EGMR Bsw22998/13

EGMRBsw22998/136.6.2017

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Y. gg. die Schweiz, Urteil vom 6.6.2017, Bsw. 22998/13.

 

Spruch:

Art. 10 EMRK - Verurteilung eines Journalisten wegen Veröffentlichung vertraulicher Informationen aus dem Untersuchungsakt.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

 

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist Journalist. Im Jänner 2009 schrieb er für ein Wochenmagazin einen Artikel über strafrechtliche Schritte, die gegen »einen bedeutenden Immobilienmakler« wegen des Verdachts der Pädophilie eingeleitet worden waren. Im darin veröffentlichten Interview mit dem Vater eines der mutmaßlichen Opfer zeigte sich dieser erstaunt über die Entlassung des Beschuldigten aus der Untersuchungshaft und erwähnte, dass er an den Bf. mit dem Ziel herangetreten war, die Ehre seiner Tochter zu verteidigen und andere eventuelle Opfer zu alarmieren. In seinem Artikel kritisierte der Bf. die Freilassung des Beschuldigten, wobei er aus einer gegen den Beschluss des Untersuchungsrichters gerichteten Beschwerde der Staatsanwaltschaft zitierte, in der die Nichtverlängerung der Untersuchungshaft kritisiert worden war. Anschließend gab er eine detaillierte Beschreibung der dem Beschuldigten zur Last gelegten Taten und zitierte aus vor der Polizei gemachten Angaben der Mutter eines der mußmaßlichen Opfer, die Strafanzeige gegen Letzteren erstattet hatte. Darin kam auch zur Sprache, dass diese mit dem Beschuldigten ein sexuelles Verhältnis gehabt hätte bzw. nach wie vor pflege und finanziell von ihm abhängig sei. Der Artikel war begleitet von einem Foto des interviewten Vaters, welches sein Profil unter Angabe der Namensinitialen zeigte.

In der Folge leitete die Staatsanwaltschaft gegen den Bf. eine strafrechtliche Untersuchung wegen des Verdachts der »Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen« nach Art. 293 StGB ein.

Mit Strafverfügung vom 20.1.2011 wurde der Bf. zur Zahlung einer Geldstrafe in der Höhe von CHF 5.000,– (zum Zeitpunkt der damaligen Ereignisse ca. € 3.850,–) verurteilt. Die dagegen erhobenen Rechtsmittel blieben erfolglos.

Der Bf. rief daraufhin das Bundesgericht an, welches seine Beschwerde mit Urteil vom 27.9.2012 unter anderem mit der Begründung abwies, die minderjährigen Opfer hätten ein Recht darauf, dass schrecklichste Eingriffe in ihre sexuelle Integrität nicht im Detail in der Presse wiedergegeben würden. Was das Recht der Öffentlichkeit auf den Erhalt derartiger Informationen angehe, deute nichts darauf hin, dass die Angelegenheit bereits vorher an die Öffentlichkeit gebracht worden oder Gegenstand einer öffentlichen Debatte gewesen wäre. Die vom Bf. beschriebenen Lebensverhältnisse des Beschuldigten »als 41-jährigen Mann, der tausende Wohnungen im Kanton Waadt verwaltet« und Besitzer einer Villa und eines Bootes am Genfer See sei, könnten nicht mehr als die bloße Neugier der Leserschaft befriedigen, handle es sich doch bei ihm um eine Person, die der breiten Öffentlichkeit nicht bekannt sei. Zwar sei nachvollziehbar, wenn der Vater des Opfers im Zusammenhang mit der vorzeitigen Freilassung des Beschuldigten dessen sozialen Status zur Sprache bringe (»hätte ein Maurer diese Taten begangen, dann würde er noch im Gefängnis sitzen und auf seinen Prozess warten«), jedoch werde im Artikel darüber keine allgemeine Debatte eröffnet. Dem Vorbringen des Bf., eine Veröffentlichung sei bereits deshalb gerechtfertigt, weil er weitere Opfer »ans Licht bringen« wolle, sei entgegenzuhalten, dass der bloße Wunsch, die Öffentlichkeit zu informieren, dafür nicht genüge, liege eine derartige Entscheidung doch ausschließlich bei den Strafverfolgungsbehörden. Vielmehr könnten die vom interviewten Vater geäußerten Mutmaßungen jemanden zu dem Schluss veranlassen, dass der zuständige Untersuchungsrichter aufgrund des sozialen Status des Beschuldigten eine voreingenommene Haltung eingenomen und nicht ausreichend recherchiert habe, ob es noch weitere Opfer geben könnte. Dadurch würde das Vertrauen der Öffentlichkeit in die ordnungsgemäße Abwicklung der Untersuchung untergraben. Schließlich könne auch nicht über die Aufmachung des Artikels und das verwendete Vokabular hinweggesehen werden, welche darauf hindeuteten, dass die Schuld des Beschuldigten zweifelsfrei feststehe, möge der Bf. auch später betonen, dass die Unschuldsvermutung gelte.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptete, seine strafrechtliche Verurteilung habe einen unverhältnismäßigen Eingriff in seine Meinungsäußerungsfreiheit gemäß Art. 10 EMRK dargestellt.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

