OGH 2Ob882/54

OGH2Ob882/543.12.1954

SZ 27/311

Normen

ABGB §1295
ABGB §1315
ABGB §1320
ABGB §1295
ABGB §1315
ABGB §1320

 

Spruch:

Haftung des Waldeigentümers für den durch einen von Menschen aufgezogenen angriffslustigen Rehbock einem Spaziergänger zugefügten Schaden bei Unterlassung von Vorsichtsmaßnahmen hinsichtlich des Bockes.

Entscheidung vom 3. Dezember 1954, 2 Ob 882/54.

I. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien; II. Instanz:

Oberlandesgericht Wien.

Text

Das Erstgericht hat mit Zwischenurteil erkannt, daß der Schadenersatzanspruch der Klägerin gegen die Beklagte dem Gründe nach zu Recht besteht.

Die dagegen erhobene Berufung der Beklagten blieb ohne Erfolg.

Den Entscheidungen der Untergerichte liegt folgender von ihnen festgestellter Sachverhalt zugrunde: Die Klägerin ist am 27. Juni 1951 auf einem markierten Weg im Waldgebiet von L., das der beklagten Partei gehört, von einem Rehbock angegriffen und hiedurch erheblich verletzt worden. Mitte Juni 1950 fand Hedwig G. auf einer Wiese in der Nähe ihres Wohnhauses in P. Nr. 41 ein Rehkitz und nahm es mit nach Hause. Zur Aufzucht des Tieres erhielt sie dann von der Bundesforstverwaltung die Erlaubnis. Der Rehbock, dem volle Freiheit gelassen wurde, pflegte in der Nähe des Hauses auf einer Wiese zu äsen, lief auch öfters in den Wald, kehrte aber des Futters halber immer wieder zum Haus zurück. Vom Frühjahr 1951 ab entfernte sich der Bock oft für längere Zeit vom Haus und ließ sich erst nach zwei oder drei Tagen beim Haus wieder blicken. Das Tier hatte schon vor dem Vorfall mit der Klägerin mehrfach Menschen angefallen, so auch Frau Josefa Sch., als sie ihm Gras zum Fressen reichte, dann bei einer anderen Gelegenheit Theresia L., als diese es mit einem dünnen Stock am Kopf berührte, ferner Margarethe G., einen Forstschüler Hermann W. und einen Holzknecht. Vom ersten Ereignis machte Hedwig G. dem in Diensten der Bundesforstverwaltung stehenden Oberförster K. am 28. April 1951 Mitteilung. Während K. selbst als Zeuge sich an keine Meldung erinnern konnte, hat die beklagte Partei in ihrer Klagebeantwortung behauptet, K. habe dem Jäger F. den Befehl erteilt, dem Bock die Krickel abzuschneiden. Mit einer schon fast der Gewißheit gleichkommenden Wahrscheinlichkeit ist die Identität des von Hedwig G. aufgezogenen Rehbocks mit jenem anzunehmen, der die Klägerin zu Boden gestoßen und verletzt hat. Bei einem Reh, das in Gefangenschaft gerät und von Menschen aufgezogen wird, ist von vornherein eine Gefahr aggressiven Verhaltens gegenüber Menschen gegeben, sobald es sich in Freiheit befindet. Da es sich hiebei um eine Eigenschaft handelt, die in Fachkreisen allgemein bekannt ist, kann sie auch der Bundesforstverwaltung bzw. ihren Organen nicht verborgen geblieben sein.

In der Tatsache, daß die beklagte Partei trotz Kenntnis des freien Herumlaufens des von Menschen aufgezogenen Rehbocks jede Maßnahme zur Verhinderung von Angriffen des Tieres auf Menschen unterließ, erblickt das Erstgericht das schuldhafte Verhalten der beklagten Partei. Sie habe wissen müssen, daß der frei herumlaufende Rehbock durch seine Angriffslust eine Gefahr für Menschen bedeutete. Überdies stehe fest, daß Organe der Forstverwaltung Kenntnis von tätlichen Angriffen des Bocks auf Menschen erhielten. Habe mit dem Wissen um die mögliche Gefährlichkeit des Tieres infolge Aufzucht durch Menschen bereits die Obsorgepflicht der beklagten Partei bestanden, so sei diese Obsorgepflicht noch durch die Meldung von vorgekommenen Angriffen des Tieres gesteigert worden. Das Waldgebiet, in dem sich der Unfall ereignet hat, sei allgemein zugänglich. Irgendwelche Absperrmaßnahmen zur Verhinderung jedweder Gefährdung von Passanten des Waldgebietes durch das Tier seien seitens der beklagten Partei nicht getroffen, ja nicht einmal Warntafeln angebracht worden. Es wäre Pflicht der beklagten Partei gewesen, den Rehbock entweder durch Abschuß oder durch Verwahrung in einem abgesperrten Gehege unschädlich zu machen. Die Unterlassung einer solchen Maßnahme stelle eine schwere Verletzung der der Beklagten als Eigentümerin eines allgemein zugänglichen Waldgebietes obliegenden Pflicht zur Vorsorge gegen schädigendes Verhalten des in jenen Waldungen befindlichen Rehbocks dar. Daraus ergebe sich aber auch die Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz des durch den Rehbock der Klägerin zugefügten Schadens.

