Normen
Allgemeines Sozialversicherungsgesetz §354
Allgemeines Sozialversicherungsgesetz §371
Reichsversicherungsordnung §901
Allgemeines Sozialversicherungsgesetz §354
Allgemeines Sozialversicherungsgesetz §371
Reichsversicherungsordnung §901
Spruch:
Nach dem ASVG. sind die Gerichte durch einen Bescheid des Versicherungsträgers nicht gebunden, sondern nur durch eine Entscheidung des Schiedsgerichtes.
Entscheidung vom 2. Oktober 1957, 2 Ob 339/57.
I. Instanz: Landesgericht Innsbruck; II. Instanz: Oberlandesgericht Innsbruck.
Text
Am 14. Mai 1955 wartete der Kläger, ein Gerber, im Sägewerk des Beklagten auf einen dort erwarteten Fachlehrer und wurde dabei, als er über Bitte des Beklagten diesem beim Zersägen eines Rundholzstückes dadurch half, daß er sich beim Niederdrücken des Holzes auf den es an die Säge heranführenden Zubringerwagen neben einem Arbeiter des Beklagten beteiligte, durch das Aufschnellen des Holzstückes von dem Zubringerwagen schwer verletzt. Die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Landesstelle S., lehnte mit Bescheid vom 10. April 1956 den vom Kläger erhobenen Anspruch auf Entschädigung ab, weil kein entschädigungspflichtiger Arbeitsunfall vorliege, der sich bei einer versicherten Tätigkeit im Sinne des § 537 Z. 1 - 10 RVO. ereignet hätte. Der Kläger ließ durch Unterlassung der fristgerechten Klage beim Schiedsgericht diesen Bescheid in Rechtskraft erwachsen.
Das Erstgericht wies die auf ein Verschulden des Beklagten gestützte Schadenersatzklage ab. In den Anwendung findenden Verfahrensbestimmungen des ASVG. sei keine Bestimmung enthalten, die wie § 901 RVO. das Gericht in der Frage, ob ein entschädigungspflichtiger Unfall vorliege, an die Entscheidung der sozialversicherungsrechtlichen Instanzen binde. Entgegen dem von der Unfallversicherungsanstalt eingenommenen Standpunkt liege gemäß § 537 Z. 10 RVO. ein entschädigungspflichtiger Unfall vor. Der Beklagte sei als Unternehmer gegenüber dem sonach versicherten Kläger mangels vorsätzlicher Herbeiführung des Unfalles gemäß § 898 RVO. zum Schadenersatz nicht verpflichtet.
Der Berufung des Klägers gab das Berufungsgericht Folge; es hob das erstgerichtliche Urteil unter Rechtskraftvorbehalt auf und trug dem Erstgericht Verfahrensergänzung auf. Der Bescheid der Unfallversicherungsanstalt sei als Entscheidung einer Verwaltungsbehörde anzusehen, das Gericht sei an ihn gebunden und müsse davon ausgehen, daß kein Arbeitsunfall vorliege.
Der Oberste Gerichtshof gab dem Rekurs des Beklagten gegen diesen Aufhebungsbeschluß des Berufungsgerichtes Folge, hob ihn auf und trug dem Berufungsgericht die neuerliche Entscheidung über die Berufung der klagenden Partei auf.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Die verfahrensrechtliche Vorschrift des § 901 Abs. 1 RVO., derzufolge das Gericht an die Entscheidung der sozialversicherungsrechtlichen Instanzen gebunden war, ob ein entschädigungspflichtiger Unfall vorliege oder nicht, ist mit dem Wirksamkeitsbeginn des ASVG. am 1. Jänner 1956 gemäß § 543 ASVG. außer Kraft getreten. Abgesehen davon könnte § 901 Abs. 1 RVO. auf nach diesem Wirksamkeitsbeginn ergehende Entscheidungen von Sozialversicherungsbehörden nicht angewendet werden, weil diese Behörden gemäß § 335 ASVG. auf Verfahren, die am 1. Jänner 1956 anhängig waren, die Bestimmungen des ASVG. anzuwenden haben, diese Entscheidungen daher nicht mehr in einem Verfahren nach der RVO. im Sinne des § 901 Abs. 1 RVO. ergangen sein könnten. Auch sonst besteht im vorliegenden Fall für eine Bindung des Gerichtes an die im Bescheid der Unfallversicherungsanstalt vom 10. April 1956 zum Ausdruck gebrachte Rechtsansicht keine gesetzliche Grundlage. Im ASVG. finden sich keine den §§ 901 f. RVO. entsprechenden Vorschriften (vgl. hiezu Fenzl in ÖJZ. 1955 S. 633 ff.).
