EGMR Bsw26547/07

EGMRBsw26547/0710.10.2013

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Print Zeitungsverlag GmbH gg. Österreich, Urteil vom 10.10.2013, Bsw. 26547/07.

 

Spruch:

Art. 10 EMRK, § 6 MedienG - Veröffentlichung eines rufschädigenden anonymen Briefs.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Die Bf. gibt das »Bezirksblatt - Lokalausgabe Hall/Rum«, eine einmal pro Woche erscheinende Gratiszeitung, heraus. Die Auflage umfasst 17.440 Stück.

Im Jänner 2006 wurden 300 Kopien eines anonymen Briefs vornehmlich an Mitglieder des Aufsichtsrats des Tourismusverbands Hall-Wattens versandt. Der Brief war in Form eines Fragebogens gehalten und betraf C. M. und J. M., zwei Rechtsanwälte, von denen der erste der Vorsitzende des obigen Tourismusverbands war, während der zweite sich für viele Jahre in Hall politisch betätigt hatte und zum damaligen Zeitpunkt Gemeinderat mit Zuständigkeitsbereich öffentliche Finanzen war. J. M. war auch Präsident des Aufsichtsrats der »Stadtwerke Hall«, einem Energieversorgungsunternehmen. Zum Zeitpunkt der Versendung des anonymen Briefes stand die Neuwahl des Vorsitzenden des Tourismusverbands an, wobei C. M. wiederum für dieses Amt kandidierte.

Der relevante Teil des anonymen Briefs lautete wie folgt: »Im Zuge unserer M&M-Abfrage (Anm: Anm.: es handelt sich hierbei um die Initialen der Nachnamen von C. M. und J. M.) würde ich Ihnen gerne folgende Fragen stellen: 1. Würden Sie von diesem Mann ein Auto kaufen?; 2. Würden Sie einem Versprechen von ihm glauben?; 3. Hat dieser Mann die notwendige persönliche bzw. berufliche Erfahrung?; 4. Ist dieser Mann jemals etwas korrekt angegangen?; 5. Ist er aufrichtig zu seiner eigenen Familie?; 6. Würden Sie sich diesem Mann anvertrauen? - Wenn Sie auch nur eine von diesen Fragen mit ›Nein‹ beantwortet haben, fragen Sie sich bitte, ob Sie diesen Mann in seiner gegenwärtigen Position belassen wollen. Wir als Unternehmer werden bei der nächsten Vollversammlung des Tourismusverbands mit Ihrer Stimme entscheiden. [...]«

In der Folge wurde L., ein beim »Bezirksblatt« arbeitender Journalist, über den anonymen Brief informiert. Er rief C. M. und J. M. an, die dazu einen Kommentar abgaben, insbesondere dahingehend, dass der Brief Teil einer gegen sie geführten politischen Kampagne sei. Kurze Zeit später rief C. M. den Journalisten zurück und fragte ihn, ob er beabsichtige, den Brief zu veröffentlichen, was dieser bestätigte. Er teilte ihm daraufhin mit, dass er mit einer Veröffentlichung nicht einverstanden sei. In der Ausgabe des »Bezirksblatts« vom 18.1.2006 erschien daraufhin ein Artikel mit dem Titel »Anonyme Kampagne gegen M&M« und dem Untertitel »M&M (danach folgen die ausgeschriebenen Nachnamen der beiden Brüder) sind Ziel einer gar nicht bittersüßen Kampagne«. Der Artikel enthielt einen Abdruck des anonymen Briefs, Fotos von C. M. und J. M. und deren Stellungnahme zu den vorgebrachten Anschuldigungen.

Die beiden Brüder brachten hierauf eine auf § 6 MedienG gestützte Klage gegen die Bf. wegen übler Nachrede ein. Mit Urteil vom 24.3.2006 gab das LG Innsbruck ihrem Begehren statt und verurteilte die Bf. zur Zahlung einer Entschädigung in der Höhe von jeweils € 2.000,- bzw. zur Veröffentlichung des Urteils. Begründend hielt es fest, der Abdruck des anonymen Briefs erfülle den Tatbestand der üblen Nachrede, da er C. M. und J. M. der Unaufrichtigkeit und anderer unehrenhafter Charaktereigenschaften bezichtige. Beide hätten aufgrund des Artikels negative Auswirkungen in ihren beruflichen Aktivitäten als Rechtsanwälte erfahren müssen, indem sie wiederholt mit den im anonymen Brief aufgestellten Behauptungen konfrontiert worden wären. Zwar bestehe ein öffentliches Interesse daran, über eine gegen den Vorsitzenden des Tourismusverbands und gegen einen lokalen Politiker geführte Kampagne informiert zu werden, jedoch rechtfertige dieses nicht die Wiedergabe des anonymen Briefs in besagtem Artikel. Die Bf. hätte über die Kampagne auch ohne Abdruck des strittigen Briefs berichten können. Dazu komme, dass dessen Inhalt nunmehr einer weitaus größeren Zahl von Personen als der ursprünglichen Zielgruppe zugekommen sei.