Zur Zulässigkeit

(24) Die vorliegende Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK. Da keine anderen Unzulässigkeitsgründe ersichtlich sind, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

(51) Die Parteien sind sich über einen erfolgten Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit des Bf. einig. [...]

(52) Der Eingriff war [auch] gesetzlich vorgesehen [...].

(53) [...] [Die] nationalen Gerichte stützten ihre Entscheidungen auf eine Verletzung des Verbots der Offenlegung von vertraulichen Untersuchungsergebnissen. Das Bundesgericht führte aus, dass dieses auf der Notwendigkeit beruhte, sowohl die Interessen an einer Strafverfolgung als auch jene des Beschuldigten – insbesondere unter dem Blickwinkel der Wahrung der Unschuldsvermutung – ebenso wie die legitimen Interessen anderer Verfahrensparteien [...] zu schützen. Diese Ziele entsprechen dem »Schutz des guten Rufs und der Rechte anderer« und der Gewährleistung der »Autorität und Unparteilichkeit der richterlichen Gewalt«. Der GH erachtet diese als legitim.

(62) Der GH hatte bereits Gelegenheit, die Kriterien niederzulegen, welche die nationalen Behörden [...] bei der Würdigung des Begriffs »Notwendigkeit« [eines Eingriffs] in Angelegenheiten leiten sollten, in denen es um eine Verletzung des »Untersuchungsgeheimnisses« durch einen Journalisten geht (vgl. Bédat/CH, Rn. 55-81). Diese einschlägigen Kriterien sind: die Art und Weise, wie eine Person zu als vertraulich oder geheim eingestuften Informationen gelangt; der Inhalt des strittigen Artikels; der Beitrag zu einer Debatte von öffentlichem Interesse; der Einfluss des gegenständlichen Artikels auf die Abwicklung des Strafverfahrens; das Ausmaß des Eingriffs in das Privatleben des Beschuldigten und (in diesem Fall als Zusatzkriterium) in jenes anderer am Verfahren beteiligter Parteien und schließlich die Verhältnismäßigkeit der Strafe.

Wie kam der Bf. in den Besitz der strittigen Informationen?

(64) Im vorliegenden Fall [...] bekam der Bf. die strittigen Dokumente vom Vater eines der Opfer, der ihn im Interesse seiner Tochter gebeten hatte, die darin enthaltenen Informationen zu veröffentlichen. [...] [D]er Bf. hat sich also die fraglichen Informationen nicht auf illegaler Weise beschafft. [...]

