OGH 2Ob385/58

OGH2Ob385/5831.10.1958

SZ 31/129

Normen

ABGB §§1295 ff
Eisenbahn- und Kraftfahrzeug-Haftpflichtgesetz §1
Reichshaftpflichtgesetz §1
ABGB §§1295 ff
Eisenbahn- und Kraftfahrzeug-Haftpflichtgesetz §1
Reichshaftpflichtgesetz §1

 

Spruch:

Haftung der Eisenbahn für Unterlassung der Schneesäuberung in einer Haltestelle ohne Fahrkartenausgabe.

Entscheidung vom 31. Oktober 1958, 2 Ob 385/58.

I. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz; II. Instanz:

Oberlandesgericht Graz.

Text

Am 7. Februar 1956 um zirka 5 Uhr früh wollte die Klägerin mit dem fahrplanmäßigen Personenzug von K. nach L. fahren. Sie wurde von dem einfahrenden Zug überfahren und schwer verletzt (Abtrennung des rechten Oberschenkels). Sie begehrte mit der Behauptung, das Alleinverschulden treffe die beklagte Republik Österreich (österr. Bundesbahnen), weil die Gleisanlagen infolge hoher Schneelage nicht erkennbar gewesen seien, die Bahnhaltestelle mangelhaft beleuchtet gewesen sei und das sogenannte Zugspitzensignal (zwei weiße Lampen an der Spitze des Zuges) überhaupt nicht gebrannt habe, Schadenersatz unter Berufung auf die allgemeinen Bestimmungen der §§ 1293 ff. ABGB. und auf das Reichshaftpflichtgesetz.

Das Erstgericht wies die Klage nach Beschränkung des Verfahrens auf den Grund des Anspruches ab, im wesentlichen auf Grund folgender Feststellungen und Erwägungen:

Es habe eine durchschnittliche Schneehöhe von zirka 20 cm Neuschnee bestanden, davon 5 bis 10 cm auf dem Gleis, wobei die Gleiserhebungen noch immer erkannt werden konnten. Die beklagte Partei sei zur Unfallszeit jedoch zur Wegschaffung der Schneemenge auf dem Zugang vom Haltestellenraum bis zum Hauptgleis und noch längs desselben in einer Zuglänge nicht verpflichtet gewesen, weil zu dieser Zeit der Betrieb auf der Haltestelle K. stillgelegt gewesen sei und laut Vorschrift während der Zeit der Stillegung bei größeren Schneefällen nur die Gleise zwecks Zugsförderung, nicht aber auch der Zugang für die Reisenden vom Haltestellerraum bis zum Hauptgleis und neben diesem vom Schnee freizumachen sei.

Die zur Unfallszeit knapp oberhalb der Eingangstür zum Haltestellenraum befindliche 100-Watt-Lampe habe bis zur Mitte der Strecke zwischen dem vom Haltestellenraum etwa 5.40 m entfernten Verladegleis und dem vom Haltestellenraum 12 m entfernten Hauptgleis geleuchtet. Diese Beleuchtung habe jedoch hauptsächlich dazu gedient, den Haltestellennamen und die nächste Umgebung der knapp beim Haltestellenraum gelegenen Wechsel anzuleuchten. Eine von der beklagten Partei zu verantwortende mangelhafte Beleuchtung könne nicht als erwiesen festgestellt werden. Das Zugspitzensignal habe bei Einfahrt des Zuges in die Haltestelle gebrannt. Die von der Klägerin behaupteten Unfallsursachen seien daher nicht erwiesen, wohl aber das Alleinverschulden der Klägerin, weil sie bei starkem Schneetreiben gegen den Bahnkörper ging, ohne die von den Reisenden zu beobachtende Sorgfalt anzuwenden.

Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil.

Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der klagenden Partei Folge und änderte das angefochtene Urteil dahin ab, daß mit Zwischenurteil der Anspruch der Klägerin dem Gründe nach als zur Hälfte zu Recht und zur Hälfte als nicht zu Recht bestehend erkannt wurde.

