OGH 2Ob443/58

OGH2Ob443/584.2.1959

SZ 32/15

Normen

ABGB §1304
Allgemeines Sozialversicherungsgesetz §175
Allgemeines Sozialversicherungsgesetz §333
ABGB §1304
Allgemeines Sozialversicherungsgesetz §175
Allgemeines Sozialversicherungsgesetz §333

 

Spruch:

Zum Begriff des "Arbeitsunfalls"; Unterschied zwischen "Heimweg" und "Betriebsweg". - Mitverschulden eines Mitfahrers, der auf der Fahrt mit einem alkoholisierten Lenker selbst einen Unfallschaden erlitten hat.

Entscheidung vom 4. Februar 1959, 2 Ob 443/58.

I. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz; II. Instanz:

Oberlandesgericht Graz.

Text

Der Erstbeklagte, Gesellschafter einer Viehhandelsgesellschaft, war am 18. September 1956 Dienstgeber sowohl des Klägers (eines Hilfsarbeiters) als auch des Zweitbeklagten (eines Kraftfahrers); er war ferner der Halter jenes PKWs., den der Zweitbeklagte am genannten Tag lenkte, wobei er einen Verkehrsunfall verschuldete. Der Kläger, der damals im PKW. mitfuhr, trug schwere Verletzungen davon. Der Zweitbeklagte wurde wegen dieses Unfalls vom Strafgericht zu einer längeren Freiheitsstrafe rechtskräftig verurteilt (§§ 335, 337 lit. b StG.).

Der Zweitbeklagte hatte vom Erstbeklagten den Auftrag erhalten, einen Mitgesellschafter des Erstbeklagten, der sich geschäftlich nach Italien begeben mußte, mit dem PKW. von H. zum Bahnhof in B. zu bringen und sogleich wieder nach H. zurückzukehren. Der Kläger hatte ihn, gleichfalls im Auftrag des Erstbeklagten, zu begleiten, vor allem deshalb, um den übermüdeten Zweitbeklagten auf der Rückfahrt wachzuhalten. Die Fahrt bis B. ging programmgemäß vonstatten. Der PKW traf dort gegen Mitternacht ein. Auf der sofort angetretenen Rückfahrt übermannte den Zweitbeklagten der Schlaf. Er hielt den PKW. an, schlief einige Zeit im Auto und setzte hierauf die Rückfahrt fort. In deren Verlauf hielten sich der Zweitbeklagte und der Kläger etwa eine 3/4 Stunde lang in einem Kaffeehaus auf, um Mokka oder Tee zu trinken, und fuhren dann, als es schon hell geworden war, weiter. Dann hielt der Zweitbeklagte wiederum an und kehrte in einem Gasthaus ein; dort trank er mit dem Kläger Bier, vermutlich jeder von ihnen zwei volle Flaschen. Nachher fuhren sie weiter und kehrten abermals in zwei Gasthäusern ein, wo sie gespritzten Wein konsumierten. Alle drei Gasthausbesuche fanden etwa in der Zeit zwischen 6 Uhr und 8 Uhr 45 statt und hatten eine Alkoholisierung sowohl des Zweitbeklagten (Blutalkoholbefund nach dem Unfall 1.60/00 als auch des Klägers zur Folge. Auf der Weiterfahrt vom letzten Gasthaus kam es zum Unfall.

Der Unfall des Klägers wurde von der Allgemeinen Unfallversicherangsanstalt als Arbeitsunfall anerkannt. Der Kläger wurde vom Sozialversicherungsträger während seiner Erkrankung versorgt und erhält eine laufende Versehrtenrente.

Jetzt stellt der Kläger gegen beide Beklagten (als Halter und Lenker) Ersatzansprüche.

Die Beklagten beriefen sich vor allem auf den Haftungsausschluß des § 333 ASVG., der für den Erstbeklagten als Dienstgeber und für den Zweitbeklagten als Aufseher im Betrieb streite, ferner darauf, daß den Kläger ein mindestens 50%iges Mitverschulden treffe.