(65) Allerdings ist das Fehlen einer illegalen Handlungsweise nicht notwendigerweise entscheidend für die Beantwortung der Frage, ob er seine Pflichten und Verantwortlichkeiten zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der in Frage stehenden Informationen beachtet hat. Der Bf. konnte in seiner Eigenschaft als Berufsjournalist nicht bona fide die Tatsache ignorieren, dass die Verbreitung der strittigen Informationen von Art. 293 StGB geahndet wurde. Er hat dies übrigens auch nicht abgestritten [...].

Inhalt des strittigen Artikels

(67) [...] In seinem Urteil vom 27.9.2012 vermerkte das Bundesgericht, dass der Artikel des Bf. eine Schuld des Beschuldigten suggerierte und in unnötig detailreicher Art und Weise die sexuellen Handlungen, die von den Opfern angeblich erduldet werden mussten, wie auch die Weiterverfolgung der Beziehung zwischen dem Beschuldigten und der Anzeigeerstatterin nach Eröffnung der strafrechtlichen Untersuchung beschrieb. [...] Es kam zu dem Schluss, dass »die Gesamtheit der Elemente mehr die Absicht der Verfolgung eines Sensationsjournalismus als den Wunsch nahelegen, auf objektive Art und Weise zu informieren und eine Debatte über ein gesellschaftliches Thema zu eröffnen.«

(68) Der GH teilt die Ansicht des Bundesgerichts, wonach der strittige Artikel Details enthielt, die zwar präzise, jedoch keinesfalls zur Erreichung der vom Bf. behaupteten Ziele notwendig waren. [...] Die Veröffentlichung der genannten Details [...] war daher nicht durch ein öffentliches Interesse gerechtfertigt und lässt eine Tendenz zum Sensationsjournalismus erkennen.

Trug der Artikel zu einer Debatte von öffentlichem Interesse bei?

(70) Der Bf. bringt vor, bloß seiner Pflicht als Journalist nachgekommen zu sein, die Öffentlichkeit über eine Frage des allgemeinen Interesses zu informieren, nämlich die Tatsache, dass ein der Begehung schwerer Straftaten Beschuldigter noch vor der Urteilsverkündung freigelassen wurde, und um anderen mutmaßlichen Opfern Mut zu machen, [mit ihrer Leidensgeschichte] an den Tag zu treten.

(71) [...] In seinem Urteil [...] hielt das Bundesgericht fest, dass die fraglichen Ereignisse sich hauptsächlich in einem familiären und sehr eingeschränkten Rahmen abgespielt hatten und dass nichts darauf hindeute, dass der Beschuldigte der breiten Öffentlichkeit bekannt sei.

Der GH schließt daraus, dass dem Thema, dem sich der fragliche Artikel widmete, keine öffentliche Debatte vorausging. Dennoch muss er einräumen, dass die während des Vorverfahrens erfolgte Freilassung einer Person, die der Begehung von strafrechtlich relevanten Eingriffen in die sexuelle Integrität von Kindern verdächtigt wird, von vornherein ein allgemeines Interesse offenbart.

(72) Die Frage, die sich stellt, ist, ob der Inhalt des strittigen Artikels – insbesondere die Informationen, die unter das »Untersuchungsgeheimnis« fielen – derart war, dass er konkret eine öffentliche Debatte über das fragliche Thema zu nähren vermochte. In diesem Zusammenhang weist der GH darauf hin, dass das Bundesgericht [...] zu dem Schluss kam, dass – abgesehen von der vom Bf. aufgegriffenen Kritik des Vaters eines der mutmaßlichen Opfer, wonach der Beschuldigte allein wegen seines sozialen Status auf freien Fuß gekommen sei – kein weiteres Element der Publikation eine allgemeine Debatte über diese Frage eröffnet [...].