Rechtliche Beurteilung

Aus den Entscheidungsgründen:

In rechtlicher Beziehung ist das Revisionsgericht abweichend von den Vorinstanzen der Meinung, daß der Anspruch der Klägerin bereits unter dem Gesichtspunkte des Beförderungsvertrages teilweise zu bejahen ist. Daß die Klägerin diesen Gesichtspunkt nicht geltend gemacht hat, verschlägt nichts. Denn einerseits ist der Kläger überhaupt nicht verpflichtet, den zur Entscheidung vorgelegten Sachverhalt rechtlich zu qualifizieren, andererseits ist das Gericht an die rechtliche Subsumtion eines Sachverhaltes durch die Parteien nicht gebunden, und es besteht kein Hindernis, daß es den Sachverhalt in anderer als der vom Kläger angegebenen Weise würdigt, es sei denn, dieser hätte sich geradezu auf einen bestimmten Rechtsgrund unter Ausschluß eines jeden anderen festgelegt (3 Ob 656/54, 1 Ob 143/54, SZ. XXI 119, 2 Ob 1007/52).

Was zunächst die Frage anlangt, ob zwischen den Streitteilen überhaupt ein Beförderungsvertrag abgeschlossen wurde - die vertragliche Haftpflicht des Eisenbahnbetriebsunternehmers beginnt erst mit dem Abschluß des Beförderungsvertrages mit dem Reisenden - so wird zwar grundsätzlich daran festzuhalten sein, daß Voraussetzung für das Zustandekommen eines Beförderungsvertrages der Ankauf einer Fahrkarte durch den Reisenden ist (vgl. Böhmer, RHG., S. 167 Anm. 12 zu § 9). Die damit nicht völlig übereinstimmende Ansicht Frieses (RHG., S. 249), wonach der Beförderungsvertrag als solcher erst in dem Zeitpunkte zustandekommt, in dem der mit einem gültigen Ausweis versehene Reisende durch Passieren der Bahnsteigsperre den Willen zum Ausdruck bringt, den Zug zu benützen, also die Reise "antritt", steht dem nicht entgegen. Daß bei der Straßenbahn in der Regel der Vertrag mit dem Fahrgast schon zustandekommt, wenn er in der Haltestelle den Wagen besteigt (2 Ob 481/52, 2 Ob 7/54), kann hier außer Betracht bleiben.

Im vorliegenden Falle war der Fahrkartenschalter in der Haltestelle K. lediglich aus betriebswirtschaftlichen Gründen geschlossen. Trotzdem war den Reisenden das Aus- und Einsteigen bei den zu diesem Zweck haltenden Zügen gestattet.

Die Vorinstanzen haben festgestellt, daß die Klägerin die Absicht hatte, in K. den fahrplanmäßigen Personenzug zu besteigen. Die beklagte Partei hat überdies nie behauptet, daß sich die Klägerin etwa in anderer Absicht als in der, den Zug zu benützen, auf dem Bahngelände aufgehalten hätte. Bei dieser Sachlage muß angenommen werden, daß der Beförderungsvertrag spätestens in dem Zeitpunkte perfekt war, in dem die Klägerin beim Herannahen des Zuges den Haltestellenraum verließ, um einzusteigen.

Mit dem Abschluß des Beförderungsvertrages, der sich rechtlich als Werkvertrag im Sinne der §§ 1165 ff. ABGB. darstellt (vgl. Biermann, RHG., 2. Aufl. S. 254), hat aber die beklagte Partei nicht nur die Verpflichtung übernommen, die Klägerin unbeschädigt an das Ziel ihrer Reise zu führen. Vielmehr ergab sich daraus auch die Nebenverpflichtung des Eisenbahnbetriebsunternehmers, für die Verkehrssicherheit der Zugänge zu den Zügen zu sorgen (vgl. Böhmer a. a. O. Anm. 9 zu § 9).

Das Erstgericht hat in bezug auf die Schneelage festgestellt, daß zur Unfallszeit starkes Schneetreiben herrschte und daß durchschnittlich 20 cm Neuschnee, davon 5 - 10 cm auf dem Gleise, lagen. Das Berufungsgericht hat zwar die Frage, ob das Hauptgleis infolge des Neuschneefalles noch zu erkennen war oder nicht, für rechtlich irrelevant gehalten, gleichwohl aber angenommen, daß dieses Gleis für die Klägerin nicht erkennbar war. Es hat ferner die Feststellung des Erstgerichtes übernommen, daß die oberhalb der Eingangstür zum Haltestellenraum angebrachte Lampe das Hauptgleis, auf dem der Zug, der in der Folge die Klägerin erfaßte, einfuhr, nicht mehr beleuchtete.

