Spruch:
Art. 10 EMRK - Verurteilung wegen Herabwürdigung religiöser Lehren.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Die Bf. hielt seit Jänner 2008 Vorträge im Rahmen einer vom FPÖ-Bildungsinstitut veranstalteten Seminarreihe zum Thema »Grundlagen des Islam«. Diese Seminare, die nicht nur Mitgliedern der FPÖ oder eingeladenen Gästen offenstanden, wurden im Internet auf der Website des Bildungsinstituts beworben. Außerdem wurde vom Parteivorsitzenden ein Schreiben an Jungwähler versandt, in dem unter anderem das von der Bf. abgehaltene Seminar angepriesen wurde. An der Auswahl der Teilnehmer war die Bf. nicht beteiligt.
Aufgrund einer Anzeige eines Journalisten, der an zwei Seminaren teilgenommen hatte, wurden strafrechtliche Ermittlungen gegen die Bf. wegen einiger von ihr gemachter Äußerungen eingeleitet. Am 15.2.2011 wurde sie vom LG für Strafsachen Wien wegen Herabwürdigung religiöser Lehren zu einer Geldstrafe in der Höhe von 120 Tagessätzen zu je € 4,– verurteilt. Das Gericht erachtete es als erwiesen, dass die Bf. einen Gegenstand der Verehrung einer im Inland bestehenden Kirche oder Religionsgesellschaft, nämlich den Propheten des Islam Mohammed, in einer Weise herabgewürdigt hatte, die geeignet war, berechtigtes Ärgernis zu erregen. Die inkriminierten Äußerungen lauteten wie folgt:
»Die wichtigsten von allen Rechtsschulen anerkannten Hadith-Sammlungen: Die allerwichtigste ist die Sahih Al-Bukhari. [...] Und in der Al-Bukhari ist auch blöderweise das geschrieben mit der Aisha und dem Kindersex … .«
»Ich erinnere mich an meine Schwester, [...] als die Susanne W. in Graz ihren berühmten Sager gemacht hat, ruft mich meine Schwester an und sagt: ›Um Gottes Willen. Hast du ihr das gesagt?‹ Worauf ich gesagt habe: ›Nein, ich war’s nicht, aber es ist nachzulesen, es ist nicht wirklich ein Geheimnis.‹ Und sie: ›Das kann man doch so nicht sagen.‹ Und ich: ›Ein 56-Jähriger und eine 6-Jährige? Wie nennst du das? Gib mir ein Beispiel? Wie nennen wir das, wenn’s nicht Pädophilie ist?‹ Sie: ›Na ja, das muss man ein bisschen umschreiben, diplomatischer sagen.‹ Meine Schwester ist symptomatisch. Das haben wir schon so oft gehört. ›Das waren doch andere Zeiten‹ – das war damals nicht o.k., und es ist heute nicht o.k. Punkt. Und es passiert heute auch noch. So was ist nie gutzuheißen, weil die Wahrheit so grausam ist … . [...]«
Nach Ansicht des LG vermittelten diese Aussagen im Wesentlichen die Botschaft, Mohammed habe pädophile Tendenzen gehabt. Damit habe die Bf. angedeutet, dass der Prophet kein würdiger Gegenstand der Verehrung wäre. Es handle sich dabei um exzessive Werturteile, die direkt auf eine Herabwürdigung Mohammeds abgezielt hätten.
Die Berufung der Bf. wurde vom OLG Wien am 20.12.2011 abgewiesen.
Der OGH gab einem auf § 363a StPO gestützten Antrag auf Erneuerung nicht statt. (Anm: OGH 11.12.2013, 15 Os 52/12d = NLMR 2014, 80 = MR 2014, 5.) Der OGH verwies auf die gebotene Interessenabwägung zwischen dem Recht der Bf. auf Meinungsäußerungsfreiheit und dem Recht anderer auf Achtung ihrer Religionsfreiheit. Es sei nicht die sachliche Auseinandersetzung mit dem Islam im Mittelpunkt gestanden, sondern die Diffamierung des Propheten Mohammed in Bezug auf eine diesem unterstellte Sexualpräferenz, um ihn als der Achtung der Menschen unwürdig darzustellen. Damit leisteten die Äußerungen keinen Beitrag zu einer sachlichen Debatte, weshalb die Verurteilung nicht unvereinbar mit Art. 10 EMRK sei.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit) durch ihre strafrechtliche Verurteilung wegen Herabwürdigung religiöser Lehren.
