Spruch:
Art. 10 EMRK - Pietätlose Äußerungen gegenüber der kurz zuvor verstorbenen Bundesministerin.
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 10 EMRK (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Zum Zeitpunkt der Ereignisse arbeitete der Bf. für den Verein »Asyl in Not«, welcher Asylwerber und Flüchtlinge rechtlich und sozial unterstützt. Mit 1.1.2006 trat das Fremdenrechtspaket 2005 in Kraft, das eine Reihe von Gesetzen über den Status von Fremden und Flüchtlingen sowie die jeweiligen Verfahren änderte. Am 31.12.2006 starb unerwartet die damalige Innenministerin im Alter von 55 Jahren an einem Aneurysma.
Am 1.1.2007 veröffentlichte der Bf. eine Stellungnahme auf der Homepage des Vereins unter dem Titel: »Eine weniger. Was kommt danach?« Es folgte dieser Text: »Die gute Meldung zum Jahresbeginn: L. P., Bundesministerin für Folter und Deportation, ist tot.« »L. P. war eine Schreibtischtäterin, wie es viele gab in der grausamen Geschichte dieses Landes; völlig abgestumpft, gleichgültig gegen die Folgen ihrer Gesetze und Erlässe, ein willfähriges Werkzeug einer rassistisch verseuchten Beamtenschaft. Kein anständiger Mensch weint ihr eine Träne nach.« Der Bf. beendete den Text mit der Andeutung, dass es sein Ziel im neuen Jahr sei, für einen neuen Minister zu kämpfen, welcher die von L. P. verursachten Schäden wiedergutmachen würde, damit Österreich wieder zu einem Land werden könne, wo Asylwerber willkommen wären und Menschenrechte respektiert würden.
G. P., der Ehemann der verstorbenen Ministerin, brachte eine Privatanklage wegen übler Nachrede gegen den Bf. und den Verein ein. Am 19.9.2007 verurteilte das LG für Strafsachen Wien den Bf. wegen übler Nachrede zu einer Geldstrafe in Höhe von € 1.200,–. Das Gericht befand, dass der durchschnittliche Leser die entsprechenden Äußerungen so verstehen würde, dass L. P. sowohl Folter im Zuge von Abschiebungen oder die Deportation von Gefangenen angeordnet oder toleriert und somit die Menschenrechte verletzt hätte. Die Veröffentlichung dieser Äußerungen hätte beträchtliche Reaktionen durch die Medien und die Öffentlichkeit ausgelöst. Als Antwort darauf hatte der Bf. am 9.1.2007 in einer Tageszeitung eine Entschuldigung gegenüber den Familienmitgliedern von L. P. veröffentlicht und erklärt, dass seine Äußerungen allein gegen L. P. gerichtet gewesen wären und ihre Angehörigen nicht für die menschenunwürdige Politik verantwortlich seien.
Das LG fand, dass kritische Meinungsäußerungen von Flüchtlingsvereinen gegenüber Politikern und deren Gesetzgebungsvorhaben ein wichtiges korrigierendes Element darstellten und dass die Grenzen zulässiger Kritik im vorliegenden Fall besonders weit wären. Das Gericht war der Auffassung, dass die zulässige Kritik der Gesetzesänderungen die Anschuldigungen gegenüber L. P. nicht rechtfertigten, welche ihr sowohl eine nationalsozialistische und rassistische Positionierung als auch die Tolerierung vorsätzlicher Misshandlungen von Häftlingen in Abschiebe- oder Ausweisungshaft unterstellten. Solche Anschuldigungen gegen die erst kürzlich verstorbene L. P. – zusammen mit der Äußerung, dass kein anständiger Mensch ihren Tod betrauern würde – würden deutlich über die Grenzen zulässiger Kritik in einer demokratischen Gesellschaft hinausgehen.
Der Bf. erhob Berufung an das OLG Wien. Das Gericht wies diese am 7.5.2008 ab. Selbst wenn es sich bei den Äußerungen um politische Wertungen handle, habe der Bf. keinen Beweis und keine Tatsachengrundlage für seine Vorwürfe vorgebracht.
Am 7.11.2008 brachte der Bf. einen Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens nach § 363a StPO ein. Am 14.9.2009 lehnte der OGH den Antrag ab und erläuterte, dass die weiten Grenzen der tolerierbaren Kritik im politischen Diskurs keine exzessiven Werturteile ohne jegliche Tatsachengrundlage umfassen würden. Die Gerichte wären zu Recht zum Ergebnis gelangt, dass der fragliche Text die Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit des Bf. rechtfertigen würde. Das Werturteil, das L. P. kriminelles Verhalten vorwarf, habe keine Tatsachengrundlage. Die Gerichte hätten das beträchtliche öffentliche Interesse an der Diskussion über die Migrations- und Asylpolitik nicht falsch bewertet. Die Äußerungen des Bf. hätten aber keinen Beitrag dazu geleistet, da sie nur auf die Diffamierung und Herabsetzung der verstorbenen Ministerin gerichtet gewesen wären.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Recht auf freie Meinungsäußerung) durch die Entscheidungen der österreichischen Gerichte.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK
(24) Der GH stellt fest, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet und auch nicht aus anderen Gründen unzulässig ist. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
(25) Nach Ansicht des GH ist es unstrittig zwischen den Parteien, dass das Urteil des LG Wien vom 19.9.2007, das durch das OLG bestätigt wurde, einen Eingriff in das Recht des Bf. auf freie Meinungsäußerung darstellt.