Es bedarf keiner weiteren Begründung, daß der Eisenbahnbetriebsunternehmer, der einen gefährlichen Betrieb unterhält, verpflichtet ist, nach Möglichkeit alle Maßnahmen zu treffen, um erkennbare und vorhersehbare Gefahren abzuwenden. Sowohl die ausreichende Beleuchtung wie die Säuberung der Betriebsanlagen vom Schnee fällt in den Rahmen dieser Verpflichtung. Insbesondere in die Richtung der Verpflichtung zur Schneesäuberung weisen unter anderen die Bestimmungen der Verkehrsvorschrift V 3 Ausgabe A (für Fahrdienstleiter). So ist nach Punkt 902 dieser Vorschrift dafür zu sorgen, daß Arbeitskräfte für die Schneesäuberung sichergestellt sind, und im Punkt 904 wird verfügt, daß mit der Schneebeseitigung nicht erst einzusetzen ist, wenn der Schnee bereits eine bestimmte Höhe erreicht hat, sondern unmittelbar nach Beginn des Schneefalles oder Schneetreibens.

An diesen Verpflichtungen kann aber nicht dadurch eine Änderung eintreten, daß die Bahn, und zwar ausschließlich aus betriebswirtschaftlichen Gründen, von der gesetzlich vorgesehenen Möglichkeit einer zeitweisen "kommerziellen Sperre" in der Weise Gebrauch macht, daß der Verkauf von Fahrtausweisen am Schalter vorübergehend eingestellt, den Reisenden aber gleichwohl die Benützung der Bahnanlagen und das Ein- und Aussteigen bei den Zügen gestattet wird. Der letzterwähnte Umstand läßt erkennen, daß es sich bei dieser vorübergehenden Sperre lediglich um eine betriebsinterne Maßnahme handelt, die jedoch die Bahn ihrer Verpflichtungen gegenüber den Reisenden keineswegs enthebt. Auf eine ausdrückliche Vorschrift, wonach die Bahn während der Dauer der "kommerziellen Sperre" einer Haltestelle zur Schneesäuberung auf dem von den Reisenden zu benützenden Bahngelände nicht verpflichtet sei, konnte sich die beklagte Partei nicht berufen. Interne Betriebsmaßnahmen können somit die Verpflichtung des Eisenbahnbetriebsunternehmers gegenüber den Reisenden nicht einengen.

Aus dem Umstand, daß es sich - wie erwähnt - bei der Verpflichtung der beklagten Partei, die Bahnanlagen, die von dem Reisenden benützt werden, in einem solchen Zustand zu erhalten, der die Verkehrssicherheit in weitestem Maße gewährleistet, um eine Nebenverpflichtung aus dem Beförderungsvertrag handelt, folgt, daß der Klägerin ein Schaden durch die Nichterfüllung einer rechtlichen Verbindlichkeit der beklagten Partei - und nicht anläßlich der Schulderfüllung - entstanden ist. Der beklagten Partei oblag daher gemäß § 1298 ABGB. der Beweis, daß sie an der Erfüllung ihrer vertraglichen Verbindlichkeit ohne ihr Verschulden verhindert worden sei. Ein derartiger Beweis wurde jedenfalls nach dem oben Gesagten nicht erbracht. Dabei kommt es nicht darauf an, welchem einzelnen Organ ein Verschulden zuzuschreiben ist, auch nicht darauf, ob entsprechende Anordnungen unterlassen wurden oder ihre Durchführung nicht kontrolliert wurde. Es genügt, daß die beklagte Partei ihren erwähnten Verpflichtungen nicht nachgekommen ist.

Allerdings erfährt diese Haftung insoweit eine Einschränkung, als der Klägerin ein Mitverschulden anzulasten ist (§ 1304 ABGB.). Hiezu haben die Untergerichte festgestellt, daß die Klägerin mit beschlagenen Augengläsern und mit wegen des Schneetreibens zu Boden gerichtetem Blick in Richtung gegen den Bahnkörper gegangen ist. Diese Feststellungen reichen aus, um eine erhebliche Unvorsichtigkeit der Klägerin, die zugegebenermaßen die Haltestelle K. vor dem Unfall nie benützt hatte und daher zu besonderer Aufmerksamkeit verpflichtet gewesen wäre, und damit ein Mitverschulden, das sie im übrigen in ihrer Revision gar nicht bestreitet, zu bejahen. Der Oberste Gerichtshof ist der Meinung, daß dieses Mitverschulden annähernd gleich schwer wiegt wie die Unterlassungen der beklagten Partei.

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