Spruch:
Zur Auslegung des Begriffes "örtlich" oder "ortsüblich" im Sinne des § 364 Abs. 2 ABGB.
Entscheidung vom 27. August 1952, 2 Ob 661/52.
I. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien; II. Instanz:
Oberlandesgericht Wien.
Text
Die gefährdete Partei ist die Eigentümerin einer im 19. Wiener Gemeindebezirk (in der Kat.Gemeinde Heiligenstadt) gelegenen Villa, die Antragsgegner sind Eigentümer eines in der gleichen Gegend, jedoch in einer anderen Gasse stehenden Hauses. Die Gärten der beiden Häuser grenzen aneinander. Die Antragsgegner sind Weinhauer und schenken ihren selbstgefechsten Wein in zeitlichen Abständen und je nach der Jahreszeit und Witterung auch in ihrem Garten aus. Die gefährdete Partei fühlt sich infolge des durch den Buschenschankbetrieb verursachten Lärmes in ihrer Nachtruhe gestört und begehrte einerseits die Verurteilung der Antragsgegner, den Betrieb einer Heurigenausschank in dem zu ihrem Haus gehörigen Garten zu unterlassen, und anderseits die Erlassung einer einstweiligen Verfügung, mit der den Antragsgegnern schon während des Rechtsstreites der Betrieb einer Heurigenausschank im Garten untersagt werden sollte.
Das Erstgericht hat den Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung abgewiesen.
Das Rekursgericht hat den Antragsgegnern verboten, in der Zeit vom 1. Juni bis 30. September ab 22 Uhr im Garten ihres Hauses den Weinausschank zu betreiben.
Der Oberste Gerichtshof hat den erstgerichtlichen Beschluß wiederhergestellt.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
Das Erstgericht hat festgestellt, daß die Antragsgegner mit dem Standort (X-Gasse) seit zirka drei Jahren einen nach der Verordnung des Reichskommissars für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich - Verwaltung der Stadt Wien - vom 11. August 1939, Verordnungsblatt für den Reichsgau Wien Nr. 7, behördlich zugelassenen Buschenschankbetrieb mit Musik im Freien bis 22 Uhr und Ausschank bis 24 Uhr führen; es hat weiters festgestellt, daß das Lachen und fallweise Singen einzelner Gruppen der Gäste sowie das Geklirr von Tellern aus dem Garten, dessen Grenzen in schräger Linie zur Gartenfront des Hauses der Antragstellerin verlaufen, wobei die kürzeste Entfernung etwa 11 1/2 m beträgt, bis in die Zimmer des Hauses hörbar ist, wenn die Fenster und die auf die Terrasse oder die Balkone führenden Zimmertüren geöffnet sind, und daß der durch das Stimmengewirr verursachte Lärm mit fortschreitender Zeit zunimmt; der Lärm ist jedoch überhaupt nicht mehr oder nur mehr sehr gedämpft vernehmbar, wenn die Fenster und Türen geschlossen sind. Das Erstgericht hat zwar eine als ruhestörend empfundene Lärmbelästigung der Antragstellerin als bescheinigt angenommen, jedoch einen ihr drohenden unwiederbringlichen Schaden ausgeschlossen, weil durch das Schließen der Fenster und Türen während des Buschenschankbetriebes die Lärmbelästigung fast gänzlich hintangehalten werden kann, und deshalb die Voraussetzungen des § 381 Z. 2 EO. nicht für bescheinigt erachtet.
Das Rekursgericht hat die ihm erforderlich scheinende und vom Erstgericht unterlassene Feststellung, ob bis zur Eröffnung des Heurigenbetriebes durch die Antragsgegner "in der fraglichen Wohngegend" Ruhe geherrscht habe, aus den vom Erstgericht beigeschafften Akten des Polizeikommissariats Döbling und des Magistratischen Bezirksamtes für den XIX. und XXVI. Bezirk, u. zw. aus dem Bericht des Polizeikommissariats an das Magistratische Bezirksamt vom 23. Jänner 1951, getroffen, "in dem zum Ausdruck gebracht wird, daß es sich um ein Villenviertel handle, das sich bisher besonderer Ruhe erfreute, weshalb schon der normale Ausschank durch die Lage des Objektes und die zeitweise starke Frequenz dieses Heurigen als ruhestörendes Element empfunden wird". Darin und in der vom Erstgericht festgestellten Lärmbelästigung hat das Rekursgericht eine ausreichende Bescheinigung dafür erblickt, daß die Lärmentwicklung das nach den örtlichen Verhältnissen gewöhnliche Maß überschreitet; das Rekursgericht hat aber auch als bescheinigt angenommen, daß durch die von den Heurigengästen verursachten Lärmszenen die Bewohner des Hauses der Antragstellerin in ihrer Nachtruhe empfindlich beeinträchtigt werden. Schließlich ist nach der Ansicht des Rekursgerichtes, das in diesem Zusammenhang auf ein von der Antragstellerin vorgelegtes ärztliches Zeugnis verweist, auch bescheinigt, daß sie bei ortsüblicher Benützung ihres Hauses, worunter während der heißen Jahreszeit auch ein Offenhalten der Fenster in der Nacht falle, der Gefahr gesundheitlicher Schädigung ausgesetzt sei.