(26) Ein Eingriff verletzt Art. 10 EMRK nicht, wenn dieser gesetzlich vorgesehen ist, ein berechtigtes Ziel gemäß Abs. 2 verfolgt und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig für die Erreichung eines oder mehrerer dieser Ziele ist. [...]
(32) Ohne Zweifel erlaubt Art. 10 Abs. 2 EMRK den Schutz des »guten Rufs« anderer, also aller Personen. Allerdings müssen in solchen Fällen die Anforderungen des Schutzes gegen die Interessen an einer offenen Diskussion politischer Angelegenheiten abgewogen werden. […] Ein Angriff auf den »guten Ruf« einer Person muss eine gewisse Schwere erreichen und dem persönlichen Genuss des Rechts auf Achtung des Privatlebens abträglich sein. Die innerstaatlichen Instanzen sind daher mit der schwierigen Aufgabe der Abwägung zweier widerstreitender Werte konfrontiert, nämlich der Meinungsäußerungsfreiheit auf der einen und dem Recht auf Achtung des »guten Rufs« auf der anderen Seite.
(34) Der GH hatte bereits die Gelegenheit, die relevanten Kriterien festzusetzen, welche als Beurteilungsmaßstab in diesem Bereich heranzuziehen sind. […] Die […] wesentlichen Kriterien sind: der Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse, die Bekanntheit der betroffenen Person, der Gegenstand der Berichterstattung, das frühere Verhalten der betroffenen Person, die Art der Erlangung von Informationen und ihr Wahrheitsgehalt, der Inhalt, die Form und die Auswirkungen der Veröffentlichung und gegebenenfalls die Umstände, unter denen die Äußerung gemacht wurde.
(35) Der angemessene Umgang mit den Toten und der Respekt vor den Gefühlen der Verwandten des Verstorbenen fällt in den Anwendungsbereich des Art. 8 EMRK. Auf der anderen Seite lässt Art. 10 Abs. 2 EMRK wenig Spielraum für Einschränkungen der Meinungsäußerung auf dem Gebiet der politischen Rede oder Debatte – wo die Freiheit der Meinungsäußerung von größter Bedeutung ist – oder im Interesse der Allgemeinheit. Daher sind die Grenzen zulässiger Kritik hinsichtlich eines Politikers weiter gezogen als bei Privatpersonen. Anders als diese setzen sich die Politiker unvermeidlich und wissentlich der eingehenden Kontrolle aller ihrer Worte und Taten durch die Presse und die allgemeine Öffentlichkeit aus und müssen daher ein größeres Maß an Toleranz zeigen. […]
(40) Der GH weist darauf hin, dass der Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung des Bf. auf den §§ 111 und 117 Abs. 5 StGB beruhte. Diese Bestimmungen sind hinreichend genau formuliert, um einem Bürger zu ermöglichen, sein Handeln zu regeln, und der Bf. brachte kein vernünftiges Argument gegen diese Annahme vor. Daher ist der Eingriff gesetzlich vorgesehen.
(41) Des Weiteren teilt der GH die Auffassung der Regierung, dass der Eingriff in Art. 10 Abs. 2 EMRK das berechtigte Ziel des Schutzes des »guten Rufes und der Rechte anderer« verfolgt, nämlich die der L. P., ihrer Familienmitglieder und ihres Ehemannes […].
(42) Nach Ansicht des GH und der Parteien betrafen die Äußerungen des Bf. eine Frage von öffentlichem Interesse und können als Beitrag zu einer politischen Diskussion von öffentlichem Interesse bezüglich der Situation von Asylwerbern und Ausländern unter dem damals neuen Fremdenpolizeigesetz 2005 und dem Asylgesetz 2005 gesehen werden. […]
(43) Der GH stellt fest, dass die innerstaatlichen Gerichte die Stellungnahmen als Werturteil einordneten. Der GH wird unter der Annahme fortfahren, dass diese Einordnung korrekt ist.
(44) Es ist unbestritten, dass L. P. als Innenministerin eine Person des öffentlichen Lebens war und sich die Allgemeinheit zum Zeitpunkt der umstrittenen Äußerungen an sie erinnerte. Die Pressemitteilung wurde allerdings einen Tag nach ihrem unerwarteten Tod veröffentlicht, was eine Tatsache darstellt, welche die Auswirkungen der verwendeten Wörter intensiviert. Die Äußerungen des Bf. wurden innerhalb der Trauerzeit der Familie veröffentlicht und waren geeignet, den guten Ruf der verstorbenen Ministerin wesentlich zu beeinträchtigen.
