Spruch:
Der Dienstnehmer kann grundsätzlich den Bruttolohn einklagen
Entscheidung vom 31. August 1955, 1 Ob 333/55.
I. Instanz: Kreisgericht Wels; II. Instanz: Oberlandesgericht Linz.
Text
Der Kläger behauptet, er sei laut Dienstvertrag zum leitenden Direktor der beklagten Partei mit einem monatlichen Gehalt von 4500 S bestellt worden. Dazu komme die Wohnungsbeihilfe von 30 S. Er sei grundlos mit 29. Mai 1954 entlassen worden. Da eine Kündigung des Dienstverhältnisses außer für den Fall der Auflösung der Gesellschaft ausgeschlossen wurde, bestehe das Dienstverhältnis weiterhin zu Recht. Er verlange daher das ihm für die Monate Mai bis Juli 1954 gebührende und nicht ausbezahlte Gehalt in der Höhe von
13.590 S.
Bei der ersten Tagsatzung wurde vom Erstgericht ein Versäumungsurteil gemäß § 396 ZPO. im Sinne des Klagebegehrens gefällt.
Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil. In der Klage sei nur vom Gehalt die Rede, ohne daß es als Brutto- oder Nettogehalt bezeichnet werde. Die Behauptung in der Berufung, es handle sich um das Bruttogehalt, sei daher eine unzulässige Neuerung. Aus der Klagserzählung ergebe sich ferner, daß der Kläger entlassen worden sei. Auch wenn die Entlassung ungerechtfertigt gewesen sein sollte, so bewirke sie doch die Beendigung des Dienstverhältnisses. Der Anspruch des Klägers sei daher ein Schadenersatzanspruch. Das Klagsvorbringen enthalte somit die Behauptung, der Kläger habe einen Schaden in der Höhe des eingeklagten Betrages erlitten. Es bleibe daher kein Raum für die Vornahme von irgendwelchen Abzügen für Steuern und Sozialversicherungsbeiträge. Das Klagebegehre sei daher schlüssig.
Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der beklagten Partei nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus den Entscheidungsgründen:
Der Oberste Gerichtshof hat allerdings in den Entscheidungen 4 Ob 38/54 und 4 Ob 166/54 im Gegensatz zur Entscheidung ArbSlg. 5336 der Meinung Ausdruck gegeben, daß die Verurteilung eines Arbeitgebers zur Zahlung von Bruttobezügen der nötigen Bestimmtheit entbehre und daß ein solches Urteil nach § 7 EO. zur Exekutionsführung nicht tauglich sei. Im vorliegenden Fall ist ein Urteil ergangen, das die Beklagte) zur Bezahlung von 13.590 S samt Anhang verurteilt. Ein Beisatz, der Unklarheit schaffen könnte, fehlt. Der Mangel der Unbestimmtheit haftet dem Urteil also nicht an.
Es bleibt jedoch zu prüfen, ob die gesetzlichen und von Amts wegen wahrzunehmenden Bestimmungen über Lohnabzüge den Anspruch des Klägers nicht mindern und ob, da die Grundlagen für die Berechnung der Abzüge vom Kläger nicht geboten wurden, das Klagebegehren nicht überhaupt als unklar und nicht schlüssig abzuweisen wäre. Doch sind diese Bedenken weder für die Abzüge an Lohnsteuer noch für die Abzüge an Sozialversicherungsbeiträgen gerechtfertigt.
