EGMR Bsw18990/05

EGMRBsw18990/055.7.2011

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Wizerkaniuk gg. Polen, Urteil vom 5.7.2011, Bsw. 18990/05.

 

Spruch:

Art. 10 EMRK - Autorisierungspflicht für wortwörtliche Aussagen.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 10 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 256,- für materiellen Schaden, € 4.000,- für immateriellen Schaden, € 4.119,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Der Bf. war zum betreffenden Zeitpunkt Chefredakteur der Lokalzeitung »Gazeta Koscianska«. Im Februar 2003 führten zwei Journalisten der Zeitung ein Interview mit einem Mitglied des Parlaments. Das gesamte Interview wurde auf Band aufgenommen. Der Abgeordnete beantwortete Fragen zu seinen öffentlichen Aufgaben sowie zu seiner wirtschaftlichen Tätigkeit. Nach dem Treffen bat er darum, dass man ihm das Interview vor seiner Veröffentlichung zukommen lasse, um es zu autorisieren, wie es das polnische Pressegesetz vorsah. Einen Monat nach dem Gespräch wurde dem Befragten eine bearbeitete und gekürzte Version des Interviews übermittelt. Er verweigerte seine Zustimmung zur Veröffentlichung, da er der Ansicht war, dass diese Version des Interviews nicht mit dem Inhalt und dem Charakter des Gesprächs übereinstimmte und wichtige Punkte ausgelassen worden waren.

Am 7.5.2003 wurden Teile der Aufzeichnung des Interviews und Fotos, die während des Interviews gemacht worden waren, in der »Gazeta Koscianska« veröffentlicht. Im Text wurde darauf hingewiesen, dass der Abgeordnete keine Zustimmung zur Veröffentlichung erteilt hatte und dass es sich bei den Aussagen um die wortgetreuen Bandaufnahmen handelte.

Daraufhin erhob der örtliche Staatsanwalt Anklage gegen den Bf. Das Bezirksgericht Posen befand, dass der Bf. mit der unautorisierten Veröffentlichung des Interviewmaterials die Persönlichkeitsrechte des Abgeordneten verletzt habe. Es wies jedoch darauf hin, dass es sich dabei um kein schweres Vergehen handle, da der Bf. in dem Wunsch gehandelt habe, seine journalistische Pflicht zu erfüllen. Das Verfahren wurde unter der Bedingung einer Zahlung von PLZ 1.000,- (€ 256,-) für einen wohltätigen Zweck und der Erstattung der Kosten des Verfahrens durch den Bf. eingestellt. Das Appellationsgericht Posen bestätigte diese Entscheidung. Der Verfassungsgerichtshof bestätigte das Urteil und berief sich auf die Gefährdung der Persönlichkeitsrechte des Interviewten und auf das Recht der Bürger, verlässliche Informationen zu erhalten.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet, dass seine strafrechtliche Verurteilung wegen der Veröffentlichung des Interviews eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit) darstellt.

Zur Verfahrenseinrede der Regierung

Die Regierung wendet ein, dass der Bf. den innerstaatlichen Instanzenzug nicht ausgeschöpft habe, da er seine Beschwerde bereits vor der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs beim GH eingebracht hat.

Der GH hat sich bereits mit der Frage der Effektivität der polnischen Verfassungsbeschwerde beschäftigt und bestätigt, dass diese ein geeignetes Rechtsmittel iSv. Art. 35 Abs. 1 EMRK darstellt. Obwohl bei der Bewertung, ob der nationale Instanzenzug erschöpft wurde, das Datum, an dem die Beschwerde beim GH eingegangen ist, ausschlaggebend ist, erlaubt der GH Ausnahmen von dieser Regel. Der Bf. hat vom Rechtsmittel der Verfassungsbeschwerde Gebrauch gemacht. Diese hatte denselben Inhalt wie seine Beschwerde an den GH. In diesem Fall erkennt der GH, dass die Tatsache, dass die Beschwerde des Bf. erst vom Verfassungsgerichtshof behandelt wurde, nachdem er die Beschwerde an den GH gerichtet hatte, ausreicht, um davon abzuweichen, die Voraussetzung der Erschöpfung des nationalen Instanzenzuges nach dem Datum des Einlangens beim GH zu beurteilen. Daraus folgt, dass die Einwendung der Regierung abgelehnt und die Beschwerde für zulässig erklärt wird (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

Die Gerichte belegten den Bf. mit einer strafrechtlichen Sanktion, da er seine Pflicht, die Zustimmung des Befragten vor der Veröffentlichung des Interviews einzuholen, nicht erfüllt hatte. Es steht außer Frage, dass diese Maßnahme einen Eingriff in das Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit darstellt.