Der Oberste Gerichtshof vermag sich der Ansicht des Rekursgerichtes, daß der Anspruch der Antragstellerin im bisherigen Verfahren bescheinigt sei, welche Ansicht übrigens auch das Erstgericht - wenngleich mit unzureichenden Ausführungen - vertreten haben dürfte, nicht anzuschließen. Es ist davon auszugehen, daß die Behauptung der Antragstellerin, der Betrieb der Antragsgegner überschreite das Ausmaß eines Buschenschankbetriebes, unbescheinigt geblieben ist, zumal das Rekursgericht die Feststellung des Erstgerichtes, daß es sich bei den Antragsgegnern (lediglich) um einen behördlich zugelassenen Buschenschankbetrieb handle, nicht geändert hat. Da auch nicht als bescheinigt angenommen worden ist, daß der im Betrieb der Antragsgegner herrschende Lärm den in anderen Buschenschankbetrieben herrschenden übertrifft, kommt es ausschließlich darauf an, ob der Buschenschankbetrieb der Antragsgegner an sich den örtlichen Gepflogenheiten widerstreitet oder als ortsüblich angesehen werden kann. Hiezu muß in erster Linie festgehalten werden, daß die Antragsgegner als Weinhauer im Sinn der oberwähnten Buschenschankverordnung zum Verkauf ihres selbstgefechsten Weines in Buschenschenken berechtigt sind, sofern auf die Anmeldung dieses Betriebes bei der Behörde nicht eine die Ausübung des Betriebes untersagende Verfügung ergeht (§§ 4 und 9). Eine solche Verfügung ist jedoch bisher in keinem Jahr getroffen worden, obwohl es an Bemühungen, eine solche zu bewirken, nicht gefehlt hat. Ist daher schon aus der behördlichen Genehmigung des Betriebes zu schließen, daß die genehmigende Stelle eine Beeinträchtigung der Nachbarrechte im Sinne des § 364 Abs. 2 ABGB. nicht angenommen hat und daß die Antragsgegner zum Weinausschank -
u. zw. auch in ihrem Garten - berechtigt sind, so ist dem Rekursgericht auch insofern ein Rechtsirrtum unterlaufen, als es den vom Gesetzgeber gebrauchten Ausdruck "örtliche Verhältnisse" und in diesem Zusammenhang den Begriff eines Wohn- (Villen-)viertels zu eng ausgelegt hat. Die Ausdrücke "örtlich" und "ortsüblich" im § 364 Abs. 2 ABGB. müssen allerdings nicht immer im Sinn der politischen Gemeinde ausgelegt werden, auch innerhalb einer Großstadt können bautechnisch und wirtschaftlich verschiedene Stadtteile bestehen, in denen an die örtlichen Verhältnisse oder an die Ortsüblichkeit verschiedene Anforderungen zu stellen sind (Villen- und Fabriksviertel). Unter einem solchen Viertel muß aber doch wieder, wie sich schon aus dem Wort "Viertel" ergibt, ein in einem gewissen Verhältnis zum Ganzen (Stadt oder zumindestens Stadtbezirk) stehender und nicht nur einen ganz geringen Bruchteil ausmachender Wohn- oder Gebäude-Komplex verstanden werden; einige Häuser oder auch Gassen können noch nicht für sich allein ein eigenes "Viertel" bilden.
Mögen auch bisher in der unmittelbaren Nähe der Liegenschaft der Antragstellerin Buschenschenken nicht betrieben worden sein, so ist doch ausschlaggebend, daß sich diese Liegenschaft im Gebiet von Heiligenstadt befindet; dieses Gebiet zählt jedoch ebenso wie die angrenzenden Gebiete von Nußdorf und Grinzing zu den ausgesprochenen Weinbaugebieten Wiens, in denen die Buschenschenken sozusagen "zu Hause" sind.
Die in dieser Gegend wohnende Bevölkerung muß daher zu den Vorteilen, die ihnen die Lage ihrer Wohnung gewährt, auch die zeitweise Beeinträchtigung ihrer Nachtruhe durch den von den Buschenschankbesuchern verursachten Lärm auf sich nehmen, sofern dieser nicht das nach den örtlichen Verhältnissen gewöhnliche Maß überschreitet. Da ein solcher Lärm aber nicht bescheinigt ist, fehlt überhaupt bisher jede Bescheinigung für den Anspruch der Antragstellerin und damit die erste Voraussetzung für die Erlassung einer einstweiligen Verfügung und ist eine Erörterung der Frage der Gefährdung der Antragstellerin entbehrlich.
Dem Revisionsrekurs war demnach Folge zu geben und der Beschluß des Rekursgerichtes, das offensichtlich eine Billigkeitslösung versucht hat, dahin abzuändern, daß der des Erstgerichtes, wenn auch aus anderen Gründen, wiederherzustellen war.
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