Spruch:
Art. 1 1. Prot EMRK, Art. 1. 1. Prot EMRK iVm. Art. 14 EMRK - Kürzung von Staatsanleihen zur Bewältigung der Finanzkrise in Griechenland.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK iVm. Art. 14 EMRK (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Bei den Bf. handelt es sich um insgesamt 6.320 Personen, die griechische Staatsanleihen im Umfang von € 10.000,– bis € 1.510.000,– besitzen.
Zwischen 2009 und 2011 erfuhr Griechenland eine der schlimmsten Wirtschaftskrisen seiner Geschichte. Nachdem der griechische Staat seinen finanziellen Verpflichtungen auf den Finanzmärkten nicht mehr nachkommen konnte, sah er sich gezwungen, vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und von den Staaten der Eurozone Kredite aufzunehmen. Bei mehreren im Jahr 2011 stattfindenden EU-Gipfeln wurden private Investoren aufgefordert, an einer Lösung der griechischen Schuldenkrise mitzuwirken und eine Herabstufung des Werts ihrer Forderungen zu akzeptieren. In der Folge traten institutionelle Anleger, also Banken und andere Kreditorganisationen, unter der Führung des »Institute of International Finance« in Verhandlungen über einen Schuldenschnitt ein. Hingegen waren private Anleger wie die Bf., deren Staatsanleihen nur rund ein Prozent der Staatsschuld Griechenlands ausmachten, nicht zu den Verhandlungen geladen worden, da die griechischen und die EU-Behörden davon ausgegangen waren, dass von der Prozedur nur institutionelle Anleger betroffen wären.
Im Dezember 2011 forderte der IWF die griechischen Behörden auf, nun auch die privaten Anleihegläubiger in die Prozedur miteinzubeziehen. Am 23.2.2012 verabschiedete die griechische Regierung das Gesetz Nr. 4050/2012, mit dem der Eintausch von staatlichen Anleihen gegen andere Wertpapiere von geringerem Wert geregelt wurde. Das Gesetz enthielt eine »Collective Action Clause« (Anm: Die »Collective action clauses« wurden zur Bewältigung von Staatsschuldenkrisen eingeführt und sollen verhindern, dass ein kleiner Teil der Gläubiger, der eine Änderung der Vertragsbedingungen ablehnt, eine Umschuldung blockieren kann.) (Umschuldungsklausel), wonach die Prozedur im Fall der Zustimmung von zwei Dritteln der Anleihegläubiger automatisch auch auf alle übrigen Inhaber von Staatsanleihen Anwendung finden solle.
Nachdem es mit der Mehrheit der Anleihegläubiger zu einer Einigung über das Ausmaß des Schuldenschnitts (Anm: Man war übereingekommen, dass die neuen Anleihen 53,5?% weniger an Nennwert als die alten haben sollten.) gekommen war, wurden auch die Bf. aufgefordert, ihre Staatsanleihen gegen andere einzutauschen. Sie leisteten dieser Aufforderung jedoch keine Folge.
Im März 2012 erklärte der Gouverneur der griechischen Nationalbank, dass die Anleihegläubiger den vorgeschlagenen Änderungen zugestimmt hätten und dass 91,05?% der ausstehenden Forderungen von der Prozedur erfasst wären. Das Verhandlungsergebnis wurde vom griechischen Ministerrat gesetzlich genehmigt, worauf die Staatsanleihen – darunter auch jene der Bf. – gegen neue von geringerem Wert eingetauscht wurden.
Die dagegen erhobenen Rechtsmittel einiger der Bf. der Bsw. Nr. 63.066/14, 64.297/14 und 66.106/14 an den griechischen Staatsrat, in denen sie die Aufhebung der Entscheidung des Ministerrats wegen Verletzung ihrer Eigentumsrechte begehrten, blieben alle erfolglos.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. rügen eine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums) alleine und iVm. Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).
Verbindung der Beschwerden
(55) Der GH hält es für angemessen, die vorliegenden Beschwerden [...] zu verbinden (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK
(56) Die Bf. bringen vor, der vom Gesetz Nr. 4050/2012 vorgesehene Umtausch ihrer Anleihen stelle eine de facto-Enteignung dar und beraube sie ihres Eigentums oder bewirke – in eventualiter – einen [unzulässigen] Eingriff in ihr Recht auf Achtung des Eigentums.