Das Erstgericht erkannte mit Zwischenurteil, daß der Klageanspruch dem Erstbeklagten gegenüber nicht zu Recht bestehe, daß hingegen der Klageanspruch dem Zweitbeklagten gegenüber mit 4/5 zu Recht und nur mit 1/5 nicht zu Recht bestehe. Es qualifizierte den Unfall des Klägers als einen Arbeitsunfall, erlitten auf der vom Erstbeklagten angeordneten Dienstfahrt von H. nach B. und zurück. Der Erstbeklagte (Dienstgeber) hafte dem Kläger (Dienstnehmer) nicht, weil er den Unfall nicht vorsätzlich verursacht habe (§ 333 Abs. 1 ASVG.). Hingegen komme der Haftungsausschluß nicht auch dem Zweitbeklagten zugute, weil diesem als Kraftfahrer ohne Aufsichtsbefugnis nicht die Rechtsstellung eines Aufsehers im Betrieb (§ 333 Abs. 4 Z. 1 ASVG.) eingeräumt werden könne. Der Zweitbeklagte sei daher dem Kläger grundsätzlich ersatzpflichtig. Der Kläger habe jedoch ein 2O%iges Mitverschulden auf sich zu nehmen, da er in Kenntnis der Alkoholisierung des Zweitbeklagten die Fahrt fortgesetzt habe.

Das Berufungsgericht verneinte bei beiden Beklagten das Vorliegen der Voraussetzungen für einen Haftungsausschluß nach § 333 ASVG., und zwar vor allem deshalb, weil es den Unfall des Klägers nicht als einen Arbeitsunfall wertete, dem Zweitbeklagten gegenüber auch deshalb, weil er nicht als Aufseher im Betrieb angesprochen werden könne. So gelangte es einerseits zur grundsätzlichen Bejahung des Klageanspruchs beiden Beklagten gegenüber, andererseits erhöhte es aber die Mitverschuldensquote des Klägers auf 33 1/3%. Sein abänderndes Urteil sprach aus, daß der Klageanspruch dem Grund nach beiden Beklagten gegenüber mit 2/3 zu Recht, mit 1/3 jedoch nicht zu Recht bestehe.

Der Oberste Gerichtshof gab der Revision des Erstbeklagten dahin Folge, daß es das gegen ihn gerichtete Klagebegehren abwies. Der Revision des Zweitbeklagten gab er nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Aus den Entscheidungsgründen:

I. Zur Revision des Erstbeklagten:

Der Revisionswerber nimmt bloß dagegen Stellung, daß ihm das Berufungsgericht den Haftungsausschluß nach § 333 Abs. 1 ASVG. verweigerte, und ist im Recht.

Ausgehend von der Entscheidung JBl. 1958 S. 152, die daraus, daß die Regelung der §§ 901 f. RVO. in das ASVG. nicht übernommen worden ist, den Schluß gezogen hatte, daß ein Bescheid des Sozialversicherungsträgers das über Schadenersatz und Haftung (§§ 332 ff. ASVG.) erkennende Gericht nicht daran zu hindern vermag, die Frage, ob ein entschädigungspflichtiger Unfall vorliege oder nicht, selbständig zu lösen, und unter Hinweis auf eine in der gleichen Richtung geäußerte Bemerkung Fenzls (Die schadenersatzrechtlichen Bestimmungen des ASVG., ÖJZ. 1955 S. 633), erachtete sich das Berufungsgericht an die Anerkennung des Unfalls des Klägers als eines Arbeitsunfalls durch die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt - die sich vor allem darin dokumentiert, daß dieser Sozialversicherungsträger dem Kläger eine fortlaufende "Versehrtenrente", mithin eine spezifische Leistung aus der Unfallversicherung (vgl. § 203 ASVG.) zuerkannt hat - nicht für gebunden, sondern für befugt, den Unfall auf seine Qualifikation als Arbeitsunfall selbständig zu prüfen. Sodann untersuchte es den Ablauf der Unfallsfahrt und kam zu der Auffassung, daß der Zweitbeklagte dem ausdrücklichen Befehl des Erstbeklagten, sofort nach H. zurückzufahren, zuwidergehandelt und durch die längeren Gasthausbesuche (in der Zeit zwischen 6 Uhr und 8 Uhr 45) den Zusammenhang mit den betrieblichen Interessen des Erstbeklagten unterbrochen habe. Der verspätete Antritt des Heimwegs könne die einmal unterbrochene Beziehung zum Unternehmen des Erstbeklagten nicht wiederherstellen, der Unfall auf diesem Weg daher nicht als Arbeitsunfall gewertet werden.