(73) Der GH stellt fest, dass ein Teil der Auszüge aus der Beschwerde des zuständigen Staatsanwalts die Freilassung des Beschuldigten – gegen welche sich Ersterer ausgesprochen hatte – betraf und somit zu einer öffentlichen Debatte über diese Frage beizutragen vermochte. Hingegen ist er der Ansicht, dass weder die zahlreichen detaillierten Informationen über die dem Beschuldigten vorgeworfenen Handlungen noch die Auszüge aus den von der Anzeigeerstatterin gemachten Angaben vor der Polizei derart beschaffen waren, dass sie einer öffentlichen Debatte über das Funktionieren der Justiz förderlich gewesen wären. Der GH erinnert daran, dass ein eine gewisse Neugier der Öffentlichkeit befriedigendes Interesse alleine nicht genügen kann, um die Verbreitung vertraulicher Informationen zu rechtfertigen.

(74) Was die Absicht des Bf. angeht, eventuellen anderen Opfern helfen zu wollen, »aus dem Schatten zu treten«, vertritt der GH die Auffassung, dass bei einer strafrechtlichen Untersuchung auftretende Mängel ebenfalls den Aspekt »guter Gerichtsverwaltung« betreffen und daher vorweg eine Frage des allgemeinen Interesses darstellen. Andererseits schließt er sich der Meinung des Bundesgerichts an, wonach – abgesehen von den vom interviewten Vater ausgesprochenen Verdächtigungen – der Bf. in dem strittigen Artikel nichts angesprochen hat, was den Verdacht begründen hätte können, dass andere Opfer unbekannt geblieben wären, noch dass dem mit der Untersuchung betrauten Richter objektiv vorgeworfen werden konnte, es unterlassen zu haben, Maßnahmen in Richtung einer Auffindung weiterer eventueller Opfer zu setzen. [...]

(75) Folglich gelangt der GH zu dem Schluss, dass der Beitrag des strittigen Artikels zu einer öffentlichen Debatte über eventuelle Versäumnisse im Verlauf der strafrechtlichen Untersuchung extrem begrenzt war.

Vermochte der strittige Artikel das gegenständliche Strafverfahren zu beeinflussen?

(77) Der GH vermerkt zunächst, dass die strafrechtliche Untersuchung zum Zeitpunkt des Erscheinens des strittigen Artikels noch im Laufen war.

(78) Er hält weiters fest, dass dem Bundesgericht zufolge Titel und Untertitel des genannten Artikels von vornherein – und zwar ohne Vorbehalt – von einer Schuld des Beschuldigten ausgegangen waren. Der ausdrückliche Verweis im weiteren Verlauf des Artikels, für den Beschuldigten gelte bis zur Urteilsverkündung die Unschuldsvermutung, reiche nicht aus, um dem Text einen objektiven Charakter zu verleihen.

(79) Der GH hält fest, dass vom Bf. angesichts der zweimaligen Erwähnung der Unschuldsvermutung die berufsethischen Regeln in dieser Hinsicht gewahrt wurden. Dennoch ist er der Ansicht, dass der generelle Ton des fraglichen Artikels kaum einen Zweifel daran lässt, was die Meinung des Bf. über die Täterschaft des Beschuldigten anging. Der GH möchte auch bemerken, dass den Feststellungen des Bundesgerichts zufolge die nationalen Instanzen zum Vorteil des Beschuldigten die Tatsache berücksichtigen mussten, dass Letzterer insbesondere aufgrund der »medialen Lynchjustiz« und der Hetzkampagne gegen ihn nach Erscheinen des gegenständlichen Artikels auf beruflicher Ebene viel verloren hatte.

(80) Aus dem Vorhergehenden schließt der GH, dass im vorliegenden Fall das Risiko eines Einflusses des strittigen Artikels auf das anhängige Strafverfahren bestand.

Zum Eingriff in das Privatleben des Beschuldigten

(81) Der GH hält fest, dass die innerstaatlichen Gerichte ihre Entscheidungen nicht auf die Notwendigkeit des Schutzes des Privatlebens des Beschuldigten gründeten.

