darüber auch sofort meritorisch entscheiden, obwohl nur ein Aufhebungsbeschluß vorliegt (SZ. XXV 51) und im Sinne der Anordnung der vorläufigen Fürsorgeerziehung vorgehen, die je nach den Ergebnissen des bereits eingeleiteten und noch ergänzungsbedürftigen Verfahrens über die beantragte endgültige Fürsorgeerziehung in die Fürsorgeerziehung (§ 29 JWG.) umzuwandeln oder aber aufzuheben sein wird. Denn davon, daß es zur Frage, ob die endgültige Fürsorgeerziehung gerechtfertigt ist, keiner weiteren Verfahrensergänzung bedürfe, kann keine Rede sein. In diesem Zusammenhang sind die vom Rekursgericht vermißten weiteren Erhebungen nicht entbehrlich. Das Gericht hat die Richtigkeit des Vorbringens des Amtes der Landesregierung zur Begründung eines Antrages auf (endgültige) Fürsorgeerziehung und das dabei vorgelegte Material zu prüfen (SZ. XXXIII 110). Voraussetzung der Anordnung der Fürsorgeerziehung sind a) Vorhandensein einer Verwahrlosung, b) Vorliegen der Aussicht auf Erfolg. Nach den bisherigen Verfahrensergebnissen ist das Vorhandensein einer Verwahrlosung bescheinigt, aber noch nicht Klarheit darüber geschaffen, ob die Mittel der Fürsorgeerziehung ausreichen werden, den angestrebten Erfolg zu bringen, was zwar für die Anordnung der vorläufigen Fürsorgeerziehung (§ 31 (1) JWG.) genügt (Ourednik a. a. O., S. 127), nicht aber für die Anordnung der Fürsorgeerziehung (§ 29 JWG.).

Erst wenn eine Verfahrensergänzung in der vom Rekursgericht aufgezeigten Richtung vorgenommen ist und das Erstgericht dabei im einzelnen auch ein Bild von den Erfolgsaussichten der beantragten Maßnahme gewonnen hat (Ourednik a. a. O., S. 123, SZ. XXXIII 110), wird unter dem Gesichtspunkt des § 29 JWG. abschließend abgesprochen werden können.

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