EGMR Bsw26713/05

EGMRBsw26713/0528.5.2009

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Bigaeva gegen Griechenland, Urteil vom 28.5.2009, Bsw. 26713/05.

 

Spruch:

Art. 8 EMRK, Art. 14 EMRK - Verweigerung des Zugangs zum Anwaltsberuf für Ausländer.

Zurückweisung des Einwandes der Regierung hinsichtlich der Unzulässigkeit der Beschwerde ratione materiae (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Zurückweisung des Einwandes der Regierung hinsichtlich der Unzulässigkeit der Beschwerde ratione personae (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK (4:3 Stimmen).

Keine Verletzung von Art. 8 EMRK iVm. Art. 14 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 7.000,- für immateriellen Schaden, € 4.400,- für Kosten und Auslagen (4:3 Stimmen).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Die Bf., eine 1970 geborene russische Staatsangehörige, lebt seit 1993 in Athen. 1995 inskribierte sie an der dortigen Rechtswissenschaftlichen Fakultät. 1996 wurde ihr eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt, die fortlaufend verlängert wurde. Die Bf. schloss ihr Studium 2000 ab.

Im selben Jahr wurde die Bf. von der Rechtsanwaltskammer als Konzipientin zugelassen. Nach Absolvierung ihrer Ausbildung suchte sie bei der Kammer um Zulassung zur Anwaltsprüfung an. Ihr Antrag wurde jedoch abgelehnt, da sie nicht über die von Art. 3 der Anwaltsordnung geforderte griechische bzw. EU-Staatsbürgerschaft verfüge.

Am 3.9.2002 beantragte die Bf. beim Obersten Verwaltungsgericht die Nichtigerklärung dieser Entscheidung und stellte gleichzeitig den Antrag, diese auszusetzen, um zur Anwaltsprüfung antreten zu können. Das Höchstgericht gab ihrem Antrag auf Aussetzung der Entscheidung statt.

Nach erfolgreicher Ablegung der Anwaltsprüfung wandte sich die Bf. an den Justizminister und ersuchte um Eintragung in die Liste der Rechtsanwälte. Nachdem das Ministerium auf ihr Schreiben nicht reagierte, wandte sie sich erneut an das Oberste Verwaltungsgericht.

Mit Urteil vom 26.1.2005 entschied dieses zuerst über den seinerzeitig gestellten Antrag auf Nichtigerklärung der Entscheidung der Anwaltskammer. Es hielt fest, angesichts der bedeutenden Rolle von Rechtsanwälten für das Gerichtswesen stehe dem Staat ein weiter Ermessensspielraum zu, was die Festlegung von Bedingungen für den Zugang zu diesem Beruf angehe. Die Verweigerung der Teilnahme an der Anwaltsprüfung habe daher keine Verletzung des von Art. 5 der griechischen Verfassung garantierten Rechts auf freie Entwicklung der Persönlichkeit dargestellt. In einem zweiten Urteil vom 3.2.2005 sprach es aus, angesichts der in seinem ersten Urteil getroffenen Feststellungen sei auch die implizite Ablehnung des Antrags der Bf. auf Eintragung in die Liste der Rechtsanwälte durch den Justizminister rechtmäßig gewesen.

Laut einer Bescheinigung der Athener Anwaltskammer vom 3.1.2007 beruhte die Zulassung der Bf. als Konzipientin auf einem Versehen, da sie irrtümlich als griechische Staatsbürgerin angesehen worden war.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügt eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) alleine und in Verbindung mit Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK alleine und in Verbindung mit Art. 14 EMRK:

1. Zur Zulässigkeit:

Die Regierung wendet die Unzulässigkeit der Beschwerde ratione materiae ein. Laut der Rechtsprechung des EGMR umfasse der Begriff „Privatleben" Fragen betreffend die Identität einer Person, ihre physische und psychische Integrität und ihre Gesundheit. Das Berufsleben falle nicht automatisch unter Art. 8 EMRK. Im vorliegenden Fall komme diese Bestimmung nicht ins Spiel, da der Anwaltsberuf gemäß innerstaatlichem Recht einer Funktion im öffentlichen Interesse gleichgestellt werden könne, was den Ausschluss von ausländischen Staatsbürgern rechtfertige.