Legitimation des Eingriffs

Der GH teilt nicht die Auffassung der Regierung, der Eingriff hätte den Schutz des guten Rufs des Abgeordneten zum Ziel gehabt. Denn weder in den nationalen Verfahren noch vor dem GH wurde vorgebracht, dass das veröffentlichte Interview rufschädigende Informationen oder Meinungen beinhaltet habe. Die Verurteilung des Bf. basierte lediglich auf der Tatsache, dass er es verabsäumt hatte, eine Autorisierung für die Veröffentlichung einzuholen. Auf den Inhalt des Interviews wird an keiner Stelle der vorangegangenen Verfahren hingewiesen. Der GH ist jedoch im Sinne des vorliegenden Verfahrens dazu bereit anzunehmen, dass der beklagte Eingriff einen legitimen Zweck verfolgte.

Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft

Die angewendete Rechtsnorm verpflichtete den Bf., die Autorisierung der interviewten Person vor Veröffentlichung des Interviews einzuholen, unabhängig von dessen Thema und Inhalt. Die Autorisierung entsprach einer Bestätigung, dass der zur Veröffentlichung gedachte Text mit dem übereinstimmte, was tatsächlich während des Interviews gesagt worden war. Der GH merkt an, dass eine solche Verpflichtung im Bereich der Printmedien als Teil der normalen beruflichen Sorgfalt gesehen werden kann. Das grundlegende Ziel der Norm des polnischen Pressegesetzes ist es, die beruflichen Pflichten eines Journalisten abzusichern und unrichtige Berichterstattung zu vermeiden. Der GH weist jedoch darauf hin, dass derartige Normen eine abschreckende Wirkung haben und die Presse davon abhalten können, zu einer Diskussion von legitimem öffentlichem Interesse beizutragen.

Der Bf. befragte den Abgeordneten zu seinen politischen und wirtschaftlichen Aktivitäten. Seine Ansichten und Aussagen waren unbestritten eine Sache von allgemeinem Interesse, weshalb der Bf. auch das Recht hatte, diese der Öffentlichkeit darzulegen. Andererseits hatte die Öffentlichkeit ein Recht darauf, Informationen über solche Angelegenheiten zu erfahren.

In seiner bisherigen Rechtsprechung befasste sich der GH mit Fällen, in denen die Bf. aufgrund des Inhalts von Tatsachenbehauptungen oder Werturteilen privat- oder strafrechtlich verurteilt worden waren und prüfte, ob die jeweilige Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Der grundlegende Unterschied zwischen diesen Fällen und dem aktuellen Fall ist, dass der Bf. aus Gründen bestraft wurde, die völlig unabhängig vom Inhalt des angefochtenen Artikels waren.

Zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens wurde angeführt, dass die wörtlich zitierten Aussagen des Abgeordneten in irgendeiner Weise verfälscht oder unrichtig dargestellt worden waren. Die alleinige Tatsache, dass der Bf. keine Zustimmung zur Veröffentlichung eingeholt hatte, zog automatisch eine strafrechtliche Sanktion nach sich. Die nationalen Gerichte mussten der Tatsache, dass es sich bei dem Befragten um einen Politiker handelte, keine Aufmerksamkeit schenken. Dies widerspricht der ständigen Rechtsprechung des GH, wonach der Schutz vor Kritik für Politiker viel enger zu sehen ist als für andere Personen. Weiters kritisiert der GH, dass die Weigerung zur Autorisierung Pauschalcharakter hatte, da der Abgeordnete keine Gründe für seine Weigerung angeben musste. Die angewendeten Bestimmungen geben den Befragten eine unbeschränkte Vollmacht, Journalisten von der Veröffentlichung eines peinlichen oder unvorteilhaften Berichts abzuhalten, egal wie genau oder wahrheitsgetreu dieser ist. Dies kann entweder durch eine Verweigerung der Zustimmung geschehen oder durch das unangemessene Hinauszögern einer Zustimmung, da die betreffenden Vorschriften keinen zeitlichen Rahmen vorgeben, in dem die Zustimmung oder Ablehnung erfolgen muss. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass durch diese Vorgaben der Informationsfluss verlangsamt wird und somit Neuigkeiten als »verderbliches Gut« jeglichen Wert verlieren. Es kann daher nicht von einem Journalisten verlangt werden, die Veröffentlichung einer Sache von allgemeinem Interesse zu verzögern, ohne dass zwingende Gründe im Bereich des öffentlichen Interesses oder der Rechte anderer vorliegen.

Bezüglich des von der Regierung angeführten Schutzes des guten Rufs weist der GH darauf hin, dass eine große Anzahl von privatrechtlichen Instrumenten, die genau für diesen Zweck geschaffen worden waren, zur Verfügung standen. Darüber hinaus hat der GH erkannt, dass Schadenersatzzahlungen eine angemessene Entschädigung für Verletzungen von Art. 8 EMRK im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von privaten Informationen in der Presse darstellen. Außerdem waren andere Mittel vorhanden, um Schutz vor un­richtiger Wiedergabe von Aussagen zu gewähren, wie etwa die Pflicht einer Zeitung, auf Wunsch der betroffenen Person einen Widerruf zu drucken. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass diese Mittel generell ineffektiv waren oder im konkreten Fall keinen ausreichenden Schutz geboten hätten. Daher erklärt der GH, dass der Rückgriff auf strafrechtliche Sanktionen nicht gerechtfertigt war.

Das polnische Pressegesetz wurde 1984 noch vor dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems eingeführt und stammt daher aus einer Zeit, in der Medien einer starken Zensur unterworfen waren. Obwohl das Pressegesetz mehrmals novelliert wurde, stammen die angewendeten Rechtsnormen noch aus der Originalfassung des Gesetzes. Der GH stellt daher fest, dass diese Vorschriften nicht mit den Grundsätzen einer demokratischen Gesellschaft vereinbar sind und nicht der Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit in einer solchen Gesellschaft entsprechen.

Der Verfassungsgerichtshof führte an, dass bei einer zusammengefassten Wiedergabe von Aussagen keine Zustimmung des Befragten eingeholt werden müsse. Diese Einstellung erscheint dem GH paradox. Je genauer Journalisten die Aussagen von interviewten Personen wiedergaben, desto eher waren sie gefährdet, strafrechtlich verfolgt zu werden, falls sie keine Autorisierung einholten. Genauso scheint es unangemessen, dass eine Autorisierung nur bei Ton- oder Bildaufnahmen von Interviews eingeholt werden muss, bei schriftlichen Notizen diese Verpflichtung jedoch entfällt.

Das strafrechtliche Verfahren gegen den Bf. und die ihm auferlegte Sanktion standen in keinem Zusammenhang mit der Richtigkeit oder dem Thema des veröffentlichten Texts und ließen die Sorgfalt des Bf., nur die tatsächlich im Interview getätigten Aussagen zu veröffentlichen, völlig außer Acht. Daher erkennt der GH, dass das Verfahren und die daraus resultierende Sanktion unter diesen Umständen unverhältnismäßig waren. Daraus folgt, dass eine Verletzung von Art. 10 EMRK vorliegt (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmende gemeinsame Sondervoten von Richter Bratzka und Richterin Hirvelä, sowie von den Richtern Garlicki und Vucinic).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 256,- für materiellen Schaden, € 4.000,- für immateriellen Schaden, € 4.119,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Lingens/A v. 8.7.1986 = EuGRZ 1986, 424

The Observer und Guardian/GB v. 26.11.1991 = NL 1992/1, 16 = EuGRZ 1995, 16 = ÖJZ 1992, 378

Janowski/PL v. 21.1.1999 = NL 1999, 14 = EuGRZ 1999, 8 = ÖJZ 1999, 723

Baumann/F v. 22.5.2001

Standard Verlags GmbH/A (Nr. 2) v. 4.6.2009 = NL 2009, 151 = ÖJZ 2009, 926

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 5.7.2011, Bsw. 18990/05 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2011, 208) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/11_4/Wizerkaniuk.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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