Das Berufungsgericht fügte dieser Begründung des Erstgerichtes noch folgendes hinzu: Die Bundesforstverwaltung sei eine Wirtschaftsverwaltung, weshalb darauf die Grundsätze des Privatrechtes anzuwenden seien. Im Rahmen dieser Rechtsregeln hätte die beklagte Partei für die Beseitigung der durch den Rehbock drohenden Gefahr sorgen müssen. Die Unterlassung einer Handlung sei nicht nur dann rechtswidrig, wenn das unterlassene Tun ausdrücklich geboten ist, sondern auch dann, wenn es verboten ist, einen Erfolg herbeizuführen und dieser durch Unterlassung herbeigeführt wurde. Es sei allgemein verboten, eine andere Person in ihrer körperlichen Sicherheit zu gefährden. Dadurch nun, daß die zuständigen Forstorgane der Bundesforstverwaltung I. es unterlassen haben, für die Verwahrung oder Beseitigung des Rehbocks zu sorgen, hätten sie die Gefährdung und Verletzung der klagenden Partei herbeigeführt. Der markierte Weg des Alpenvereins durch das kritische Revier werde mit Wissen und Zustimmung der Organe der beklagten Partei von jedermann benützt und ergebe sich daraus erst recht die Verpflichtung zu entsprechender Vorsorge gegen jede Gefährdung. Richtig sei zwar, daß die beklagte Partei nur im Rahmen des § 1315 ABGB. für die Organe der Forstverwaltung I. hafte, also nur für Untüchtigkeit. Dies sei aber gegebenenfalls anzunehmen, da Oberförster K. die Gefährlichkeit des Rehbocks als Fachmann auch für Jagdangelegenheiten infolge seiner Berufsausbildung bekannt sein mußte. Ihm sei auch der Angriff des Rehbocks auf Josefa Sch. gemeldet worden. Bei der Frage der Beurteilung der Untüchtigkeit müßten die besonderen Umstände des einzelnen Falles in Betracht gezogen werden. Diese besonderen Umstände (allgemeine Erfahrungstatsache der Gefährlichkeit von Tieren der geschilderten Art und dem Forstorgan gemeldete Vorkommnisse ohne Reaktion) stellten eine grobe Außerachtlassung der erforderlichen Sorgfaltspflicht dar, sodaß daraus auf eine Untüchtigkeit des betreffenden Organs zu schließen sei. Die beklagte Partei haftet daher gemäß § 1315 ABGB. für den der Klägerin entstandenen Schaden.

Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der beklagten Partei nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Aus den Entscheidungsgründen:

In ihren Ausführungen zur Rechtsrüge macht die beklagte Partei geltend, daß das angefochtene Urteil zwar richtig eine Haftung der beklagten Partei nur nach § 1315 ABGB. anerkenne, diese setze jedoch eine Untüchtigkeit der Forstorgane der Beklagten, insbesondere des Oberförsters K., voraus. Bei richtiger rechtlicher Beurteilung könne im Verhalten des Oberförsters K. nur ein einmaliges Versagen angenommen werden, das aber noch keine Untüchtigkeit bedeute. Dies entspreche auch sowohl der neuen wie der älteren Rechtsprechung und werde eine Ausnahme nur im Zusammenhang mit der Haftung von Angestellten gefährlicher Betriebe gemacht, welches Merkmal auf den Betrieb der beklagten Partei im vorliegenden Falle nicht zutreffe. Das Berufungsgericht irre auch insofern in rechtlicher Beziehung, wenn es den Standpunkt vertrete, daß eine besondere Diligenzpflicht für die Forstorgane zur Verwahrung oder Beseitigung des Rehs von vornherein bestanden habe. Es sei zwar richtig, daß auch dann, wenn es verboten ist, einen Erfolg herbeizuführen und dieser durch eine Unterlassung herbeigeführt wird, eine Rechtswidrigkeit vorliege. Dies sei jedoch nur gegeben, wenn es sich um die Herbeiführung eines erkennbaren Erfolges handle. Nach den Feststellungen der Untergerichte habe nur die Möglichkeit eines Angriffs des Rehbocks bestanden, nicht aber die Gewißheit. Nur im letzteren Falle, also bei aller Bestimmtheit eines Angriffs durch ein derartiges Tier wäre eine Unterlassung der Forstorgane zur Verwahrung und Beseitigung des Rehbocks rechtswidrig gewesen. Das Berufungsgericht hätte daher erwägen müssen, daß eine klare und sichere Kenntnis einer konkreten Gefahr für die Waldwegebenützer seitens der Forstorgane zur Annahme der Haftung notwendig sei. Die Unkenntnis der Forstorgane von einer konkreten Gefährlichkeit des Rehbocks würde aber auf jeden Fall eine Haftung der Beklagten ausschließen.