Die Beschwerde sei auch unzulässig ratione personae. Der griechische Staat habe der Bf. in seiner Eigenschaft als Gaststaat keinerlei Zugang zu irgendeinem Beruf garantiert. Dies gelte insbesondere für Berufssparten, die ausschließlich griechischen Staatsbürgern oder Bürgern der Europäischen Union vorbehalten seien. Man habe der Bf. lediglich Aufenthaltsgenehmigungen zwecks Ableistung ihres Studiums ausgestellt.

a) Zur Zulässigkeit ratione materiae:

Der GH erinnert daran, dass der Begriff „Privatleben" sich nicht erschöpfend definieren lässt. Art. 8 EMRK schützt das Recht auf Selbstverwirklichung, sei es unter dem Aspekt der persönlichen Entfaltung oder der Selbstbestimmung. Es wäre jedoch unangemessen, diesen Begriff auf einen „intimen Kreis" zu beschränken, wo jeder sein Privatleben nach seinem Gutdünken führen und die auswärtige Welt davon ausschließen kann. Art. 8 EMRK garantiert daher auch ein Privatleben im weiten Sinn, nämlich die Möglichkeit der Entfaltung einer sozialen Identität im Wege der Entwicklung von Beziehungen.

Angesichts dieser Feststellungen sieht der GH keinen Grund, warum berufliche Aktivitäten nicht zum Privatleben gehören sollten. Hervorzuheben ist, dass die Mehrzahl von Personen gerade im Rahmen des Berufs über unzählige Gelegenheiten verfügt, Beziehungen mit der Außenwelt zu knüpfen. Abgesehen davon überlappen sich oft Berufsfeld und Privatleben, sodass die Feststellung nicht immer einfach ist, in welchem Bereich sich jemand zu einem bestimmten Zeitpunkt bewegt. Kurz gesagt ist das Berufsleben Teil der Interaktion zwischen Individuen und kann daher - auch von einem öffentlichen Kontext her gesehen - das Privatleben betreffen.

Die Bf. ließ sich im Alter von 23 Jahren in Griechenland nieder. Sie lernte Griechisch und absolvierte ein Universitätsstudium. Ihre Entscheidung, einer Ausbildung als Rechtsanwaltsanwärterin zu folgen und die Anwaltsprüfung abzulegen, war eng mit während dieser Zeit getroffenen persönlichen Entscheidungen verbunden und hatte Rückwirkungen sowohl auf ihr Privat- als auch ihr Berufsleben. Die Absolvierung der Ausbildung zur Rechtsanwältin und die Ablegung der Anwaltsprüfung bildeten den Höhepunkt von langjährigen persönlichen und akademischen Anstrengungen bzw. ihres Wunsches, sich in die Gesellschaft ihres Gaststaates in Ausübung eines ihrer Qualifikation entsprechenden Berufs einzugliedern.

Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass die gerügte Einschränkung Folgen für die Bf. in ihrem Genuss des Rechts auf Achtung des Privatlebens mit sich brachte. Der Einwand der Regierung ist somit zurückzuweisen und Art. 8 EMRK für anwendbar zu erklären (einstimmig).

b) Zur Zulässigkeit ratione personae:

Der Einwand der Regierung ist eng mit dem Vorbringen der Bf. unter Art. 8 EMRK verknüpft und soll daher im Zuge der meritorischen Behandlung der Beschwerde geprüft werden. Da letztere weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

2. Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:

Die Bf. behauptet, die Ablehnung ihres Antrags auf Ablegung der Anwaltsprüfung als Voraussetzung der Eintragung in die Liste der Rechtsanwälte habe sie in ihrem Recht auf Achtung ihres Privatlebens verletzt.

Die Verweigerung der Teilnahme an der Anwaltsprüfung bzw. der Eintragung in die Liste der Rechtsanwälte stellte einen Eingriff in die Privatsphäre der Bf. dar. Dieser war in Art. 3 der Anwaltsordnung gesetzlich vorgesehen und verfolgte ein legitimes Ziel, nämlich die Verteidigung der Ordnung. Es ist zu prüfen, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war und die von den Behörden zu seiner Rechtfertigung herangezogenen Gründe stichhaltig und ausreichend waren.

Der GH hält fest, dass die Athener Anwaltskammer die Bf. anfänglich als Konzipientin zugelassen hat und diese die ordentliche Ausbildung mit dem Ziel absolvierte, als Rechtsanwältin eingetragen zu werden. Man kann daher sagen, dass die Anwaltskammer bei der Bf. in gewisser Weise eine Erwartung schuf, an der Anwaltsprüfung teilnehmen zu können. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass die in Art. 3 Abs. 3 der Anwaltsordnung festgelegte Ausbildung im Ausmaß von 18 Monaten keine Option darstellt, die dem Ermessen des Rechtsanwaltsanwärters überlassen ist. Ihre Ableistung ist vielmehr zwingende Voraussetzung für die anschließende Anwaltsprüfung, um in die Liste der Rechtsanwälte eingetragen zu werden.

