EGMR Bsw26118/10

EGMRBsw26118/1014.3.2013

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Eon gg. Frankreich, Urteil vom 14.3.2013, Bsw. 26118/10.

 

Spruch:

Art. 10 EMRK - Beleidigung des französischen Präsidenten.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 10 EMRK (6:1 Stimmen).

Unzulässigkeit der Beschwerde im Übrigen (einstimmig).

Verletzung von Art. 10 EMRK (6:1 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Feststellung der Verletzung von Art. 10 EMRK als Entschädigung für immateriellen Schaden ausreichend (5:2 Stimmen).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Der Bf. ist französischer Staatsangehöriger, wurde 1952 geboren und lebt in Laval. Am 28.8.2008 hielt er während des Besuchs des damaligen Präsidenten Frankreichs in Laval ein Plakat mit der Aufschrift »Casse toi pov´con« (»Verzieh dich, armer Idiot«) hoch. Damit nahm er Bezug auf eine Bemerkung, die der Präsident selbst am 23.2.2008 bei einer Landwirtschaftsmesse gegenüber einem Landwirt abgegeben hatte, nachdem dieser ihm den Handschlag verwehrt hatte. Diese Äußerung wurde in den Medien viel diskutiert und kommentiert. Sie wurde durch das Internet weit verbreitet und auch als Slogan für Demonstrationen benutzt.

Der Bf. wurde daraufhin von der Staatsanwaltschaft wegen Beleidigung des Präsidenten nach Art. 26 des Pressegesetzes vom 29.7.1881 angeklagt und deswegen am 6.11.2008 vom Landgericht Leval zu einer bedingten Geldstrafe von € 30,- verurteilt. Daraufhin gingen sowohl der Staatsanwalt als auch der Bf. in Berufung. Das Berufungsgericht Angers bestätigte das Urteil am 24.3.2009 in allen Punkten. Es wies dabei insbesondere auf den politischen Hintergrund des Bf. als Aktivisten und früheren sozialistischen Abgeordneten hin. Dadurch und wegen der Natur der Äußerung sei eine Gutgläubigkeit des Bf. ausgeschlossen.

Daraufhin legte der Bf. Revision ein. Dafür beantragte er Prozesskostenhilfe. Am 14.5.2009 wurde dieser Antrag vom Büro für Prozesskostenhilfe abgelehnt, da die Geldmittel des Bf. zwar unterhalb der gesetzlichen Grenze liegen würden, es der Revision aber an einem ernstzunehmenden Revisionsgrund fehle. Der Bf. legte dagegen Einspruch ein und hob hervor, dass der Grund für seine Revision nicht die Höhe der Strafe, sondern die Frage des Grundsatzes der Meinungsäußerungsfreiheit und des Begriffes der Beleidigung des Staatsoberhaupts sei. Mit der Versagung der Verfahrenshilfe würde ihm die Möglichkeit genommen, seine Rechte im Rahmen einer Grundfreiheit auszuüben. Der Widerspruch wurde am 15.6.2009 abgelehnt.

Der Bf. wollte den Prozess dennoch weiterführen. Am 15.9.2009 teilte aber die Anwaltskanzlei des Bf. dem Cour de Cassation mit, dass kein ergänzender Schriftsatz eingereicht werden würde. Der Bf. stellt fest, dass der einzige Grund dafür gewesen wäre, dass es ihm unmöglich geworden war, die Kosten für die Anwaltskanzlei zu zahlen. Am 27.10.2009 wurde die Revision vom Cour de Cassation für unzulässig erklärt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet, die Verurteilung hätte ihn in seinem Recht nach Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit) verletzt.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

Die Regierung erhob Einreden hinsichtlich der Nichterschöpfung des Instanzenzugs und hinsichtlich des Nichtvorliegens eines erheblichen Nachteils für den Bf.

Zur Zulässigkeit der Beschwerde

Zur Nichterschöpfung des Instanzenzugs bringt die Regierung vor, der Bf. hätte sich nicht auf Art. 10 EMRK berufen und keinen Schriftsatz vor dem Cour de Cassation eingereicht.

Der Antrag des Bf. auf Prozesskostenhilfe wurde abgelehnt, weil kein ernstzunehmender Revisionsgrund vorgebracht werden konnte. Man kann ihm daher keinen Vorwurf machen, dass er den innerstaatlichen In­stanzenzug nicht ausgeschöpft und nicht innerhalb der gesetzlichen Frist einen Schriftsatz beim Revisionsgericht eingereicht hätte. Darüber hinaus stellt der GH fest, dass die in den nationalen Gerichtsverfahren vorgebrachten Argumente eine Beschwerde nach Art. 10 EMRK beinhalteten. Der GH ist der Ansicht, dass die Meinungsäußerungsfreiheit in diesen Gerichtsverfahren zur Debatte stand, sei es auch nur unterschwellig. Der Bf. hat dort daher - zumindest sinngemäß - eine Beschwerde nach Art. 10 EMRK geltend gemacht. Aus diesen Gründen weist der GH die Einrede der Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs zurück.

Die Regierung führt weiters an, dass der Bf. keinen erheblichen Nachteil erlitten habe, insbesondere keinen finanziellen, da er die € 30,- Strafe nur bei Rückfall zahlen müsse.

Der GH stellt fest, dass die finanzielle Belastung durch den zu zahlenden Betrag minimal ist. Allerdings müssen bei der Beurteilung der Schwere der Verletzung auch die subjektive Wahrnehmung des Bf. und der objektive Streitgegenstand berücksichtigt werden. Hier zeigt sich eindeutig die Wichtigkeit der Frage für den Bf., der das Verfahren bis zum Ende verfolgt hat. Außerdem ist der Streitgegenstand viel in den Medien diskutiert worden und wird die Frage nach dem Festhalten am Delikt der Beleidigung des Staatsoberhaupts regelmäßig im Parlament erwähnt. Aus diesen Gründen ist eine vollständige Prüfung der Begründetheit der Beschwerde notwendig. Somit weist der GH die Einrede der Regierung zurück.

Die Beschwerde ist auch aus keinem anderen Grund unzulässig und ist daher für zulässig zu erklären (6:1 Stimmen; Sondervotum des Richters Pejchal).

Zur Begründetheit der Beschwerde

Der GH stellt fest, dass die Verurteilung des Bf. einen Eingriff in dessen Meinungsäußerungsfreiheit darstellte. Ein solcher muss die von Art. 10 Abs. 2 EMRK bestimmten Erfordernisse erfüllen. Das ist dann der Fall, wenn der Eingriff auf einem Gesetz beruhte, einen legitimen Zweck verfolgte und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

Dem Eingriff liegen die Vorschriften der Art. 23 und 26 des Pressegesetzes von 1881 zu Grunde, der Eingriff beruhte deshalb auf einem Gesetz.

Die Regierung führt an, dass der Eingriff notwendig war, um die öffentliche Ordnung zu schützen. Der GH befindet, dass der Eingriff auf den Schutz des guten Rufes eines anderen abstellte.

Der GH muss prüfen, ob die vom Staat für die Rechtfertigung des Eingriffs angeführten Gründe ausreichend und stichhaltig sind und ob die beanstandete Maßnahme verhältnismäßig zum verfolgten Ziel war.

Der GH stellt fest, dass das Hochhalten eines Plakats auf offener Straße mit der Aufschrift »Verzieh dich, armer Idiot« während des Besuchs des Präsidenten buchstäblich beleidigend gegenüber dem Staatsoberhaupt ist. Andererseits muss die Äußerung unter Berücksichtigung aller Umstände des Falls analysiert werden, besonders im Hinblick auf die Stellung ihres Empfängers bzw. des Bf., ihre Form und den Zusammenhang, in dem sie geäußert wurde. Da es sich bei der Äußerung um die exakte Wiederholung der bekannten Aussage des Präsidenten handelte, haben die nationalen Gerichte daran festgehalten, dass diese sicher mit der Absicht geäußert wurde, zu verletzen, und ausgeschlossen, dass der Bf. eine andere Intention gehabt haben könnte.

Zunächst ist festzuhalten, dass die Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit des Bf. keinen Bezug zur Pressefreiheit hatte, da die strittigen Worte nicht in einem solchen Zusammenhang geäußert wurden. Daher erscheint es dem GH nicht angemessen, die vorliegende Beschwerde im Lichte des Falls Colombani u.a./F zu untersuchen.

Im vorliegenden Fall behauptete der Bf., dem eine beleidigende Äußerung vorgeworfen wurde, nicht, dass er Opfer einer beleidigenden Haltung oder Äußerung von Seiten des Staatschefs gewesen sei. Außerdem hatte er eine Beleidigung formuliert und nicht eine Behauptung. Daher konnte er zur Verteidigung weder auf die Einrede der Provokation noch auf jene der Wahrheit zurückgreifen. Im Übrigen haben die nationalen Gerichte den guten Glauben des Bf. untersucht, um eine eventuelle Rechtfertigung seiner Handlung in Betracht zu ziehen, auch wenn sie eine solche angesichts seines politischen Engagements und der Wohlüberlegtheit der verwendeten Worte ausgeschlossen haben. Außerdem kam es zur Verfolgung nicht auf Initiative des Präsidenten, sondern der Staatsanwaltschaft, so wie es das interne Recht vorsah.

Es stellt sich dennoch die Frage, ob ein Ausgleich zwischen der Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit des Bf. im vorliegenden Fall und dem Interesse an einer freien Debatte im Hinblick auf Fragen von allgemeinem Interesse geschaffen wurde.

Diesbezüglich kann man nicht annehmen, dass das Wiederaufgreifen der Äußerung des Präsidenten auf dessen Privatleben oder Ehre abzielte oder einen einfachen persönlichen Angriff aus Willkür gegen die Person des Präsidenten darstellte.

Der GH bemerkt, dass der Bf. beabsichtigt hat, eine öffentliche Kritik politischer Natur an das Staatsoberhaupt zu richten. Das Berufungsgericht hat darauf hingewiesen, dass er ein Aktivist und ehemaliger Abgeordneter sei, und dass er gerade einen langen Kampf zur aktiven Unterstützung einer türkischen Familie geführt hätte, die sich unrechtmäßig auf französischem Gebiet aufhielt. Das Gericht verwies auch darauf, dass dieser politische Kampf einige Tage vor der Ankunft des Staatschefs in Laval mit einem Misserfolg für die Unterstützer geendet hätte, da die Familie zur Grenze zurückgebracht worden wäre. Der Bf. hätte deshalb Bitterkeit verspürt. Das Gericht hat am Ende eine Verbindung zwischen dem politischen Engagement des Bf. und der Natur der verwendeten Äußerung hergestellt.

Des Weiteren erinnert der GH daran, dass Art. 10 Abs. 2 EMRK nur einen ganz geringen Spielraum lässt, um die Meinungsäußerungsfreiheit im Bereich des politischen Diskurses - wo sie die größte Bedeutung hat - oder im Bezug auf Fragen von allgemeinem Interesse einzuschränken. Die Grenzen für zulässige Kritik sind viel weiter gefasst, wenn es sich um einen Politiker handelt, der in dieser Eigenschaft anvisiert wird, als wenn es um eine einfache Privatperson geht. Ersterer setzt sich unvermeidbar und bewusst der aufmerksamen Beobachtung seiner Handlungen und Gesten durch Journalisten und die Bevölkerung aus. Daher muss er ein höheres Maß an Toleranz zeigen.

Außerdem hat der Bf., indem er eine schroffe Formulierung wieder aufnahm, die vom Präsidenten selbst verwendet, von den Medien weit verbreitet und dann von einem breiten Publikum auf oft humoristische Weise kommentiert worden war, seiner Kritik im Stil satirischer Unverschämtheit Ausdruck verliehen.

Der GH hat mehrfach betont, dass Satire eine Form des künstlerischen Ausdrucks und der gesellschaftlichen Kommentierung ist, welche durch die sie charakterisierende Übertreibung und Verzerrung der Realität naturgemäß darauf abzielt zu provozieren und zu bewegen. Deshalb müssen alle Eingriffe in das Recht eines Künstlers oder jeder anderen Person, sich auf diesem Weg auszudrücken, mit besonderer Aufmerksamkeit geprüft werden.

Es muss auch berücksichtigt werden, dass die Bestrafung von Verhalten wie jenem des Bf. eine abschreckende Wirkung für satirische Beiträge zu gesellschaftlichen Themen haben kann. Diese Beiträge können eine wichtige Rolle für den freien Diskurs von Fragen von allgemeinem Interesse spielen, ohne den es keine demokratische Gesellschaft gäbe.

Angesichts des Vorgesagten und nach Abwägung des Interesses an einer strafrechtlichen Verurteilung wegen Beleidigung des Staatschefs unter den besonderen Umständen des Falls und der Wirkung der Verurteilung für den Bf. kommt der GH zu dem Schluss, dass das Zurückgreifen auf eine strafrechtliche Sanktion durch die zuständigen Behörden unverhältnismäßig zu dem angestrebten Ziel und deshalb in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig war. Somit liegt eine Verletzung von Art. 10 EMRK vor (6:1 Stimmen, Sondervotum des Richters Pejchal).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

Dieser Teil der Beschwerde, mit dem der Bf. rügt, dass die Zurückweisung seines Antrags auf Verfahrenshilfe sein Recht auf ein faires Verfahren verletzt hätte, ist offensichtlich unbegründet und wird als unzulässig zurückgewiesen (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Der GH sieht die Feststellung der Verletzung von Art. 10 EMRK als ausreichende Entschädigung für den immateriellen Schaden des Bf. an (5:2 Stimmen, Sondervotum der Richterin Power-Forde, gefolgt von Richterin Yudkivska).

Vom GH zitierte Judikatur:

Lingens/A v. 8.7.1986 = EuGRZ 1986, 424

Colombani u.a./F v. 25.6.2002

Vereinigung Bildender Künstler/A v. 25.1.2007 = NL 2007, 19 = ÖJZ 2007, 618

Alves da Silva/P v. 20.10.2009

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 14.3.2013, Bsw. 26118/10 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2013, 98) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/13_2/Eon.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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