Die Abzugspflicht des Arbeitgebers an Lohnsteuer wird erst bei der Lohnzahlung existent (§ 57 EStG. 1953) und mindert nicht den Anspruch des Arbeitnehmers. Sie richtet sich nicht nach der Höhe der Ansprüche des Dienstnehmers, sondern nach der Höhe der ausbezahlten Beträge. Nur diese sind im Lohnkonto festzuhalten (§ 58 EStG. 1953). Die Ausnahme des § 57 Abs. 2 EStG. 1953 für gewisse Abschlagszahlungen bestätigt nur die Regel, die in § 57 Abs. 3 EStG. 1953 mit voller Deutlichkeit zum Ausdruck kommt: besitzt der Arbeitgeber nicht die Mittel zur vollen Auszahlung des vereinbarten Arbeitslohnes, dann ist die Lohnsteuer von dem niedrigeren, tatsächlich ausbezahlten Betrag zu berechnen und einzubehalten. Solange der Dienstgeber nicht zahlt, ist nicht nur sein Abzugs- und Einbehaltungsrecht noch in Schwebe, es fehlen sogar die Grundlagen für die Berechnung des Abzuges.
Hat der Dienstgeber den Lohn nicht bezahlt, so kann dem Anspruch des Dienstnehmers auf den abzugsfreien Lohn im Prozesse und im Exekutionsverfahren nur ein Lohnsteuerbetrag eingewendet werden, der etwa dem Finanzamte bereits abgeführt wurde. Leistet der Dienstgeber eine freiwillige Zahlung an den Dienstnehmer, so wird er diese im Prozesse und im Exekutionsverfahren nicht nur mit dem an den Dienstnehmer bezahlten Betrag geltend machen können, sondern mit dem Betrage, der nach entsprechenden Abzügen den ausbezahlten Betrag ergeben hätte. Nimmt das Exekutionsorgan dem Dienstgeber einen Geldbetrag ab oder bringt die Verwertung von gepfändeten Gegenständen einen Erlös, so wird gleichfalls das Abzugsrecht und die Abzugspflicht wirksam. Sinngemäß wird man wohl annehmen müssen, daß der Dienstgeber nur dem Exekutionsgericht erklären kann und muß, daß ein von ihm errechneter Teil des abgenommenen Betrages oder erzielten Erlöses dem Finanzamte abzuführen ist, und das Exekutionsgericht wird diesem Antrag in der Regel ohne Überprüfung der Berechnung Folge zu geben haben, wenn der vom Dienstgeber angegebene Teil nicht offensichtlich schikanös zu hoch gegriffen ist. Denn die Entscheidung darüber, ob der zurückzubehaltende und dem Finanzamte zu überweisende Teil vom Dienstgeber richtig errechnet wurde, steht den Finanzbehörden zu. Die Gerichte haben den Dienstgeber, der hier im Auftrage des Staates in Unterstützung der Finanzbehörden handelt, in der Regel nicht zu kontrollieren (arg. § 72 Abs. 3 EStG. 1953).
Eine Verurteilung zur Zahlung von Nettobeträgen sollte nicht erfolgen, wenn auch das Gericht den Kläger nicht hindern kann, nur seinen Nettolohn einzuklagen (vgl. Nikisch, Arbeitsrecht, 2. Aufl. S. 310). Denn der Dienstgeber kann und müßte auch in diesem Fall beim exekutiven Eingang des Nettobetrages das Abzugsrecht für die Finanzbehörden ausüben, wenn er nicht in der Lage ist, gleichzeitig den entsprechenden Lohnsteuerbetrag abzuführen. Es ergibt sich dann folgendes: wenn der Dienstnehmer ein Urteil statt auf die ihm zustehenden brutto 100 S nur auf netto 80 S erwirkt, so kann das Exekutionsorgan dem Dienstgeber nur 80 S abnehmen. Über Antrag des betreibenden Gläubigers wären bei Annahme einer gleichbleibenden Lohnsteuer von 20% von dieser Teilzahlung 16 S dem Finanzamt zu überweisen. Der Dienstnehmer wird nun wohl geltend machen können, daß der ihm zugesprochene Betrag ein Nettobetrag war und daß seine Nettoforderung von 80 S nur mit 64 S befriedigt wurde, und einen neuerlichen Exekutionsvollzug hinsichtlich 16 S verlangen können.