Was den Hinweis des Berufungsgerichtes auf die wechselseitige Pflicht aller Behörden zur Anerkennung der von ihnen gesetzten Akte anlangt, ist dazu folgendes zu erwägen: es kann nicht angenommen werden, daß der Gesetzgeber ohne Grund die in den §§ 901 f. RVO. getroffene Regelung nicht in das ASVG. übernommen hat. Es kann ferner nicht angenommen werden, daß der Gesetzgeber ohne Grund nicht die ausschließliche Zuständigkeit des Versicherungsträgers zur Entscheidung über Streitigkeiten in Leistungssachen nach § 354 ASVG., d. h. unter Ausschluß aller anderen Behörden und Gerichte (vgl. Gehrmann - Rudolph - Teschner, ASVG., S. 580 Anm. 1 zu § 371 ASVG.), angeordnet hat, wie er dies im § 371 ASVG. in Ansehung der Schiedsgerichte getan hat. Der Grund für den letzteren Umstand muß darin gefunden werden, daß der Gesetzgeber den Bescheid des Versicherungsträgers als eine ohne Ermittlungsverfahren nach den strengen Grundsätzen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes zustandegekommene, zunächst vorläufige Regelung (Formalisierung) des Rechtsverhältnisses ansieht, die allerdings mangels Anfechtung endgültige Wirkung erhält, aber nur für den Sozialversicherungsträger und die mit Bescheid beteiligten Personen (so Begründung der Regierungsvorlage, abgedruckt bei Gehrmann - Rudolph - Teschner a. a. O. S. 555 ff.), während eine Entscheidung erst durch das Schiedsgericht erfolgt, das als Gericht größeres Vertrauen seitens der Beteiligten genießen soll (a. a. O. S. 557). Es muß danach angenommen werden, daß - anders als nach § 371 ASVG. durch die schiedsgerichtliche Entscheidung - die Gerichte durch den Bescheid des Versicherungsträgers nach dem Willen des Gesetzgebers nicht gebunden sein sollen. Diese Rechtsansicht führt im vorliegenden Fall auch zu einem billigen Ergebnis. Dem Beklagten konnte die ihm zustehende privatrechtliche Befreiung von der Schadenersatzpflicht nicht in einem ohne genügende Garantien für eine ausgestatteten Verfahren vor der Unfallversicherungsanstalt, an dem er gar nicht beteiligt war und an dem er auch nicht durch Bescheidzustellung beteiligt wurde, rechtskräftig aberkannt werden. Der Beklagte war in diesem Verfahren vor der Unfallversicherungsanstalt gemäß § 361 Abs. 2 ASVG. nicht antragsberechtigt, auch die Erwirkung einer schiedsgerichtlichen Entscheidung erscheint ihm verwehrt (vgl. Gehrmann - Rudolph - Teschner a. a. O. S. 589 Anm. 1 zu § 383 ASVG.). Der Kläger hätte jedenfalls eine solche vom Gesetz mit besseren Garantien für die Richtigkeit als der Bescheid der Unfallversicherungsanstalt ausgestattete, nach der oben vorgetragenen Rechtsansicht für das Gericht verbindliche schiedsgerichtliche Entscheidung herbeiführen können und kann sich daher keinesfalls dadurch beschwert erachten, daß er zu seinem Nachteil durch Unterlassung der Klage beim Schiedsgericht den, wie noch auszuführen sein wird, unrichtigen Bescheid der Unfallversicherungsanstalt unangefochten ließ. Ob durch das zivilgerichtliche Urteil die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Verwaltungsverfahrens geschaffen werden, ist eine Frage, die zu lösen nicht dem Revisionsgericht zusteht.
Wie das Erstgericht richtig erkannt hat, hat demnach im vorliegenden Fall das Gericht ohne Bindung an den Bescheid der Unfallversicherungsanstalt zu entscheiden, ob der Kläger im Sinne des § 898 RVO. ein Versicherter und ob der Unfall ein Arbeitsunfall im Sinne der §§ 542 ff. RVO. war, und das Erstgericht hat diese Fragen auch mit Recht bejaht. Gemäß dem zur Unfallszeit geltenden § 537 Z. 10 RVO. (jetzt ebenso § 8 Abs. 1 Z. 3 lit. e ASVG.) waren gegen Arbeitsunfall auch Personen versichert, die wie ein auf Grund eines Arbeitsvertragsverhältnisses Beschäftigter, wenn auch nur vorübergehend, tätig wurden, und wenn eine solche Person bei dieser Tätigkeit einen Unfall erlitt, war dies gemäß § 542 RVO. ein Arbeitsunfall. Da der Beklagte selbst den Kläger zu der Arbeitsleistung im Sägewerk des Beklagten aufforderte, bei welcher Arbeitsleistung der Kläger den Unfall erlitt, sollte die Tätigkeit des Klägers dem Interesse des Unternehmens des Beklagten dienen. Der Kläger hat sich durch seine Hilfeleistung in den Dienst des Beklagten gestellt, hat dadurch gemäß § 537 Z. 10 RVO. den Versicherungsschutz erlangt, und die Haftung des Beklagten erscheint nach § 898 RVO. (jetzt ebenso § 333 ASVG., vgl. hiezu Fenzl a. a. O. S. 634) ausgeschlossen (vgl. ArbSlg. 6322). Weder der Bescheid der Unfallversicherungsanstalt noch die Berufungsausführungen des Klägers lassen erkennen, warum die Entgeltlichkeit der Arbeitsleistung eine Voraussetzung des Versicherungsschutzes nach § 537 Z. 10 RVO. sein soll.
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