(45) Der GH stellt fest, dass der Zeitpunkt der umstrittenen Äußerungen einen wesentlichen Umstand im vorliegenden Fall darstellt und daher beim Ausgleich zwischen den kollidierenden Rechten nach Art. 8 und Art. 10 EMRK berücksichtigt werden muss. Die Äußerungen des Bf. waren Ausdruck der Zufriedenheit über den plötzlichen Tod von L. P. Beleidigungen gegenüber einer vor einem Tag verstorbenen Person widersprechen dem fundamentalen Anstand und Respekt gegenüber den Menschen und sind ein Angriff auf den Kern der Persönlichkeitsrechte.
(46) In Hinsicht auf den Inhalt der Äußerungen des Bf. ist der GH der Auffassung, dass der Bf. den Inhalt nicht auf eine allgemeine und wesentliche Weise erörterte, sondern unmittelbar einen persönlichen Angriff gegen die verstorbene Ministerin startete. Zuerst äußerte er sich zufrieden über ihren Tod und behauptete, dass kein anständiger Mensch über ihr Ableben Trauer empfinden würde und stellte dann einen Vergleich zu hochrangigen Nazi-Beamten her, welche Gräueltaten begangen und für Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkrieges verantwortlich waren, indem er sie »Schreibtischtäterin« nannte. Es ist richtig, dass »Der Standard« im Januar 2007 eine Entschuldigung des Bf. gegenüber der Familie von L. P. veröffentlichte, aber selbst vor dem GH bestand er darauf, dass der Vergleich mit einem Nazi-Kriegsverbrecher richtig und gerechtfertigt gewesen sei. Der GH ist der Auffassung, dass solche schwerwiegenden und besonders beleidigenden Vergleiche, welche unmittelbar nach dem Tod von L. P. geäußert wurden, selbst wenn sie als Werturteile angesehen werden, einer besonders soliden Tatsachengrundlage bedürfen. Insofern stellt der GH fest, dass der Bf. keine Differenzierung zwischen L. P. als Person und der Politik traf, für die sie seiner Meinung nach stand.
(47) Der Bf. brachte vor, dass L. P. im Zuge der politischen Verhandlungen über einige Bestimmungen des Asylgesetzes 2005, die klare Verletzungen der von der Bundesverfassung und der Konvention gewährten individuellen Rechte dargestellt hätten, unehrenhafte Charaktereigenschaften gezeigt hätte. Der GH stellt jedoch fest, dass das OLG Wien dieses Argument sorgfältig geprüft hat und zu dem Ergebnis gelangt ist, dass der VfGH die Vereinbarkeit fast aller dieser Rechtsvorschriften mit den verankerten Rechten der Konvention und der Bundesverfassung bestätigt hatte. Der Bf. machte ferner geltend, dass eine Tatsachengrundlage für die angeblichen Motive von L. P. in einem TV-Interview offensichtlich werde, welches sie nach der Verurteilung von vier Polizisten gab, welche der Folter eines zur anstehenden Abschiebung Inhaftierten für schuldig befunden wurden. Das OLG Wien bewertete dieses Argument und stellte fest, dass die Weigerung von L. P., sich im Namen der Republik zu entschuldigen, nicht zeigen würde, dass L. P. die Folter angeordnet oder toleriert hätte. Der Bf. reichte weitere Beweise ein, welche auf die gesamte politische Situation in Österreich Bezug nahmen und deshalb keine Tatsachengrundlage für die persönlichen Anschuldigungen gegen L. P. darstellten. Schließlich reichte der Bf. Kopien von Presseinterviews mit Leitern von anderen NGOs und Zeitungsartikeln ein, wonach sich die Situation von Asylsuchenden in Österreich verschlechterte, um zu zeigen, dass seine Kritik von anderen geteilt wurde. Nach Prüfung dieser Dokumente kann der GH dahin keine Tatsachengrundlage für die vom Bf. behaupteten Beweggründe von L. P. erkennen.
(48) Deshalb hält der GH fest, dass die von dem Gericht angegebenen Gründe stichhaltig und ausreichend waren.
(49) In Bezug auf die Verhältnismäßigkeit der Sanktion stellt der GH fest, dass der Bf. zu einer Geldstrafe von € 1.200,– verurteilt wurde, wobei die Hälfte der Geldstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde. Dieser Betrag erscheint unter Einbeziehung der Umstände, unter welchen die Äußerungen des Bf. gemacht und verbreitet wurden, als angemessen. Daher ist die Strafe nicht unverhältnismäßig.
(50) Daraus folgt, dass keine Verletzung von Art. 10 EMRK stattgefunden hat (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
The Sunday Times/GB v. 26.4.1979 = EuGRZ 1979, 386
Editions Plon/F v. 18.5.2004 = NL 2004, 120
Standard Verlags GmbH/A (Nr. 2) v. 4.6.2009 = NL 2009, 151 = ÖJZ 2009, 926
Axel Springer AG/D v. 7.2.2012 (GK) = NLMR 2012, 42 = EuGRZ 2012, 294
Print Zeitungsverlag GmbH/A v. 10.10.2013 = NLMR 2013, 344
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 12.1.2016, Bsw. 55495/08, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2016, 50) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/16_1/Genner.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.
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