Der hier vertretenen Auffassung der Revision vermag sich der Oberste Gerichtshof nicht anzuschließen, weil sie das Verhalten der Organe der Forstverwaltung, insbesondere des Oberförsters K. nicht entsprechend den tatsächlichen Feststellungen der Untergerichte beurteilt. Im Gegensatz zur Meinung der Revisionswerberin liegt grobes Verschulden bereits vor, wenn der rechtswidrige Erfolg der Unterlassung als wahrscheinlich vorausgesehen werden mußte (13. August 1912, ZBl. 1912, 427). Gewißheit des Erfolges ist also nicht Voraussetzung. Es ist gewiß richtig, daß mit dem Begriff der "Untüchtigkeit" des § 1315 ABGB. ein habitueller Zustand des Besorgungsgehilfen gemeint ist (SZ. XXV/68) und einmaliges Versagen einer sonst tüchtigen Person noch nicht deren Untüchtigkeit begrundet (SZ. XXV/84), allein aus dem festgestellten Sachverhalt kann nicht auf ein bloß einmaliges Versagen des Organs der beklagten Partei geschlossen werden. Die Tatsache, daß K. als Fachmann von vornherein nicht bloß um die Möglichkeit, sondern um die Wahrscheinlichkeit der mit der Aufzucht durch Hedwig G. hervorgerufenen Gefährlichkeit des Tieres wissen mußte, von dieser Gefährlichkeit durch konkrete Vorfälle Kenntnis erhielt und, wie das Gespräch mit dem Forstschüler beweist, auch tatsächlich die Gefährlichkeit kannte und, obwohl er wußte, daß das Waldgebiet, in dem sich der Rehbock herumtrieb, allgemein zugänglich ist, darauf dauernd nicht mit Schutzmaßnahmen reagierte, ja nicht einmal seinen Vorgesetzten Meldung erstattete, läßt ihn als einen Besorgungsgehilfen erkennen, auf den die Eigenschaft "untüchtig" im Sinne des § 1315 ABGB. zutrifft. Untüchtigkeit ist nicht bloß im Falle des Abgangs von für die Ausübung des Berufs erforderlichen Kenntnissen, sondern auch im Falle von moralischer Unzulänglichkeit anzunehmen (SZ. XX/99). Aus dem oben wiedergegebenen Sachverhalt geht hervor, daß K. einerseits die Meldung der Hedwig G. über den Vorfall mit Josefa Sch. bagatellisierte, andererseits aber einem Forstschüler Anweisung zur Bewaffnung mit einem Stock gab, um allfällige Angriffe eines Rehbocks abwehren zu können. Dieses zwiespältige Verhalten zeigt ihn in keinem günstigen Licht. Es stellt keine Übertreibung dar, wenn die Revisionsbeantwortung im Verhalten des Oberförsters K., der dauernden Unterlassung jedweder Vorsichtsmaßnahmen, ein Dauerdelikt oder, anders ausgedrückt, fortgesetzten sträflichen Leichtsinn sieht. § 1294 ABGB. verlangt, daß die Schädigung "widerrechtlich" erfolge. Das Verhalten des Schädigers ist nicht widerrechtlich, wenn es ihm nach den bestehenden Vorschriften erlaubt oder sogar geboten wird. Aber schon die Unterlassung einer Handlung, durch die ein Schaden verhindert worden wäre, ist als widerrechtlich zu qualifizieren, wenn eine durch bestehende Vorschriften begrundete Rechtspflicht zur Vornahme der Handlung besteht. Die beharrliche Unterlassung von Maßnahmen zur Abwehr des sich auf dem Gründe der beklagten Partei ständig bewegenden und bösartigen Rehbocks stellte zumindestens ab dem Zeitpunkt der Meldung des Vorfalls mit Josefa Sch. eine ständige Gefährdung der körperlichen Sicherheit von Menschen, die das Waldgebiet passierten, dar. Die Häufigkeit der Angriffe läßt gar keinen Zweifel offen, daß der Rehbock mit gefährlichen Eigenschaften behaftet war. Die Rechtswidrigkeit ist nicht in der starren Bedeutung zu verstehen, die die strengen Positivisten diesem Begriff beilegen. Richtig bemerkt Swoboda, Recht der Schuldverhältnisse, S. 76, daß die Rechtswidrigkeit ein dynamischer Begriff ist, der sich den Forderungen der Gerechtigkeit anschmiegt, die im Sinne des § 7 ABGB. den höchsten Zweck der Rechtsordnung darstellt.

Der Revisionsgrund der Z. 4 des § 503 ZPO. liegt demnach nicht vor.

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