(57) Im Besonderen legen sie dar, dass es im vorliegenden Fall keinen »Grund des öffentlichen Nutzens« gegeben habe, da die Reduktion der Staatsschulden um 53,5?% für den anvisierten Zeitraum 2023 bis 2042 nachteilige wirtschaftliche Auswirkungen auf private Anleihegläubiger gehabt habe, die von einer Beteiligung an den Verhandlungen von Anfang an von offizieller Seite ausgeschlossen worden wären. Außerdem könne der ohne ihre Einwilligung vorgenommene Umtausch ihrer Anleihen nicht als »im Verhältnis zum Wert ihres Eigentums angemessene« Entschädigung angesehen werden.
Zur Zulässigkeit
Zum Einwand der Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs
(59) Die Regierung gibt zu bedenken, dass aus der Akte betreffend die Bsw. Nr. 63.066/14 nicht ersichtlich wäre, ob die Bf. Nr. 193 bis Nr. 6.311 den Staatsrat angerufen hätten. In derselben Beschwerde gehe ungeachtet der Beteuerung der Bf. mit den Nr. 62-64, 74-77, 90, 124-125, 147 und 151, den Staatsrat angerufen zu haben, aus dessen Urteil Nr. 1507/2014 hervor, dass sie zu keiner Zeit Parteien dieses Verfahrens gewesen wären. Was schließlich die Bf. mit den Nr. 32, 48-49, 53-56, 58, 84, 87, 93, 132, 136, 153, 166, 176-178 und 182 angehe, hätten diese entgegen ihren Beteuerungen nicht um Annullierung der Entscheidung des Ministerrats angesucht.
(63) Der GH ist der Ansicht, dass das Vorbringen der Anwälte der Bf. der Bsw. Nr. 63.066/14, wonach ein Rechtsmittel an den Staatsrat keinen Erfolg gehabt hätte, nicht von der Verpflichtung zur Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs entbinden kann.
(64) [...] [I]m gegenständlichen Fall hätte jede Person, die sich wegen des Umtauschs ihrer Anleihen in ihrem Recht auf Achtung des Eigentums verletzt erachtete, vor Anrufung des GH ein Rechtsmittel beim Staatsrat auf Aufhebung der Entscheidung des Ministerrats einbringen müssen. Alle Bf., die ein derartiges Rechtsmittel beim Staatsrat einbrachten, haben es ungefähr im selben Zeitrahmen getan, nämlich innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Frist von zwei Monaten [...] ab Veröffentlichung der relevanten Entscheidung des stellvertretenden Wirtschaftsministers. Dazu kommt, dass der Staatsrat über diese Fragen vorher noch nie abgesprochen hatte. Zu diesem Zeitpunkt konnten jene Bf., die sich nicht an ihn gewandt hatten, den Ausgang des Verfahrens nicht vorhersehen – dies umso weniger, als dieser die Prüfung der Rechtsmittel seinem Plenum übertrug, was die Bedeutung, die er der Rechtssache beimaß, widerspiegelt.
(65) Ferner haben die Bf. selbst eingeräumt, dass nur die Bf. Nr. 1 bis 192 ihre beim Staatsrat eingebrachten Rechtsmittel aufrechterhielten. Von dieser Liste sind jedoch die Bf. Nr. 32, 48-49, 53-55, 84, 87, 93, 132, 147, 153, 166, 176-177 und 182 zu streichen, da sie dem Vorbringen der Regierung, den Staatsrat nicht angerufen zu haben, nicht entgegengetreten sind.
(66) Die Beschwerde ist somit wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs im Hinblick auf die Bf. mit der Nr. 193 bis 6.311 und die Bf. mit der Nr. 32, 48-49, 53-55, 84, 87, 93, 132, 147, 153, 166, 176-177 und 182 [...] für unzulässig zu erklären. Bezüglich der restlichen Bf. muss sie für zulässig erklärt werden (jeweils einstimmig).