Der Bezugnahme des Berufungsgerichtes auf die erwähnte Entscheidung des OGH. ist grundsätzlich zuzustimmen, in diesem Zusammenhang aber doch hervorzukehren, daß der damals entschiedene Fall zu dem jetzt zur Entscheidung stehenden Fall in diametralem Gegensatz steht:

Damals hatte der Sozialversicherungsträger die Qualifizierung eines bestimmten Unfalls als eines Arbeitsunfalls abgelehnt, im vorliegenden Fall hat er die gegenteilige Stellung bezogen, d. h. den Unfall des Klägers als Arbeitsunfall anerkannt. Streng logisch gedacht, vermag dieser Umstand auf die Beantwortung der Frage nach der Bindung des Gerichts an den Bescheid des Sozialversicherungsträgers keinen Einfluß zu nehmen. Praktisch gesehen fällt aber der Unterschied insofern erheblich in die Waagschale, als er einen Teil der vom OGH. in der zitierten Entscheidung angestellten Erwägungen aus den Angeln hebt, und zwar jene Erwägung, daß der Dienstgeber, im Verfahren vor dem Sozialversicherungsträger nicht Partei, wehrlos bleibt, wenn es der Dienstnehmer unterläßt, beim Schiedsgericht der Sozialversicherung dagegen zu demonstrieren, daß der Sozialversicherungsträger ungerechtfertigterweise die Qualifikation des erlittenen Unfalles als eines Arbeitsunfalls abgelehnt hat. Im praktischen Ergebnis ist es also nicht ganz dasselbe, ob der Sozialversicherungsträger den Unfall als Arbeitsunfall qualifiziert oder ob er das Gegenteil ausspricht. Entscheidet er - wie im vorliegenden Fall - positiv, so hat er nach seinem eigenen Ermessen eine Last auf sich genommen, die dem versicherten Dienstnehmer Vorteile verschafft und auch dem Dienstgeber zustatten kommt, weil dessen Haftung für die Unfallsfolgen durch die §§ 333 f. ASVG. wesentlich eingeschränkt wird. Gewiß vermögen diese Überlegungen das Ergebnis der zitierten Entscheidung nicht zu verändern, weil die Frage nach der Bindung oder Nichtbindung des Gerichts an den Bescheid des Sozialversicherungsträgers nicht auf den Inhalt des Bescheides abgestellt werden kann; sie berechtigen aber zu der Annahme, daß eine positive Entscheidung des Sozialversicherungsträgers, die den Arbeitsunfall anerkennt, ein nicht zu übersehendes, in Zweifelsfällen vielleicht sogar ausschlaggebendes Indiz ist.