Aus dieser Erwägung ergibt sich, daß das Abzugsrecht im Prozeß auch nicht etwa in der Form berücksichtigt werden muß, daß die Verurteilung auf Zahlung von 100 S, davon 80 S zu eigenen Handen des Dienstnehmers, 20 S zu Handen des Finanzamtes, zu erfolgen hätte, denn auch dann wäre der Dienstnehmer als betreibender Gläubiger nicht gehindert, nur den Betrag von 80 S, der zu seinen Handen zu bezahlen ist, zu betreiben. Auch ersparte die Verurteilung mit dieser Maßgabe nicht eine neue Berechnung durch den Dienstgeber bei nur teilweisem Erfolge der Exekution.
Die rechtliche Konstruktion der Abzüge für die Sozialversicherungsanstalten ist trotz des völlig abweichenden Wortlautes der in Betracht kommenden Bestimmungen im Grund dieselbe. Der § 1426 RVO. (§ 182 AngVersG.) bestimmt, daß der Arbeitgeber für sich und für den Arbeitnehmer den Beitrag zu entrichten hat. Der § 1432 RVO. (§ 133 Abs. 1 AngVersG.) bestimmt, daß der Versicherungspflichtige sich bei der Lohnauszahlung die Hälfte des Beitrages abziehen lassen muß. Der § 1434 RVO. (§ 133 Abs. 5 AngVersG.) bestimmt zwar ähnlich wie § 57 Abs. 2 EStG. 1953, daß Abschlagszahlungen nicht als Lohnzahlungen gelten. Dennoch hat der Dienstgeber bei nicht voller Zahlung der Bezüge der Zahlung entsprechende Sozialversicherungsbeiträge einzubehalten und abzuführen (SSt. XXII 71). Der § 1435 RVO. (§ 183 Abs. 4 AngVersG.) verweist auf § 398 RVO., nach welchem Arbeitgebern die Befugnis zum Abzug des Dienstnehmerbeitrages entzogen werden kann. Sie dürfen dann Abzüge nur vornehmen, wenn die Zahlungen an die Sozialversicherungskassen bereits bewirkt sind. Der § 1439 RVO. (§ 384 AngVersG.) sieht auch die Möglichkeit vor, daß die vollen Versicherungsbeiträge durch den Dienstnehmer zu entrichten sind, dem der Dienstgeber seinen Anteil zu ersetzen hat. Die §§ 1459 ff. RVO. (§§ 194 ff. AngVersG.) weisen Streitigkeiten zwischen Dienstnehmern und Dienstgebern über die Abzüge ausdrücklich den Verwaltungsbehörden zu. Soweit diese Bestimmungen nicht überhaupt das Abzugsrecht des Dienstgebers gegenüber den Bestimmungen über die Lohnsteuerabzüge schmälern, führen sie zu denselben Ergebnissen, die oben für die Lohnsteuerabzüge gewonnen wurden. Es kommt noch dazu, daß im Zeitpunkt der Verurteilung nicht feststeht, ob das Abzugsrecht des Arbeitgebers bei der Zahlung noch gegeben sein wird.
Wenn in einem Urteil zum Ausdruck gebracht wird, daß Bruttobeträge zugesprochen wurden, so wird damit also nicht das Exekutionsrecht des betreibenden Gläubigers in einer bestimmten oder unbestimmten Weise umgrenzt, es wird nur, was sonst aus den Gründen des Urteils zu entnehmen wäre, zum Ausdruck gebracht, daß der Kläger seinen vollen Anspruch und nicht nur einen Teil desselben geltend gemacht hat.
Die Revision ist also unbegrundet, denn der Dienstnehmer ist grundsätzlich berechtigt, den vollen Bruttolohn einzuklagen, und das Urteil hat ihm diesen zuzusprechen. Erst bei der Zahlung oder exekutiven Hereinbringung des zugesprochenen Betrages spielt das Abzugsrecht eine Rolle.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)