Zum Einwand der fehlenden Opfereigenschaft
(67) Die Regierung bringt vor, nicht die Identität der Inhaber der vom griechischen Staat ausgegebenen Anleihen und die von diesen durchgeführten Transaktionen (Verkäufe, Verpfändung etc.) zu kennen bzw. kennen zu können. Die letztliche Identität der Inhaber der Papiere wäre nur den unterschiedlichen – solche Staatsanleihen ausgebenden – Finanz- und Bankinstitutionen bekannt. Es wäre daher an den Bf. gelegen, den Beweis dafür zu erbringen, dass sie bis zum [Stichtag] 12.3.2012 ein derartiges Vermögen besessen hätten, und zwar im Wege von beigebrachten Beglaubigungen von Depotbanken, dass sie im Besitz von dem Umtauschprozess unterliegenden Staatsanleihen wären [...].
(70) Festzuhalten ist, dass alle Bf. (einschließlich der 6.311 Bf. der Bsw. Nr. 63.066/14) zum Zeitpunkt der Einbringung ihrer Beschwerde Informationen über die amtliche Kennnummer (»International Securities Identification Number« – ISIN) ihrer Anleihen und über deren Nennwert geliefert haben. Zweitens hat der Staatsrat die Prozesslegitimation jener Bf., die ein Rechtsmittel an ihn erhoben hatten, nicht in Abrede gestellt.
(71) Unter diesen Umständen [...] sind die Bf. als »Opfer« iSd. [...] Konvention zu betrachten. Der betreffende Einwand der Regierung ist zurückzuweisen.
Ergebnis
Der vorliegende Beschwerdepunkt ist nicht offensichtlich unbegründet [...]. Da abgesehen von den Ausführungen unter Rn. 66 keine anderen Unzulässigkeitsgründe ersichtlich sind, muss er für zulässig erklärt werden (einstimmig).
In der Sache
Zur Existenz von »Eigentum« und eines Eingriffs in das Recht auf Eigentum
(91) Inhaber von griechischen Staatsanleihen, darunter die Bf., hatten kraft Art. 8 des Gesetzes Nr. 2198/1994 bei Fälligwerden ihrer Papiere gegenüber dem Staat eine Geldforderung im Ausmaß des Nennwerts ihrer Anleihen. Die Bf. durften daher die Rückzahlung der von ihnen erworbenen Staatsanleihen gemäß obigem Gesetz verlangen und verfügten somit über »Eigentum« iSv. Art. 1 1. Satz 1. Prot. EMRK.
(92) Mit Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 4050/2012 wurden die ursprünglichen Vertragsbedingungen im Wege der Einführung von »Collective Action Clauses« geändert. [...] Die Bf., welche diesen Änderungen nicht zugestimmt hatten, mussten dadurch [...] eine Verringerung des Nennwerts ihrer Anleihen um 53,5?% hinnehmen.
(93) Unter diesen Umständen teilt der GH die Ansicht der Bf., derzufolge die Modalitäten, unter denen der Umtausch ihrer Staatsanleihen erfolgte, ihre unfreiwillige Teilnahme am Schuldenschnittprozess belegen würden. Zwar reicht dies nicht aus, um zur Feststellung einer Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK zu gelangen, doch stellt die erzwungene Teilnahme der Bf. an diesem Prozess einen Eingriff in ihr Eigentumsrecht dar. [...]
(94) Entgegen der Ansicht der Bf. ist der GH der Auffassung, dass die Modifikation von ausgewählten Wertpapieren in der Art, wie es das Gesetz Nr. 4050/2012 und die strittigen ministeriellen Erlässe vorsahen, nicht als »Eigentumsentzug« iSv. Art. 1 1. Prot. EMRK angesehen werden kann. In der Tat ist es so, dass die Bf. zum Zeitpunkt des Erwerbs der Wertpapiere eine Investition tätigten, deren Wert in Abhängigkeit von den Unabwägbarkeiten des Marktes und der wirtschaftlichen Situation des Emissionärs [hier: Griechenland] schwanken konnte. Der GH erinnert daran, dass er in den Fällen Thivet/F, Bäck/FIN, Lobanov/RUS und Andreyeva/RUS, bei denen es ebenfalls um drastische Senkungen der Gläubigerforderungen ging, den ersten Satz des Art. 1 Abs. 1 1. Prot. EMRK angewandt hat. Er wird diesem Ansatz auch im vorliegenden Fall folgen. [...]
(95) Bleibt zu prüfen, ob der Eingriff im gegenständlichen Fall gerechtfertigt war.
Zur Rechtfertigung des Eingriffs in das Recht auf Achtung des Eigentums
War der Eingriff gesetzlich vorgesehen?