(82) Er hat bereits hervorgehoben, dass die Medienkampagne einen Einfluss auf die festzusetzende Strafe für den Beschuldigten zu haben vermochte (vgl. Rn. 79). Er ist ebenso wie die nationalen Instanzen der Ansicht, dass dem Schutz des Privatlebens des Beschuldigten keine entscheidende Rolle bei der Interessenabwägung zukam.

Zum Eingriff in das Privatleben anderer Verfahrensparteien

(83) Der GH hält fest, dass der strittige Artikel Informationen insbesondere über andere Verfahrensparteien, nämlich über zwei mutmaßliche minderjährige Opfer und die Anzeigeerstatterin, enthielt. Er erachtet deshalb mit Blick auf den eingangs zitierten Fall Bédat/CH die Einführung eines zusätzlichen Kriteriums für notwendig, um dem Begriff »notwendiger Eingriff« im vorliegenden Fall gebührende Beachtung zu schenken, das ist der »Eingriff in das Privatleben anderer Verfahrensparteien«.

(86) [...] Der GH hatte bereits Gelegenheit auszusprechen, dass die Identität eines Opfers aufgrund seiner verwundbaren Position einen besonderen Schutz erfordert. Dies gilt umso mehr, wenn es sich um ein Kind handelt, das Opfer von Gewalt oder Missbrauch wurde (vgl. Kurier Zeitungsverlag und Druckerei GmbH/A).

(87) In diesem Zusammenhang möchte der GH auf die Leitlinien des Schweizer Presserats hinweisen, wonach »Kinder eines besonderen Schutzes bedürfen« und »bei Nachforschungen und Berichten hinsichtlich gewalttätiger Handlungen, die Kinder betreffen, äußerste Zurückhaltung angebracht ist«. Den genannten Leitlinien ist ebenfalls zu entnehmen, dass Journalisten bei Sittlichkeitsverbrechen besondere Rücksicht auf die Interessen der Opfer zu nehmen haben und keinerlei Andeutungen in Richtung ihrer Identifizierung machen sollen. Der achte Grundsatz des Anhangs zur Empfehlung (2003)13 des Ministerrats des Europarats sieht ebenfalls einen besonderen Schutz für minderjährige Parteien und für die Opfer vor [...].

(89) [...] In seinem Urteil [...] hat das Bundesgericht unterstrichen, dass minderjährige Opfer »für sich beanspruchen können, nicht die schmutzigsten Details über Eingriffe in ihre sexuelle Integrität in der Presse lesen zu müssen, mögen ihre Namen auch mit Pseudonymen versehen sein«. Der GH merkt an, dass der strittige Artikel in extensiver und detaillierter Art und Weise die sexuellen Übergriffe [...], die dem Beschuldigten zum Vorwurf gemacht wurden, unter Zuhilfenahme von Auszügen aus dem Untersuchungsakt schilderte. In den Augen des GH hätten aber derartige Informationen ein hohes Ausmaß an Schutz unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK verlangt.

(90) Der GH hält des Weiteren fest, dass der gegenständliche Artikel die Opfer ausschließlich unter der Verwendung von Pseudonymen bezeichnete. Wie das Bundesgericht ist er aber der Ansicht, dass die darin gemachten Andeutungen in ihrer Gesamtheit eine Identifizierung der Opfer gestatteten. So hat der Bf. nicht nur [...] den Vornamen und die Initialen des Familiennamens des Vaters eines der Opfer gemeinsam mit einem Foto, das ihn im Profil zeigte, sondern auch das Alter der mutmaßlichen Opfer und Informationen [...] über ihre Familien veröffentlicht.

(91) Die Tatsache, dass der Bf. den fraglichen Artikel publizierte, nachdem der Vater eines der Opfer an ihn herangetreten war, vermag ihn nicht von seinen berufsethischen Verpflichtungen zu entbinden, wonach er gegenüber den minderjährigen Opfern mit extremer Zurückhaltung agieren und auf ihre Interessen hätte Bedacht nehmen müssen, insbesondere was den Schutz ihrer Identität betrifft.