Zulässigkeit
(33) [...] Die Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK
(39) [...] Es steht außer Streit, dass die strafrechtliche Verurteilung [...] einen Eingriff in das Recht der Bf. auf freie Meinungsäußerung begründete. [...]
(40) [...] Es ist unbestritten, dass der Eingriff »gesetzlich vorgesehen« war, da die Verurteilung der Bf. auf § 188 StGB beruhte.
(41) [...] Der GH pflichtet der Einschätzung der Regierung bei, wonach der umstrittene Eingriff das Ziel der Aufrechterhaltung der Ordnung durch die Gewährleistung des religiösen Friedens verfolgte, sowie jenes des Schutzes religiöser Empfindungen, was dem Schutz der Rechte anderer iSv. Art. 10 Abs. 2 EMRK entspricht.
(42) [...] Es besteht unter Art. 10 Abs. 2 EMRK wenig Spielraum für Einschränkungen politischer Äußerungen oder von Debatten über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse. Jene, die sich dafür entscheiden, ihre durch Art. 9 EMRK garantierte Freiheit auszuüben, ihre Religion zu bekennen, können daher – ungeachtet dessen, ob sie dies als Mitglieder einer religiösen Mehrheit oder Minderheit tun – nicht erwarten, von Kritik ausgenommen zu sein. Sie müssen die Leugnung ihrer religiösen Anschauungen durch andere und sogar die Verbreitung von Lehren, die ihrem Glauben gegenüber feindselig sind, dulden und akzeptieren.
(43) [...] Die Ausübung der Meinungsäußerungsfreiheit bringt jedoch Pflichten und Verantwortlichkeiten mit sich. Im Kontext religiöser Anschauungen umfasst dies die allgemeine Anforderung, den ungestörten Genuss der durch Art. 9 EMRK garantierten Rechte durch jene sicherzustellen, die einem solchen Glauben anhängen, einschließlich einer Pflicht, so weit wie möglich eine Äußerung zu vermeiden, die gegenüber Gegenständen der Verehrung unnötig anstößig und beleidigend ist. Wenn solche Äußerungen die Grenzen einer kritischen Leugnung der religiösen Überzeugungen anderer überschreiten und geeignet sind, zu religiöser Intoleranz aufzustacheln, [...] kann sie ein Staat legitimerweise als unvereinbar mit der Achtung der Religionsfreiheit [...] ansehen und verhältnismäßige restriktive Maßnahmen ergreifen. [...]
(44) Das Fehlen eines einheitlichen europäischen Konzepts hinsichtlich der Anforderungen an den Schutz der Rechte anderer vor Angriffen auf ihre religiösen Überzeugungen erweitert den Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten bei der Regulierung der Meinungsäußerungsfreiheit in Angelegenheiten, die geeignet sind, persönliche Überzeugungen im Bereich der Moral oder der Religion zu verletzen. Und sie genießen in diesem Bereich nicht nur einen weiten Ermessensspielraum, sondern sie haben eine positive Verpflichtung nach Art. 9 EMRK, durch die Gewährleistung wechselseitiger Toleranz die friedliche Koexistenz aller Religionen und jener, die keiner religiösen Gruppe angehören, sicherzustellen.
(45) Der Staat kann es daher legitimerweise als notwendig ansehen, Maßnahmen zu ergreifen, die auf die Unterdrückung bestimmter, als unvereinbar mit der Achtung der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit anderer angesehenen Verhaltensweisen [...] gerichtet sind. [...]
(50) Zum vorliegenden Fall bemerkt der GH zunächst, dass sein Gegenstand besonders sensibel ist und die (potentiellen) Auswirkungen der umstrittenen Äußerungen zu einem gewissen Grad von der Situation im jeweiligen Land abhängen, in dem sie gemacht wurden, sowie von der Zeit und den näheren Umständen. Dementsprechend [...] hatten die innerstaatlichen Behörden [...] einen weiten Ermessensspielraum, da sie besser in der Lage waren einzuschätzen, welche Äußerungen geeignet waren, den religiösen Frieden im Land zu stören.