(99) Im vorliegenden Fall zweifelt der GH ebenso wie der griechische Staatsrat in seinem Urteil Nr. 1507/2014 nicht daran, dass der strittige Eingriff gesetzlich vorgesehen war. Der Umtausch der Anleihen der Bf. beruhte auf dem Gesetz Nr. 4050/2012, zwei Entscheidungen des Ministerrats vom 24.2. und 9.3.2012 und den Entscheidungen des stellvertretenden Wirtschaftsministers bzw. des Gouverneurs der griechischen Nationalbank vom 9.3.2012. Diese Texte waren den Bf. auch zugänglich [...].
(100) Nach Ansicht des GH waren die Konsequenzen einer eventuellen Weigerung für die Bf. vorhersehbar. [...] Zwar kann eine Gesetzgebung ad hominem [also bezogen auf eine bestimmte Person und deren Gegenstände] prinzipiell Zweifel hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit rechtsstaatlichen Prinzipien aufwerfen. Im vorliegenden Fall richtete sich das Gesetz Nr. 4050/2012 jedoch einheitlich und generell an Tausende von Wertpapierinhabern. Zudem war die Umsetzung seiner Bestimmungen von der Zustimmung einer qualifizierten Mehrheit aller Akteure abhängig gemacht worden.
Bestand ein öffentliches Interesse?
(101) Der GH notiert, dass die 2008 ihren Anfang nehmende internationale Finanzkrise gravierende Auswirkungen auf die griechische Wirtschaft hatte. Im April 2009 befand der Rat der EU, dass Griechenland ein enormes Defizit aufwies [...]. 2010 konnte es die fälligen Schulden nicht mehr begleichen. [...]
(102) Die Finanzkrise in Griechenland verschlechterte sich im Lauf der folgenden Jahre. [...]
(103) Der GH ist der Meinung, dass die nationalen Behörden während der schweren politischen, ökonomischen und sozialen Krise, die Griechenland kürzlich durchgemacht hat und immer noch durchmacht, zu einer Lösung dieser Probleme kommen mussten. Er akzeptiert daher, dass der griechische Staat berechtigterweise Maßnahmen im allgemeinen Interesse der Gemeinschaft zur Erreichung dieser Ziele, nämlich Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Stabilität und Schuldenumstrukturierung, setzen durfte.
(104) Informationen der Regierung zufolge verringerte der Eintausch der Anleihen die Staatsschulden um ungefähr 107 Milliarden Euro. Ende 2012 wurden 85?% der Schulden von Privatpersonen an die Mitgliedstaaten der Eurozone transferiert. 2013 fielen die Kosten der Schuldenabtragung beträchtlich: die für 2012 auf usprünglich 17,5 Milliarden Euro veranschlagten Zinsen beliefen sich als Folge des Umtauschs nur mehr auf 12,2 Milliarden Euro und blieben 2013 auf einem Stand von unter 6 Milliarden Euro.
(105) Der umstrittene Eingriff verfolgte somit ein im öffentlichen Interesse gelegenes Ziel.
War der Eingriff verhältnismäßig?
(110) Im vorliegenden Fall möchte der GH nicht in abstrakter Weise Schätzungen hinsichtlich des Geldbetrags vornehmen, mit dem die Bf. beim Eintausch ihrer alten Staatsanleihen rechnen hätten dürfen. Er vermerkt wie der griechische Staatsrat in seinem Urteil Nr. 1116/2014, dass der Umtausch ihrer Wertpapiere zu einem Verlust an Kapital in der Höhe von 53,5?% führte, wobei dieser angesichts der Änderung des Fälligkeitsdatums der Papiere sogar noch höher ausfiel. Zwar mag ein solcher Verlust auf den ersten Blick substanziell sein, jedoch vermag er nicht einer gesetzlich angeordneten »Vernichtung« oder unzulänglichen Begleichung ihrer Forderungen durch den griechischen Staat gleichzukommen.
(112) Nach Meinung des GH sollte Bezugspunkt für die Einschätzung des Ausmaßes des von den Bf. erlittenen Verlusts nicht der Geldbetrag sein, mit dem sie bei Fälligkeit ihrer Wertpapiere hätten rechnen dürfen. Mag auch der Nennwert der Anleihe für den Inhaber eine Art Maßstab für die zu erwartende Summe zum Fälligkeitsdatum widerspiegeln, so stellte sie [im vorliegenden Fall] dennoch nicht den wahren Marktwert zum Zeitpunkt der Verabschiedung der strittigen Regelung – hier das Gesetz Nr. 4050/2012 vom 23.2.2012 – dar. Der Marktwert war zweifellos bereits durch den Sturz Griechenlands in die Zahlungsunfähigkeit beeinflusst worden, der Mitte 2010 seinen Anfang nahm und bis Ende 2011 anhielt. Der fallende Marktwert der Anleihen der Bf. lässt vermuten, dass der griechische Staat am 20.8.2015 nicht in der Lage gewesen wäre, seinen Verpflichtungen gemäß den alten Vertragsklauseln nachzukommen, die den alten Staatsanleihen zugrunde lagen – also vor der Verabschiedung von Gesetz Nr. 4050/2012.
(113) [...] Die Tatsache, dass sich die Bf. nicht unter jenen befanden, die der »Umtauschoperation« zugestimmt hatten, sondern ihr – im Gegenteil – aufgrund der Anwendung der »Collective Action Clauses« unfreiwillig unterworfen waren, vermag die Beurteilung des vorliegenden Eingriffs als verhältnismäßig aus folgenden Gründen nicht zu beeinflussen:
(114) Falls Anleihenbesitzer wie die Bf. ein Sinken des Werts ihrer Papiere nach Implementierung der »Collective Action Clauses« befürchten mussten, hätten sie ihre Inhaberrechte ausüben und die Papiere auf dem Markt bis zum letzten Tag der Frist verkaufen können, die in der Aufforderung, bekannzugeben, ob sie dem Austausch zustimmen würden oder nicht, genannt war.
(115) Zwar trifft es zu, dass zum Datum des Austausches der ursprünglichen Wertpapiere der Bf. weder in den Papieren noch im griechischen Recht die Möglichkeit vorgesehen war, die oben genannten Klauseln in die Tat umzusetzen. Der GH will keineswegs die Tatsache aus den Augen verlieren, dass Anleihen, die ständig Transaktionen auf den nationalen und internationalen Märkten unterworfen sind, in die Hände einer sehr großen Zahl von Inhabern gelangen können. Nichtsdestotrotz handelt es sich bei den »Collective Action Clauses« um eine geläufige Praxis auf den internationalen Kapitalmärkten. So sieht etwa Art. 12 Abs. 3 des Vertrags zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus vor, dass ab 1.1.2013 alle neuen Staatsschuldtitel des Euro-Währungsgebiets mit einer Laufzeit von mehr als einem Jahr Umschuldungsklauseln enthalten. Der GH muss auch einräumen, dass für den Fall, dass unter allen Papierinhabern ein Konsens über den Plan der Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld hätte bestehen müssen oder die Operation sich exklusiv auf jene beschränkt hätte, die ihre Zustimmung erteilten, der ganze Plan mit großer Wahrscheinlichkeit fehlgeschlagen wäre.
(116) Hervorzuheben ist ferner, dass eine der von den internationalen institutionellen Anlegern zur Verringerung ihrer Forderungen gestellten Bedingungen in der Implementierung von derartigen Klauseln bestand. Hätte man diese nicht eingeführt, hätten jene, die bereit waren, dem Schuldenschnitt zuzustimmen, einen prozentmäßig höheren Schnitt hinsichtlich ihrer Forderungen hinnehmen müssen, was viele Anleiheninhaber abgeschreckt hätte, sich diesem Prozess anzuschließen. Es scheint daher so, dass die Umschuldungsklauseln und die dank diesen erfolgte Umstrukturierung der öffentlichen Schulden eine geeignete und notwendige Maßnahme zur Reduzierung der griechischen Staatsschulden und zur Verhinderung der Zahlungsunfähigkeit des griechischen Staates war.
(117) Abgesehen davon ist die Investition in Staatsanleihen nicht frei von Risiken. In der Tat kann zwischen der Ausgabe eines solchen Papiers und dem Datum der Fälligkeit eine ansehnliche Zeitspanne liegen, während der unvorhersehbare Ereignisse die Bonität des Emittenten beträchtlich verringern können, was für den Papierinhaber zu einem gewissen Vermögensverlust führen kann.
(118) Der GH hält es in diesem Zusammenhang für angebracht, einige Beweggründe anzuführen, mit denen der EuGH eine Klage von 200 – im Besitz von griechischen Staatsanleihen befindlichen – italienischen Staatsangehörigen abgewiesen hat. Demnach hätten die betroffenen privaten Anleger in Anbetracht der Wirtschaftslage Griechenlands und der Unsicherheiten, denen es damals ausgesetzt war, nicht für sich beanspruchen können, als umsichtige und gut informierte Wirtschaftsteilnehmer gehandelt zu haben, die sich auf das Bestehen berechtigter Erwartungen berufen konnten. Vielmehr wäre davon auszugehen gewesen, dass ihnen die höchst instabile Wirtschaftslage, welche die Wertschwankungen der von ihnen erworbenen griechischen Schuldtitel beeinflusste, und das erhebliche Risiko einer Zahlungsunfähigkeit Griechenlands bekannt sein mussten. Solche Transaktionen hätten auf besonders instabilen Märkten stattgefunden, die oftmals nicht kontrollierbaren Unwägbarkeiten und Risiken in Bezug auf Wertverlust oder Wertsteigerung der Schuldtitel ausgesetzt gewesen seien, was Anlass zu Spekulationen sein konnte, um innerhalb sehr kurzer Zeit hohe Renditen zu erzielen. Selbst wenn man unterstelle, dass nicht alle Kläger spekulative Transaktionen getätigt hatten, müssten ihnen dennoch die Unwägbarkeiten und Risiken eines eventuellen erheblichen Wertverlusts der erworbenen Schuldtitel bewusst sein. Dies gelte umso mehr, als sich der griechische Staat, der Emittent der Schuldtitel, schon vor dem Beginn seiner Finanzkrise 2009 einer hohen Verschuldung und einem großen Defizit ausgesetzt sah (Anm: EuG 7.10.2015, Alessandro Accorinti u.a. gg. Europäische Zentralbank (EZB), Rs. T-79/13 .).
(119) Der GH ist daher der Ansicht, dass die von Griechenland ergriffenen strittigen Maßnahmen das faire Gleichgewicht zwischen dem allgemeinen Interesse und dem Schutz der Eigentumsrechte der Bf. nicht zerstört haben und dass ihnen dadurch keine spezielle und exzessive Last auferlegt wurde.
(120) Mit Rücksicht auf den weiten staatlichen Ermessensspielraum in diesem Bereich waren die gegenständlichen Maßnahmen nicht unverhältnismäßig zum gesetzlich verfolgten Ziel. Es hat somit keine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK stattgefunden (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK iVm. Art. 14 EMRK
(121) Die Bf. der Bsw. Nr. 66.106/14 bringen vor, [in ihren Eigentumsrechten] diskriminiert worden zu sein – und zwar gegenüber a) den »großen Gläubigern«, die Wertpapiere im Wert von mehreren Milliarden Euro besessen hätten; b) Inhabern von Wertpapieren, die dem Umtausch zugestimmt hätten; c) den professionellen Anlegern aus der Finanzmarktbranche; d) Inhabern, die Anleihen nach dem 31.12.2011 zu einem niedrigeren Schnitt ihres Nennwerts und unabhängig von ihrem Umtausch erworben hätten; e) juristischen Personen, insbesondere Banken; f) natürlichen Personen – kleinen Anlegern, die ihre Ersparnisse bei Banken deponiert oder unter Garantie des Staates stehende Staatsanleihen erworben hätten; g) Inhabern von Wertpapieren, die ausländischem Recht unterstanden; h) Gläubigern aus dem öffentlichen Sektor (zum Beispiel andere Staaten, internationale Einrichtungen wie etwa die EZB).
(123) Die Beschwerde ist für zulässig zu erklären (einstimmig).
(124) Die Bf. legen dar, sie seien durch das Gesetz Nr. 4050/2012 und die dieses umsetzende Entscheidung des Ministerrats vom 24.2.2012 in einer unterschiedlichen und nicht vergleichbaren Situation gleich behandelt worden, obwohl der gesamte Umtauschprozess ursprünglich auf Staatsanleihen erwerbende juristische Personen, vor allem institutionelle und professionelle Anleger, abgezielt hätte – und nicht auf natürliche Personen, die darin »in letzter Minute« eingebunden worden wären. Private Individuen einschließlich kleiner Anleger (deren Kapital oftmals 100.000 Euro nicht überschritten habe) hätten eine begrenzte Lebenserwartung und es mangelten ihnen die professionellen Kenntnisse von juristischen Personen auf dem Finanzmarkt, welche die wirtschaftlichen Risiken in vollem Wissen um die Fakten auf sich nehmen würden. Die kleinen Anleger mit den institutionellen Anlegern gleichzustellen und sie der gleichen Gesetzgebung zu unterwerfen, sei bar jeder Vernunft. Sie verweisen in diesem Zusammenhang auf eine Erklärung des griechischen Wirtschaftsministers vom 7.3.2012, in der er die Notwendigkeit der Einrichtung eines Kompensationsmechanismus für die kleinen Anleger angekündigt habe.
(133) Der GH weist darauf hin, dass die Frage der angeblichen unterschiedlichen Behandlung von natürlichen Personen und – allgemeiner – von Individuen, die nicht an den dem Umtauschprozess vorangehenden Verhandlungen teilgenommen hatten, vom griechischen Staatsrat in seinem Urteil Nr. 1116/2014 geprüft wurde. Letzterer bekräftigte, dass das Verfassungsprinzip der Gleichheit vor dem Gesetz den Staat nicht dazu verpflichte, gewisse seiner Gläubiger – nämlich natürliche Personen, die sich als Sparer und nicht als Investor sehen würden – aufgrund ihrer persönlichen Situation (Lebenserwartung und wirtschaftliche Situation) vorteilhafter zu behandeln. Hingegen würde dieser Grundsatz ein Vorgehen »auf gleicher Stufe« insofern erfordern, als für den Fall der Unmöglichkeit der Befriedigung aller Gläubiger jeder einzelne von ihnen im Verhältnis zu seinem Anteil befriedigt werden könne.
(134) Der GH hält es im vorliegenden Fall nicht für notwendig, jede einzelne der von den Bf. vorgebrachten acht Hypothesen zur angeblichen Ungleichbehandlung [...] zu prüfen. Er wird die vorliegende Beschwerde aus dem Blickwinkel der aus den alten Staatsanleihen resultierenden Rechte der Bf. und des Umtausches ihrer Anleihen aufgrund der Notwendigkeit der Umstrukturierung der Staatsschulden Griechenlands und des Erhalts der Zahlungsfähigkeit des griechischen Staats betrachten.
(135) Der GH notiert, dass der griechische Staatsrat in seinem Urteil vom 22.4.2014 ausgesprochen hat, dass das Gleichheitsprinzip [...] vom Staat nicht verlange, gewissen Gläubigern eine privilegierte Behandlung auf der Basis von persönlichen Gegebenheiten und subjektiven Kriterien zukommen zu lassen. Aber auch gesetzt den Fall, die Behauptung der Bf., sie wären in einer unterschiedlichen Situation gleich behandelt worden, wäre fundiert, hat der GH eine Reihe von objektiven und angemessenen Beweggründen identifiziert, die eine derartige Behandlung zu rechtfertigen vermögen:
(136) Erstens ist die Schwierigkeit der Auffindung der betroffenen Anleger ein gewichtiges Argument. Der Anleihemarkt ist sehr instabil. Da mit Anleihen Handel getrieben werden kann, haben viele individuelle Anleger ihre Anleihe auf dem Zweitmarkt – und nicht auf dem Erstmarkt – erworben. Zwar wäre es dem griechischen Staat möglich gewesen, die individuellen Inhaber von Wertpapieren über das ausliefernde Institut zu ermitteln, jedoch hätte eine solche – auf den gesamten Kapitalmarkt abstellende – Recherche [...] eine »Umtauschsperre« notwendig gemacht und das relevante Verfahren zu einem Zeitpunkt exzessiv in die Länge gezogen, zu dem Griechenland in argen finanziellen Nöten war und Hilfe brauchte.