(92) Was die Interessen der Anzeigeerstatterin betrifft, stimmt der GH den Schlussfolgerungen des Bundesgerichts zu, wonach »der Umstand, dass die Untersuchung die Aufrechterhaltung der Beziehung zwischen dem Beschuldigten und seiner Lebensgefährtin nach der Anzeigeerstattung erwähnte, die Bewahrung dieses Geheimnisses aus Rücksicht ihrem Privatleben gegenüber zu rechtfertigen vermochte«. Der GH hält weiters fest, dass der Bf. – indem er Bezug auf Teile des Untersuchungsakts nahm – in einem Protokoll niedergelegte Erklärungen der Anzeigeerstatterin gegenüber der Polizei wiedergab, in denen ihr Sexualleben und ihre finanzielle Abhängigkeit vom Beschuldigten angesprochen wurden. Der GH ist daher der Ansicht, dass im gegenständlichen Artikel Informationen über rein private – sprich: intime – Angelegenheiten der Anzeigeerstatterin verbreitet wurden, die unter dem Schutz von Art. 8 EMRK standen.

(93) Bleibt festzuhalten, dass die Anzeigeerstatterin nach Erscheinen des Artikels vom Wochenmagazin Schadenersatz begehrt und ihn auch erhalten hat.

War die Strafe verhältnismäßig?

(95) Der GH stellt fest, dass [...] dem Bf. eine Geldstrafe in der Höhe von CHF 5.000,– (zum damaligen Zeitpunkt der Ereignisse ca. € 3.850,–) auferlegt wurde [...], dies kam etwa seinem durchschnittlichen Monatsgehalt gleich. Sein Arbeitgeber hat übrigens die Zahlung für ihn übernommen.

(96) Im vorliegenden Fall hatte die Sanktion die Bestrafung der Verletzung der Geheimhaltung von strafrechtlichen Untersuchungen und den Schutz des guten Funktionierens der Justiz, der Rechte des Beschuldigten auf ein faires Verfahren und der Rechte der Anzeigeerstatterin und der mußmaßlichen Opfer auf Achtung ihres Privatlebens zum Gegenstand. Unter diesen Umständen besteht für den GH kein Grund für die Annahme, dass eine derartige Sanktion das Risiko einer abschreckenden Wirkung auf die Meinungsausübungsfreiheit des Bf. oder irgendeines anderen Journalisten mit sich brachte, die Öffentlichkeit über ein laufendes Strafverfahren zu informieren.

Ergebnis

(98) Im vorliegenden Fall haben die nationalen Instanzen den Bf. nach sorgfältiger Abwägung der miteinander konkurrierenden Interessen – insbesondere unter Berücksichtigung der legitimen Interessen der zwei mutmaßlichen minderjährigen Opfer – verurteilt. Der GH vermag keinen ernsten Grund zu erkennen, seine Ansicht an die Stelle jener des Bundesgerichts zu setzen.

(99) Angesichts des Vorgesagten haben die staatlichen Behörden den ihnen in dieser Angelegenheit zukommenden Ermessensspielraum nicht überschritten. Die Verurteilung des Bf. war somit mit Blick auf die verfolgten legitimen Ziele verhältnismäßig. Folglich ist keine Verletzung von Art. 10 EMRK festzustellen (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter López Guerra).

Vom GH zitierte Judikatur:

Leempoel & S.A. ED. Ciné Revue/B v. 9.11.2006

Kurier Zeitungsverlag und Druckerei GmbH/A v. 17.1.2012 = NLMR 2012, 28

Bédat/CH v. 29.3.2016 (GK) = NLMR 2016, 152

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 6.6.2017, Bsw. 22998/13, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2017, 246) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/17_3/Y..pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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