(51) [...] Die innerstaatlichen Gerichte qualifizierten die Äußerungen der Bf. als »öffentlich«. Tatsächlich wurden die Seminare im Internet und mit Flugblättern in großem Umfang öffentlich beworben. Letztere wurden vom Parteivorsitzenden der rechtsgerichteten FPÖ versandt und waren insbesondere an Jungwähler gerichtet [...]. Der Vortrag der Bf. wurde mit »Grundlagen des Islam« betitelt und sollte eine kritische Analyse der Islamischen Lehren bieten, was eine Diskussion mit den Seminarteilnehmern erlaubte. Der Titel vermittelte den – im Nachhinein betrachtet irreführenden – Eindruck, das Seminar würde objektive Informationen über den Islam beinhalten. Es scheint, dass sich jede interessierte Person anmelden konnte, ohne dass eine Mitgliedschaft in der FPÖ verlangt wurde. Die Bf. konnte daher nicht davon ausgehen, dass sich nur Gleichgesinnte im Raum befinden würden, die ihre sehr kritischen Ansichten zum Islam teilten, sondern sie musste erwarten, dass sich Personen unter den Zuhörern befanden, die durch ihre Äußerungen verletzt werden könnten. Es ist nur von geringer Bedeutung, dass durchschnittlich bloß 30 Personen teilnahmen. Tatsächlich wurden die Äußerungen der Bf. von einem Journalisten aufgezeichnet, der an dem Seminar teilgenommen hatte und dessen Arbeitgeber diese an die Staatsanwaltschaft weitergab.
(52) Der GH erinnert daran, dass eine religiöse Gruppe die Leugnung ihrer religiösen Überzeugungen durch andere [...] dulden muss, solange die Äußerungen nicht zu Hass oder religiöser Intoleranz aufrufen. § 188 StGB inkriminiert nicht jedes Verhalten, das zur Verletzung religiöser Gefühle geeignet ist oder Blasphemie gleichkommt, sondern verlangt zusätzlich, dass die Umstände eines solchen Verhaltens geeignet waren, berechtigtes Ärgernis zu erregen. Damit zielt die Bestimmung auf den Schutz des religiösen Friedens und der Toleranz ab. [...] Die innerstaatlichen Gerichte erklärten ausführlich, warum sie die Äußerungen der Bf. für geeignet hielten, berechtigtes Ärgernis zu erregen, nämlich weil sie nicht in objektiver Weise gemacht wurden und nicht darauf abzielten, zu einer Debatte von allgemeinem Interesse beizutragen, sondern nur [...] zeigen wollten, Mohammed wäre kein würdiger Gegenstand der Verehrung. Der GH stimmt dieser Einschätzung zu.
(53) Als sie sagte, »Wie nennen wir das, wenn’s nicht Pädophilie ist?«, zitierte die Bf. ihren eigenen Angaben nach eine Unterhaltung mit ihrer Schwester, die der Meinung war, die Anschuldigung, Mohammed wäre pädophil gewesen, müsse »man ein bisschen umschreiben, diplomatischer sagen«. Wie der GH feststellt, bezeichnet sich die Bf. selbst als Expertin auf dem Gebiet der Islamischen Lehre, die bereits seit einiger Zeit solche Seminare abgehalten hat. Ihr Argument, wonach die umstrittenen Äußerungen im Zuge einer lebhaften Diskussion gefallen seien, wo sie nicht mehr rückgängig gemacht werden könnten, ist somit nicht überzeugend. Der GH stimmt daher mit den innerstaatlichen Gerichten darin überein, dass der Bf. bewusst sein musste, dass ihre Äußerungen zum Teil auf unwahren Tatsachen beruhten und geeignet waren (berechtigtes) Ärgernis bei anderen hervorzurufen. In diesem Kontext erinnert der GH daran, dass von den Mitgliedstaaten aufgrund ihrer positiven Verpflichtungen gemäß Art. 9 EMRK sogar verlangt wird, das friedliche Nebeneinander religiöser und nicht religiöser Gruppen und Individuen zu gewährleisten, indem sie eine Atmosphäre wechselseitiger Toleranz sicherstellen. Der GH pflichtet dem LG darin bei, dass eine provokante Darstellung von Gegenständen der religiösen Verehrung, die geeignet ist, die Gefühle der Anhänger dieser Religion zu verletzen, als mutwilliger Verstoß gegen den Geist der Toleranz, der einen der Grundpfeiler einer demokratischen Gesellschaft bildet, angesehen werden kann.