Ganz ohne Rücksicht auf die eben angestellten Überlegungen kann jedoch dem Berufungsgericht schon aus Erwägungen rein sozialversicherungsrechtlicher Natur nicht gefolgt werden. Die Unrichtigkeit seiner Ansicht zeigt sich nämlich darin, daß das Berufungsgericht die Rückfahrt von B. nach H. als einen Heimweg charakterisierte und damit, ohne allerdings die Gesetzesstelle zu nennen, auf die Bestimmung des § 175 Abs. 2 Z. 1 ASVG. abstellte Das trifft jedoch nach den von ihm übernommenen Feststellungen des Erstgerichts nicht zu; denn der vom Dienstgeber erteilte Auftrag erfaßte die Fahrt von H. nach B. und wieder zurück nach H. Es war daher die ganze Fahrt - hin und zurück - als Betriebsweg (Betriebsreise) dem § 175 Abs. 1 ASVG. zu unterstellen. In diesem Fall vermag aber auch eine länger andauernde Unterbrechung - zumal eine solche, mit der nach den Erfahrungen des täglichen Lebens gerechnet werden muß, wie mit einem Gasthausbesuch nach mehrstundiger Fahrt - den betrieblichen Zusammenhang mit dem Rest des Weges nicht zu lösen (vgl. die im Leistungsstreitverfahren der Sozialversicherung erflossene Entscheidung JBl. 1958 S. 50). Der Kläger und der Zweitbeklagte entfalteten also auch auf der Rückfahrt von B. nach H. eine versicherungspflichtige und versicherungsgeschützte Tätigkeit; der Unfall des Klägers war daher ein Arbeitsunfall im Sinne des § 175 Abs. 1 ASVG. Damit scheidet eine Ersatzpflicht des Erstbeklagten - von dem niemals behauptet wurde, daß er den Unfall vorsätzlich herbeigeführt habe - aus (§ 333 Abs. 1 ASVG.). Aus diesen Erwägungen war der Revision des Erstbeklagten stattzugeben und der gegen ihn erhobene Anspruch abzuweisen.

II. Zur Revision des Zweitbeklagten:

Der Zweitbeklagte hält die vor den Untergerichten vertretene Auffassung, daß ihm der Haftungsausschluß des § 333 Abs. 4 Z. 1 ASVG. zustatten komme, im Revisionsverfahren nicht mehr aufrecht. Sein Bestreben geht einzig und allein dahin, die ihm angelastete Verschuldensquote zu reduzieren; er will den Unfall nur zur Hälfte verschuldet haben. Darin kann ihm allerdings nicht gefolgt werden.

Wohl ist es richtig, daß der Kläger ein Mitverschulden auf sich geladen hat, weil er sich trotz Kenntnis der durch Alkoholisierung hervorgerufenen Fahruntüchtigkeit des Zweitbeklagten diesem auf der Weiterfahrt anvertraut hat (vgl. JBl. 1957 S. 292 und JBl. 1955 S. 277). Den Kläger vermag es auch zumindest nicht zu entlasten, daß er als ein dem Zweitbeklagten zur Verhütung von Unfällen beigestellter Mitfahrer statt auf die Fahrtüchtigkeit des Lenkers zu achten, mit dem Zweitbeklagten gemeinsame Sache machte und gemeinsam trank. Trotzdem muß in Betracht gezogen werden, daß es sich um eine "Dienstfahrt" handelte, daß es daher dem Kläger keineswegs leicht fiel, darüber frei zu entscheiden, ob er die Rückfahrt nach H. mitmachen wolle oder nicht, daß ihm auch kein entscheidender Einfluß auf den Zweitbeklagten zustand und daß es in erster Linie der Zweitbeklagte war, der für die Erhaltung seiner Fahrtüchtigkeit zu sorgen hatte. Nach Abwägung aller dieser Umstände muß gesagt werden, daß zwar ein Mitverschulden des Klägers vorliegt, daß aber das Verschulden des Zweitbeklagten überwiegt. Das Revisionsgericht billigt daher auch die vom Berufungsgericht angenommene Verschuldensteilung im Verhältnis von 1 : 2 zu Lasten des Zweitbeklagten.

Der Revision des Zweitbeklagten konnte daher nicht Folge gegeben werden.

Daraus ergibt sich, daß in Ansehung des gegen den Erstbeklagten erhobenen Anspruchs das Erstgericht die richtige Entscheidung getroffen hat, in Ansehung des gegen den Zweitbeklagten erhobenen Anspruchs jedoch das Berufungsgericht.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte