EGMR Bsw56778/10

EGMRBsw56778/1030.6.2016

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Foltis gg. Deutschland, Urteil vom 30.6.2016, Bsw. 56778/10.

 

Spruch:

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 14 EMRK iVm. Art. 6 Abs. 1 EMRK - Eintritt der Verjährung trotz innerhalb der Frist eingebrachtem Antrag auf Prozesskostenhilfe.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

 

Begründung:

Sachverhalt:

Der als Anwalt tätige Bf. wurde 1999 als Insolvenzverwalter eines Unternehmens bestellt. Im Juli 2002 erhob er in dieser Eigenschaft Klage auf Zahlung von rund € 56.000,– gegen eine ehemalige Kommanditistin des Unternehmens. In der Klage fand sich ein Hinweis auf weitere Ansprüche über rund € 1.700.000,– gegen die Beklagte, deren Geltendmachung aus Kostengründen vorläufig zurückgestellt werde. Am 30.12.2004 beantragte der Bf. Prozesskostenhilfe für die erhobene Klage sowie für die nunmehr beabsichtigte Klageerweiterung. Die gesetzliche Verjährungsfrist für diese Ansprüche endete am 31.12.2004. Der Schriftsatz wurde zum Akt genommen und nicht weiter bearbeitet. Auch die Beklagte wurde nicht darüber informiert. Der Bf. richtete ab März 2005 mehrmals schriftliche Nachfragen über die Gewährung von Verfahrenshilfe an das Landgericht, erhielt jedoch keine Antwort. Auch auf telefonische Nachfrage wurde ihm keine Auskunft erteilt, weil sich der Akt beim Vorsitzenden befände. Am 11.5.2007 bewilligte das Landgericht rückwirkend Prozesskostenhilfe. Dieser Beschluss wurde der Beklagten am 16.5.2007 zugestellt. Am 5.7.2007 stellte das Landgericht mit einem weiteren Beschluss klar, dass sich die Prozesskostenhilfe auch auf die Klageerweiterung bezog. Am 20.7.2007 brachte der Bf. den Klageerweiterungsschriftsatz ein. Dieser wurde der Beklagten am 25.7.2007 zugestellt.

Das Landgericht verurteilte die Beklagte am 19.11.2008 zur Zahlung von € 15.338,76 und wies die Klage im Übrigen ab. Im Hinblick auf die Klageerweiterung führte es aus, dass die geltend gemachte Forderung mit 31.12.2004 verjährt sei. Das Gesuch auf Prozesskostenhilfe habe keine Hemmung der Verjährung bewirkt, weil die Bekanntgabe dieses Antrags an die Beklagte erst im Mai 2007 und damit nicht mehr »demnächst« iSv. § 204 Abs. 1 Nr. 14 BGB erfolgt sei (Anm: Demnach wird die Verjährung durch »die Veranlassung der Bekanntgabe« des Antrags auf Prozesskostenhilfe gehemmt. Die Einreichung des Antrags genügt für die Hemmung der Verjährung, sofern die Bekanntgabe »demnächst nach der Einreichung des Antrags veranlasst« wird.) . Nach ständiger Rechtsprechung sei diese Ausnahme so auszulegen, dass der Kläger mit der gebotenen Sorgfalt handeln müsse, damit die Bekanntgabe des Antrags »demnächst« erfolgt. Dies habe der Bf. verabsäumt, da er das Landgericht weder auf die drohende Verjährung hingewiesen noch um eine sofortige Bekanntgabe an die Beklagte ersucht hätte.

Ein Antrag des Bf. auf Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren wurde vom OLG Frankfurt/Main abgewiesen, weil die beabsichtigte Berufung wegen der Verjährung der Ansprüche keine Aussicht auf Erfolg hatte.

Das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde des Bf. am 19.7.2010 nicht zur Entscheidung an (1 BvR 1873/09).

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf Zugang zu einem Gericht) und von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

(29) Der Bf. rügte in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter des Unternehmens, dass das OLG seinen Antrag auf Prozesskostenhilfe abgewiesen hatte, weil es seine Ansprüche als verjährt ansah [...].

Zulässigkeit

(31) Der GH stellt fest, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK ist. Da sie auch nicht aus einem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

(37) [...] Die Konvention enthält keine Verpflichtung, für alle Zivilprozesse Verfahrenshilfe zur Verfügung zu stellen, da sich der Wortlaut von Art. 6 Abs. 1 EMRK, der keinen Bezug zu Verfahrenshilfe enthält, klar von jenem des Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK unterscheidet, der in Strafverfahren unter bestimmten Bedingungen ein Recht auf unentgeltlichen Beistand eines Verteidigers garantiert. Das Recht auf Zugang zu einem Gericht ist damit nicht absolut und kann Einschränkungen unterworfen werden, vorausgesetzt diese verfolgen ein legitimes Ziel und sind verhältnismäßig. Es kann insbesondere akzeptabel sein, Voraussetzungen für die Gewährung von Verfahrenshilfe vorzusehen, die unter anderem auf der finanziellen Situation des Klägers oder seinen Erfolgsaussichten im Verfahren beruhen, solange das System der Verfahrenshilfe dem Einzelnen substantielle Garantien zum Schutz vor Willkür bietet.

(39) Wie der GH festgestellt hat, dienen Verjährungsfristen den legitimen Zielen der Sicherstellung von Rechtssicherheit und Endgültigkeit, dem Schutz potenzieller Beklagter vor veralteten Klagen, die schwer abzuwehren sein könnten, und der Verhinderung von Ungerechtigkeit, die sich ergeben könnte, wenn die Gerichte anhand von Beweisen, die durch den Zeitablauf unverlässlich und unvollständig geworden sein können, über weit zurückliegende Ereignisse entscheiden müssen.

(41) Der GH bemerkt, dass der Bf. in seiner Rolle als Insolvenzverwalter mit der Einbringung eines Antrags auf Prozesskostenhilfe für eine Klage betreffend Ansprüche in der Höhe von rund € 1.700.000,– bis zum vorletzten Tag der dreijährigen Verjährungsfrist gewartet hat. Dieser Antrag unterbrach den Fristenlauf nicht. In Folge einer Gesetzesänderung, die Anfang 2002 in Kraft getreten war, wurde der Fristenlauf für die Verjährung gemäß § 204 Abs. 1 Z. 14 BGB nur gehemmt, wenn das zuständige Gericht die Bekanntgabe gegenüber der beklagten Partei veranlasste.

(42) [...] Davon ausgehend, dass die Unterbrechung oder Hemmung der Verjährungsfrist voraussetzte, dass der Beklagte von der Absicht einer Klage gegen ihn erfahren konnte, wählte der deutsche Gesetzgeber einen Akt, der mit der Bekanntgabe des Antrags auf Prozesskostenhilfe gegenüber der beklagten Partei im Zusammenhang stand. Dies diente dem Zweck, die legitimen Interessen des Beklagten am Schutz seiner Position und an der Klarstellung der rechtlichen Situation durch die Verjährung zu schützen. Aus Beweisgründen entschied sich der Gesetzgeber dazu, dass der Fristenlauf durch den gerichtlichen Akt der Veranlassung der Bekanntgabe gegenüber dem Beklagten gehemmt wurde und nicht durch die tatsächliche Bekanntgabe. Diese Überlegungen sind für den GH ausreichend um zu dem Schluss zu kommen, dass § 204 Abs. 1 Nr. 14 BGB nicht per se unvereinbar mit der Konvention war.

(43) Im vorliegenden Fall traf das Landgericht vor dem Ablauf der Verjährungsfrist am 31.12.2004 keine Veranlassung für die Bekanntgabe. Der Fristenlauf für die Verjährung konnte daher nur rückwirkend gehemmt werden. Diese Ausnahme wurde in das innerstaatliche Recht aufgenommen, um Kläger für potenzielle Nachteile zu entschädigen, die aus Verzögerungen seitens des zuständigen Gerichts resultieren konnten. Eine solche rückwirkende Hemmung setzte voraus, dass das zuständige Gericht die Bekanntgabe des Antrags »demnächst« veranlasste. Wie das BVerfG feststellte, verabsäumte das Landgericht in grob fehlerhafter Weise die Veranlassung der Bekanntgabe an Frau B.. Diese erfuhr von dem Antrag auf Prozesskostenhilfe erst, als ihr der Beschluss des Landgerichts über die Gewährung von Prozesskostenhilfe an den Bf. am 16.5.2007 zugestellt wurde, also etwa zweieinhalb Jahre nach Ablauf der Verjährungsfrist. Sowohl das Landgericht in seinem Urteil vom 19.11.2008 als auch das OLG in seiner Entscheidung vom 22.6.2009 stellten fest, dass der Bf. nicht mit der gebotenen Sorgfalt gehandelt und so zu der Verzögerung beigetragen hatte. Unter solchen Umständen waren die Voraussetzungen für eine Rückwirkung der Bekanntgabe nicht gegeben, wie das BVerfG feststellte.

(44) [...] Wie der GH bemerkt, folgte die Entscheidung des OLG, über die sich der Bf. beschwert, aus dem Wortlaut von § 204 Abs. 1 Nr. 14 BGB und der Rechtsprechung des BGH zur Auslegung des Begriffs »demnächst« im Zusammenhang mit der rückwirkenden Hemmung des Fristenlaufs.

(45) Es stimmt, dass es Aufgabe des Landgerichts war, die Bekanntgabe des Antrags auf Prozesskostenhilfe des Bf. an Frau B. zu veranlassen und dass dies vom Landgericht grob fehlerhaft verabsäumt wurde, wie das BVerfG festgestellt hat. Allerdings beschränkte sich der Bf. darauf, einen Antrag auf Prozesskostenhilfe zu stellen. Wie das BVerfG bestätigte, hat das OLG zu Recht berücksichtigt, dass der Bf. das Landgericht weder auf den unmittelbar bevorstehenden Ablauf der Verjährungsfrist hingewiesen noch um eine sofortige Bekanntgabe an die Beklagte ersucht hat, was ihm ohne Kosten oder prozessuale Nachteile möglich gewesen wäre. Auch hat er sich nicht speziell über die Bekanntgabe an die Beklagte erkundigt, als er in weiterer Folge das Landgericht im Zusammenhang mit seinem Antrag auf Prozesskostenhilfe kontaktierte. [...]

(46) Der GH berücksichtigt weiters, dass der Bf. selbst Rechtsanwalt ist und ihm die nach der am 1.1.2002 in Kraft getretenen gesetzlichen Änderung geltenden Regeln betreffend die Hemmung der Verjährungsfrist bekannt gewesen sein mussten. Darüber hinaus war er aufgrund seiner Stellung als Insolvenzverwalter zu besonderer Sorgfalt verpflichtet. [...]

(47) Der GH betont, dass die rückwirkende Hemmung des Ablaufs der Verjährungsfrist eine Ausnahme von der Regel darstellte und voraussetzte, dass eine solche Rückwirkung nicht den legitimen Interessen des Beklagten widersprach. Im vorliegenden Fall erfuhr die Beklagte erst nach Ablauf der Verjährungsfrist vom Verfahrenshilfeantrag des Bf. und sie hatte ein legitimes Interesse am Schutz ihrer Rechtspositionen.

(48) Angesichts aller Umstände findet der GH, dass die Auslegung der anwendbaren rechtlichen Bestimmungen betreffend Prozesskostenhilfe und Verjährung durch die innerstaatlichen Gerichte nicht als willkürlich angesehen werden kann. Es kann nicht gesagt werden, dass die Verweigerung von Verfahrenshilfe das Recht des Bf. in seiner Rolle als Insolvenzverwalter auf Zugang zu einem Gericht in einer Art. 6 Abs. 1 EMRK widersprechenden Weise unverhältnismäßig eingeschränkt hätte.

(49) Folglich hat keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 6 Abs. 1 EMRK

(50) Der Bf. behauptet [...], er sei in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter eine mittellose Partei und als solche gegenüber einem Kläger mit ausreichenden finanziellen Mitteln benachteiligt worden. [...] Wäre er ein Kläger mit ausreichenden Mitteln, der eine Klage einbringen hätte können, ohne zuvor Prozesskostenhilfe zu beantragen, wären die Ansprüche, um die es ging, nicht verjährt.

(52) Dieser Beschwerdepunkt steht im Zusammenhang mit dem oben geprüften und muss daher ebenfalls für zulässig erklärt werden (einstimmig).

(53) Der Sachverhalt fällt in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK. Folglich ist Art. 14 EMRK anwendbar.

(56) Nach dem innerstaatlichen Recht war in jedem Szenario eine Handlung des zuständigen Gerichts erforderlich, um die Verjährungsfrist zu unterbrechen: im Fall eines Klägers mit ausreichenden finanziellen Mitteln war eine förmliche Zustellung der Klage an die beklagte Partei notwendig, die der Kläger nicht selbst herbeiführen konnte. Im Fall eines mittellosen Klägers wie dem Bf. in seiner Rolle als Insolvenzverwalter hatte das zuständige Gericht die Bekanntgabe des Antrags auf Verfahrenskostenhilfe an die beklagte Partei zu veranlassen.

(57) Der GH stellt weiters fest, dass das innerstaatliche Recht in beiden Szenarien den Klägern bestimmte Verpflichtungen auferlegte, um die Verjährungsfrist zu hemmen. Ein Kläger mit ausreichenden finanziellen Mitteln durfte sich nicht auf die Einbringung der Klage beschränken, sondern musste das Gericht daran erinnern, ihn zur Zahlung der notwendigen Gerichtsgebühren aufzufordern, oder die Gebühren von sich aus entrichten, wenn es das Gericht verabsäumte, ihn dazu aufzufordern, um die Zustellung der Klage zu bewirken. Ein mittelloser Kläger musste die sofortige Bekanntgabe des Antrags auf Prozesskostenhilfe an die beklagte Partei begehren und das Gericht daran erinnern, diese Bekanntgabe zu veranlassen. Nach Ansicht des GH waren die jeweiligen Verpflichtungen beider Gruppen von Klägern beinahe identisch und eine etwaige unterschiedliche Behandlung überschreitet nicht den Ermessensspielraum der Vertragsstaaten bei der Regelung des Zugangs zu einem Gericht.

(58) Folglich hat keine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 6 Abs. 1 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Del Sol/F v. 26.2.2002

Steel und Morris/GB v. 15.2.2005 = NL 2005, 27

Howald Moor u.a./CH v. 11.3.2014 = NLMR 2014, 122

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 30.6.2016, Bsw. 56778/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2016, 252) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/16_3/Foltis.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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