Im vorliegenden Fall ging die Anwaltskammer von ihrer ursprünglichen Entscheidung ab, der Bf. die Absolvierung der Ausbildung zur Rechtsanwältin zu gestatten und verweigerte ihr die Teilnahme an der Anwaltsprüfung. Die Verweigerung erfolgte während der letzten Stufe der Rechtsanwaltsausbildung, wobei die Frage der ausländischen Staatsangehörigkeit der Bf. als Hindernisgrund für ihre Teilnahme an der Anwaltsprüfung erst jetzt von der Anwaltskammer aufgeworfen wurde. Damit wurde die berufliche Situation der Bf. für sie vollkommen unerwartet auf den Kopf gestellt, nachdem sie 18 Monate ihres Berufslebens darauf verwandt hatte, den Anforderungen der Rechtsanwaltsausbildung zu entsprechen.

Die Regierung bezieht sich auf die Bescheinigung der Anwaltskammer vom 3.1.2007, wonach die Zulassung der Bf. als Konzipientin versehentlich erfolgt wäre. Aber auch vorausgesetzt, es handelte sich hierbei wirklich um ein Versehen seitens der Anwaltskammer und nicht um eine implizite Anerkennung ihres Rechts auf Teilnahme an der Ausbildung ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, vermag dies die erlittene Beeinträchtigung in Bezug auf ihr Berufsleben nicht zu beseitigen. Die Frage, ob die für den Ausschluss der Bf. von der Anwaltsprüfung angeführte Begründung, nämlich ihre Staatsangehörigkeit, stichhaltig war, ist hier jedoch nicht vorrangig. Entscheidend ist vielmehr die Tatsache, dass die Behörden es der Bf. gestatteten, die Rechtsanwaltsausbildung anzutreten, obwohl ihnen ersichtlich hätte sein müssen, dass sie nach deren Abschluss zum Antritt der Anwaltsprüfung nicht berechtigt sein würde.

Dem Verhalten der zuständigen Behörden mangelte es insofern an Kohärenz bzw. an Respekt der Person und dem Berufsleben der Bf. gegenüber. Der Einwand der Regierung ist somit zurückzuweisen (einstimmig) und eine Verletzung von Art. 8 EMRK festzustellen (4:3 Stimmen; gemeinsames Sondervotum von Richterin Vajic und den Richtern Malinverni und Nicolaou).

3. Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK in Verbindung mit Art. 14 EMRK:

Die Bf. wirft dem griechischen Staat vor, willkürlich und diskriminierend gehandelt zu haben, indem er ausländischen Staatsbürgern, die nicht Bürger der Europäischen Union seien, den Zugang zum Anwaltsberuf verwehrt habe.

Was die Voraussetzungen des Zugangs zum Anwaltsberuf anlangt, hat der GH bereits im Fall Thlimmenos/GR festgestellt, dass die Konvention nicht die Freiheit der Ausübung eines (bestimmten) Berufs garantiert. Abgesehen davon folgt er der Ansicht der Regierung, wonach ein Rechtsanwalt einen freien Beruf ausübe, der gleichzeitig dem öffentlichen Interesse diene. Der Besonderheit des Anwaltsberufs wurde bereits in den Fällen Rainys und Gasparavicius/LT und Casado Coca/E Rechnung getragen: Während dieser einerseits nicht der Bekleidung eines Postens in öffentlicher Funktion gleichgehalten werden kann, sind Anwälte andererseits Hilfswerkzeuge der Justiz, was besondere Verpflichtungen für die Wahrnehmung ihrer Aufgaben mit sich bringt.

Es steht folglich im Ermessen der nationalen Behörden, wie sie die Voraussetzungen des Zugangs zum Anwaltsberuf regeln und ob Voraussetzung dafür die griechische oder EU-Staatsbürgerschaft ist. Die einschlägige Rechtslage, die Angehörige von Drittstaaten vom Anwaltsberuf ausnimmt, stellt daher keine diskriminierende Unterscheidung gegenüber diesen beiden Personengruppen dar.

Die auf Art. 3 der Anwaltsordnung gegründete Entscheidung der Behörden, der Bf. die Teilnahme an der Anwaltsprüfung zu verwehren, war daher objektiv gerechtfertigt. Keine Verletzung von Art. 8 EMRK in Verbindung mit Art. 14 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 7.000,- für immateriellen Schaden, € 4.400,- für Kosten und Auslagen (4:3 Stimmen; gemeinsames Sondervotum von Richterin Vajic und den Richtern Malinverni und Nicolaou).

Vom GH zitierte Judikatur:

Casado Coca/E v. 24.2.1994, A/285-A; NL 1994, 84; ÖJZ 1994, 636.

Thlimmenos/GR v. 6.4.2000 (GK); NL 2000, 63.

Rainys und Gasparavicius/LT v. 7.4.2005.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 28.5.2009, Bsw. 26713/05, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 146) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/09_3/Bigaeva.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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