Das OLG Innsbruck wies die dagegen erhobene Nichtigkeitsbeschwerde der Bf. ab.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptet, durch die Entscheidung der Gerichte in ihrer von Art. 10 EMRK geschützten Meinungsäußerungsfreiheit verletzt zu sein.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

Die Beschwerde ist zulässig (einstimmig).

Es liegt unstrittig ein Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit der Bf. vor, der auf einer gesetzlichen Grundlage (§ 6 MedienG iVm. § 111 StGB) beruhte und einem legitimen Ziel diente, nämlich dem Schutz des guten Rufes und der Rechte anderer.

In seinen jüngsten Urteilen MGN Limited/GB, Von Hannover/D (Nr. 2) und Axel Springer AG/D hat der GH die Prinzipien dargelegt, die bei der Prüfung der Notwendigkeit eines Eingriffs in die Meinungsäußerungsfreiheit zum Schutz des guten Rufes und der Rechte anderer zum Tragen kommen. In den beiden zuletzt genannten Fällen wurden mehrere Kriterien ermittelt, die bei der Abwägung des Rechts auf freie Meinungsäußerung mit jenem auf Achtung des Privatlebens relevant sein können. Solche sind (a) ob der Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse beitrug, (b) die Frage, wie bekannt die betreffende Person ist und was der Gegenstand der Berichterstattung war, (c) das vorherige Verhalten dieser Person, (d) die Art und Weise, wie die Informationen erlangt wurden sowie deren Wahrheitsgehalt, (e) Inhalt, Form und Konsequenzen der Publikation und (f) Schwere der verhängten Sanktion.

Der GH wird nun untersuchen, ob die innerstaatlichen Gerichte eine Abwägung unter Heranziehung eben dieser Kriterien unternahmen.

Zu den Kriterien (a) bis (c)

Im vorliegenden Fall akzeptierten die nationalen Gerichte, dass der strittige Artikel zu einer Debatte von allgemeinem Interesse beitrug (bevorstehende Neuwahl des Vorsitzenden des Tourismusverbands und gegen C. M. und J. M. geführte [politische] Kampagne). Sie berücksichtigten auch, dass C. M. und J. M. der lokalen Öffentlichkeit wohlbekannt waren (beide waren Gegenstand der Berichterstattung in den Medien) und dass der strittige Artikel über den anonymen Brief in einer objektiven Art und Weise berichtet hatte. Vor der Verbreitung des anonymen Briefes gab es keine öffentliche Diskussion über das berufliche oder private Verhalten von C. M. und J. M. Mit anderen Worten kursierten keine Vorwürfe eines Fehlverhaltens gegen sie. Es lagen auch keine Hinweise vor, dass beide, obwohl sie oft in den lokalen Medien präsent waren, das Rampenlicht suchten oder Details über ihr Berufs- bzw. ihr Privatleben offenlegten.

Zum Kriterium (d)

Der dem GH vorliegende Akt enthält keine Informationen dahingehend, wie es L. gelang, in den Besitz einer Kopie des anonymen Briefs zu kommen. Jedenfalls gab er den beiden Brüdern rechtzeitig Gelegenheit, vor dessen Veröffentlichung einen Kommentar dazu abzugeben. Gegen den ausdrücklichen Wunsch von C. M. wurde der Brief dann auch tatsächlich veröffentlicht. Was den Wahrheitsgehalt der relevanten Information anbelangt, beharrte die Bf. nicht darauf, dass die im anonymen Brief enthaltenen Behauptungen wahr seien oder auf Fakten beruhten. Sie zog sich auf das Argument zurück, dass der Abdruck des Briefes nichts anderes sei als die Wiedergabe der Äußerungen eines Dritten. Die innerstaatlichen Gerichte vertraten jedoch die Ansicht, dass die Veröffentlichung eines anonymen Briefes von der Wiedergabe der Äußerungen eines Dritten klar unterschieden werden müsse und dass in jedem Fall die Frage zu prüfen sei, ob ein überwiegendes Interesse der Öffentlichkeit an einer Veröffentlichung bestehe.

Der GH ist der Ansicht, dass dieser Ansatz nicht unvereinbar mit seinem Fallrecht ist. Er hat wiederholt festgestellt, dass die Bestrafung eines Journalisten wegen Beihilfe zur Verbreitung von Äußerungen einer anderen Person den Beitrag der Presse zur Diskussion von Angelegenheiten des öffentlichen Interesses ernsthaft beeinträchtigen würde und nur dann erwogen werden sollte, wenn dafür besonders gewichtige Gründe vorliegen. Die meisten Fälle betrafen jedoch Äußerungen von dritten Personen, deren Identität bekannt war.

Das von der Bf. zitierte Urteil Albert-Engelmann-Gesellschaft mbH/A, dem die Veröffentlichung eines Briefs an den Herausgeber, dessen Autor nicht identifiziert werden konnte, zugrunde lag, deutet an, dass Journalisten bzw. Verleger auch anonyme Äußerungen zitieren dürfen. Dieser Fall zeigt aber auch, dass eine abschließende Bewertung, ob eine Verletzung von Art. 10 EMRK stattgefunden hat oder nicht, auf einer Gewichtung aller relevanten Kriterien basiert: der GH teilte in diesem Fall die Ansicht der nationalen Gerichte nicht, wonach die Tatsache, dass der Brief an den Herausgeber anonym gewesen war, von Relevanz gewesen sei. Die Feststellung einer Verletzung von Art. 10 EMRK basierte hauptsächlich auf der Überlegung, dass es sich bei den im anonymen Brief enthaltenen beleidigenden Äußerungen um Werturteile handelte, die eine ausreichende Tatsachengrundlage in Äußerungen hatte, die der Kläger zuvor getätigt hatte.

Im gegenständlichen Fall existierten vor der Veröffentlichung des anonymen Briefs keine Vorwürfe gegen C. M. und J. M. und es bestehen keinerlei Hinweise, dass ihr eigenes Verhalten eine Tatsachengrundlage für die im anonymen Brief enthaltenen Werturteile gab, die insofern nichts mehr als eine unnötige Attacke auf ihren guten Ruf darstellten. Somit bestanden nach Ansicht des GH gewichtige Gründe für die Annahme der Gerichte, die Veröffentlichung des anonymen Briefs habe die Grenzen der zulässigen Berichterstattung überschritten.

Zu den Kriterien (e) und (f)

Die innerstaatlichen Gerichte berücksichtigten auch die Tatsache, dass der strittige Artikel nicht nur über den anonymen Brief im Vorfeld der bevorstehenden Neuwahl des Vorsitzenden des Tourismusverbands berichtete, sondern dass dieser auch den anonymen Brief wiedergab - dessen Inhalt somit einer weitaus größeren Personengruppe bekannt wurde als dem ursprünglich eingegrenzten Adressatenkreis. Auch auf die negativen Auswirkungen auf das Berufsleben wurde hingewiesen.

Die der Bf. auferlegte Sanktion wies nicht einen Schweregrad auf, der den Eingriff unverhältnismäßig machte.

Ergebnis

Die nationalen Gerichte wendeten die vom GH aufgestellten Kriterien korrekt an, als sie die Bf. zur Zahlung einer Entschädigung gemäß § 6 MedienG verurteilten. Sie führten relevante und ausreichende Gründe für die Schlussfolgerung an, wonach die Veröffentlichung des strittigen Artikels zwar zu einer Debatte von allgemeinem Interesse beigetragen habe, der Abdruck des anonymen Briefes jedoch den Tatbestand der üblen Nachrede erfüllte. Der GH sieht keinen Grund, zu einem anderen Ergebnis zu gelangen. Es liegt daher keine Verletzung von Art. 10 EMRK vor (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Albert-Engelmann-Gesellschaft mbH/A v. 19.1.2006 = NL 2006, 20 = ÖJZ 2006, 695

MGN Limited/GB v. 18.1.2011

Axel Springer AG/D v. 7.2.2012 (GK) = NL 2012, 42 = EuGRZ 2012, 294

Von Hannover/D (Nr. 2) v. 7.2.2012 (GK) = NL 2012, 45 = EuGRZ 2012, 278

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 10.10.2013, Bsw. 26547/07

entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2013, 344) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/13_5/Print Zeitungsverlag.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

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