(54) [...] Die innerstaatlichen Gerichte qualifizierten die umstrittenen Äußerungen aufgrund einer detaillierten Analyse des Wortlauts als Werturteile. Sie stellten fest, dass die Bf. Mohammed die Sexualpräferenz der Pädophilie unterstellt und es verabsäumt hatte, ihre Zuhörerschaft in neutraler Weise über den historischen Hintergrund zu informieren, was keine ernsthafte Debatte über diese Angelegenheit zuließ. Der GH stimmt daher den innerstaatlichen Gerichten darin zu, dass es sich [...] um Werturteile ohne ausreichende Tatsachengrundlage handelt. Selbst wenn sie als Tatsachenbehauptungen anzusehen wären, worauf die Bf. bestand, hat sie es sowohl vor den innerstaatlichen Gerichten als auch vor dem GH verabsäumt, dahingehend irgendeinen Beweis vorzubringen.
(55) Was das Argument der Bf. betrifft, einige individuelle Äußerungen müssten während einer lebhaften Diskussion geduldet werden, stellt der GH fest, dass es nicht mit Art. 10 EMRK zu vereinbaren ist, verfängliche Aussagen in eine ansonsten akzeptable Meinungsäußerung zu verpacken und daraus abzuleiten, dies würde die Aussagen, welche die zulässigen Grenzen der Meinungsäußerungsfreiheit überschreiten, hinnehmbar machen. Außerdem war es falsch von der Bf. anzunehmen, dass unangemessene Angriffe auf religiöse Gruppen zu tolerieren wären, selbst wenn sie auf falschen Tatsachen beruhten. Ganz im Gegenteil hat der GH festgestellt, dass Äußerungen, die auf (offensichtlich) unwahren Tatsachen beruhen, nicht den Schutz von Art. 10 EMRK genießen.
(56) Zuletzt erinnert der GH daran, dass die Bf. zur Zahlung einer moderaten Geldstrafe von nur € 480,– verurteilt wurde [...], obwohl das StGB bis zu sechs Monate Freiheitsstrafe androht. [...] Der GH erachtet diese strafrechtliche Sanktion nicht als unverhältnismäßig.
(57) Insgesamt findet der GH, dass die innerstaatlichen Gerichte [...] den größeren Kontext der Äußerungen der Bf. umfassend beurteilten und ihr Recht auf freie Meinungsäußerung sorgfältig gegen die Rechte anderer auf Schutz ihrer religiösen Gefühle und auf die Bewahrung des religiösen Friedens in der österreichischen Gesellschaft abgewogen haben. [...] Der GH akzeptiert, dass sie relevante und ausreichende Gründe vorbrachten und findet, das der Eingriff in die Rechte der Bf. nach Art. 10 EMRK tatsächlich einem dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis entsprach und verhältnismäßig zum verfolgten Ziel war.
(58) Daher haben die innerstaatlichen Gerichte [...] ihren – weiten – Ermessensspielraum [...] nicht überschritten, als sie die Bf. wegen Herabwürdigung religiöser Lehren verurteilten. Folglich hat keine Verletzung von Art. 10 EMRK stattgefunden (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Otto-Preminger-Institut/A v. 20.9.1994 = NL 1994, 292 = ÖJZ 1995, 154
Wingrove/GB v. 25.11.1996 = NL 1997, 13 = ÖJZ 1997, 714
I. A./TR v. 13.9.2005 = NL 2005, 229
Sekmadienis Ltd./LT v. 30.1.2018 = NLMR 2018, 60
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 25.10.2018, Bsw. 38450/12, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2018, 459) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/18_5/E.S..pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.
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