(137) Zweitens bestand die Schwierigkeit, detaillierte Unterscheidungskriterien zwischen den Anlegern untereinander herauszuarbeiten. Auf der einen Seite war es problematisch, nach den Umständen des Falles zwischen natürlichen und juristischen Personen oder zwischen professionellen und nicht-professionellen Anlegern zu differenzieren: Man kann aus dem Besitz von Anleihen erfließende Rechte nicht nach dem Status des Inhabers unterschiedlich behandeln. Auf der anderen Seite wäre es aus praktischer oder rechtlicher Sicht schwierig gewesen, den von den Bf. beanspruchten Status des »Kleinanlegers« abzugrenzen. In dieser Hinsicht ist darauf hinzuweisen, dass mehrere Bf. in ihrer Eigenschaft als Privatpersonen beträchtliche Summen für ihre Anleihen aufgewendet haben, von denen manche 100.000 Euro überstiegen. Auch unter der Annahme, dass dieser Betrag theoretisch als Maßstab für die Vornahme einer Unterscheidung zwischen Inhabern von Wertpapieren herangezogen werden könnte, wäre es unfair, ein eine solche Summe investierendes Individuum von der Operation auszuschließen, während ein Unternehmen, welches eine viel niedrigere Summe investiert hat, lediglich aus dem Grund miteinbezogen wird, dass es eine juristische Person oder ein Kapitalanleger ist.
(138) Drittens nimmt der GH das Vorbringen der griechischen Regierung zur Kenntnis, wonach das Risiko bestanden habe, dass die gesamte Operation gefährdet worden wäre – mit verheerenden Folgen für die griechische Wirtschaft. Demnach hätte die bloße Ankündigung seitens der griechischen Behörden, dass bestimmte Kategorien von Anlegern von der Umtauschoperation ausgenommen wären, einen Massentransfer von Anleihen in diese Kategorien zur Folge gehabt, was nicht nur zu einer Reduktion des für die Umstrukturierung notwendigen Kapitals, sondern auch zu einer drastischen Verringerung des Nennwerts von Gläubigerpapieren der nicht ausgenommenen Anleger geführt hätte. Außerdem wäre durch einen solchen Transfer das Umtauschverfahren gefährdet gewesen und hätte sogar zur Zahlungsunfähigkeit Griechenlands [...] führen können, war es doch von den internationalen Märkten ausgeschlossen und waren nur seine europäischen Partner bereit, es zu finanzieren – ab 2011 allerdings nur unter der Bedingung, dass der private Sektor auch daran teilnahm.
(139) Viertens hat der GH die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Dynamik der Operation und eines raschen Handelns zu berücksichtigen. Von den griechischen Behörden zum Zeitpunkt der – in aller Hast erfolgten – Verabschiedung von Gesetz Nr. 4050/2012 zu verlangen, dass sie eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Typen von Investoren/Inhabern von Anleihen treffen und manche von ihnen von der Umtauschoperation ausschließen, hätte ihnen eine besonders schwierige Aufgabe aufgebürdet – dies zudem mit dem Risiko, dass sich die gesamte Operation als kontraproduktiv erweisen würde, was die Realisierbarkeit des Umtausches und die für die Gewährleistung eines erfolgreichen Schuldenumstrukturierungsprozesses er-forderliche Dynamik anging.
(140) Im Übrigen ist zu bemerken, dass der griechische Staatsrat in seinem Urteil Nr. 1116/2014 bekräftigt hat, dass das Gesetz Nr. 4050/2012 zwar einen Eingriff in die Eigentumsrechte der Anleger [...] bewirkt habe, der Genuss dieser Rechte jedoch nicht frei von Risiken sei. Er befand, dass die strittigen Einschränkungen, die auf einem festgelegten Prozentsatz und einer anteilsmäßigen Basis beruhten, entsprechend der Höhe der Staatsschulden dem privaten Sektor gegenüber, dem [...] Gleichheitsprinzip nicht zuwiderliefen. Besagte Einschränkungen erfolgten per Gesetz mit gewiss schweren Folgen für die Gesellschaft, bezweckten aber die Bewältigung einer besonders ungünstigen Konjunktur [...].
(142) Es ist somit keine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK erfolgt (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Thivet/F v. 24.10.2000 (ZE)
Bäck/FIN v. 20.7.2004 = NL 2004, 186
Yuriy Lobanov/RUS v. 2.12.2010
Andreyeva/RUS v. 10.4.2012
Da Silva Carvalho Rico/P v. 1.9.2015 (ZE) = NLMR 2015, 456
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 21.7.2016, Bsw. 63066/14, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2016, 353) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/16_4/Mamatas.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.
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