EGMR Bsw31276/05

EGMRBsw31276/053.2.2009

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Women on Waves u.a. gegen Portugal, Urteil vom 3.2.2009, Bsw. 31276/05.

 

Spruch:

Art. 10 EMRK, Art. 11 EMRK - Verbot der Einfahrt in das Küstenmeer verletzt Art. 10 EMRK.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Keine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 5 EMRK, Art. 6 EMRK und Art. 2 4. Prot. EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Je € 2.000,- für jede der drei Bf. für immateriellen Schaden, € 3.309,40 für Kosten und Auslagen abzüglich € 1.500,- bereits erhaltener Verfahrenskostenhilfe des Europarats (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Die ErstBf., eine niederländische Stiftung, wurde von der Zweit- und DrittBf., zwei portugiesischen Gesellschaften, nach Portugal eingeladen, um sich dort für die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen einzusetzen. Die ErstBf. charterte daraufhin ein Schiff, die Borndiep, und steuerte von Amsterdam aus den Hafen von Figueira da Foz an, um dort zwischen 30.8. und 12.9.2004 an Bord der Borndiep Versammlungen, Seminare und Arbeitsgruppen zu organisieren.

Als sich die Borndiep der portugiesischen Küste näherte, wurde dem Schiff am 27.8.2004 mit einem ministeriellen Bescheid die Einfahrt in die territorialen Gewässer Portugals im Interesse der Sicherheit und Kontrolle der Schifffahrt sowie der öffentlichen Gesundheit untersagt. Laut Bescheid seien den Medien Anzeichen dafür zu entnehmen, dass die Mitglieder der ErstBf. anstrebten, in Portugal verbotene Medikamente zu vertreiben, die Begehung von rechtswidrigen Handlungen zu unterstützen und ohne behördliche Erlaubnis die öffentliche Gesundheit gefährdende Aktivitäten auszuüben. Am selben Tag bezog ein Kriegsschiff der portugiesischen Marine neben der Borndiep Position, um diese am Einfahren in die Küstengewässer zu hindern.

Am 1.9.2004 wandten sich die Bf. an das Verwaltungsgericht Coimbra, um von diesem eine Anweisung zur sofortigen Erteilung einer Einfahrerlaubnis in die portugiesischen Gewässer zu erwirken. Sie beriefen sich auf ihre Rechte auf Meinungsäußerungs- sowie auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und auf das gemeinschaftsrechtliche Prinzip der Freizügigkeit. Das Verwaltungsgericht wies den Antrag jedoch ab. Es sah es als erwiesen an, dass die ErstBf. anstrebte, in Portugal verbotene Abtreibungspillen zu verteilen, und befand, dass es zum Schutz der Rechte der Bf. nicht erforderlich sei, eine Einfahrt in die portugiesischen Gewässer zu erlauben.

Eine von den Bf. beim Zentralverwaltungsgericht Nord dagegen erhobene Berufung wurde am 16.12.2004 aus Zweckmäßigkeitsgründen abgewiesen, da die Borndiep bereits in die Niederlande zurückgekehrt war.

In der Folge riefen die Bf. das Oberste Verwaltungsgericht an. Dieses erklärte die Beschwerde der Bf. jedoch für unzulässig, da sie einer rechtlichen oder gesellschaftlichen Bedeutung entbehre.

Den Angaben auf der Internetseite der ErstBf. zufolge wurden zwischen 24.8. und 12.9.2004 in den Medien ca. 700 Beiträge zur vorliegenden Situation veröffentlicht. In Lissabon und Figueira da Foz fanden mehrere Kundgebungen zur Unterstützung der Bf. statt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügen eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit) und Art. 11 EMRK (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit), sowie von Art. 5 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit) und Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und Art. 2 4. Prot. EMRK (Freizügigkeit).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 und Art. 11 EMRK:

Die Bf. behaupten, die Untersagung, die Borndiep in die portugiesischen Gewässer einfahren zu lassen, stelle eine Verletzung ihrer Rechte nach Art. 10 und Art. 11 EMRK dar.

Die Beschwerde ist für zulässig zu erklären, da sie weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig ist (einstimmig).

1. Zur Frage nach der im vorliegenden Fall anwendbaren Konventionsbestimmung:

Im vorliegenden Fall ist die Frage der Meinungsäußerungsfreiheit nur schwer von der Frage der Versammlungsfreiheit zu trennen. Der Schutz der persönlichen Meinung, der in Art. 10 EMRK garantiert wird, zählt nämlich auch zu den Zielen von Art. 11 EMRK. Da sich die Bf. aber in erster Linie darüber beschwert haben, in ihrem Recht verletzt worden zu sein, die Öffentlichkeit über ihre Position hinsichtlich Schwangerschaftsabbrüchen und Frauenrechten im Allgemeinen zu informieren, erachtet es der GH für geeigneter, die Beschwerde nur unter Art. 10 EMRK zu prüfen. Dies soll den GH aber nicht davon abhalten, bei der Untersuchung und Auslegung von Art. 10 EMRK gegebenenfalls auch auf Art. 11 EMRK Bezug zu nehmen.

2. Zur Befolgung von Art. 10 EMRK:

Die Meinungsäußerungsfreiheit ist für das Funktionieren einer Demokratie von besonderer Bedeutung. Sie schützt insbesondere die Äußerung von Ideen oder Informationen, die den Staat oder irgendeinen Teil der Bevölkerung beleidigen, schockieren oder beunruhigen. Dies liegt im Interesse von Pluralismus, Toleranz und Offenheit - Werte, die eine demokratische Gesellschaft ausmachen.

Der GH geht davon aus, dass vorliegend ein Eingriff in die Rechte der Bf. gegeben war. Durch die Untersagung, mit dem Schiff in die portugiesischen Gewässer einzufahren, wurden die Bf. nämlich daran gehindert, in der ihnen am wirkungsvollsten erscheinenden Weise Informationen zu verbreiten und an Bord der Borndiep geplante Versammlungen und Kundgebungen abzuhalten. Art. 10 EMRK schützt auch die Art und Weise, wie umstrittene Ideen und Ansichten verbreitet werden.

Es bleibt zu prüfen, ob der gegenwärtige Eingriff gesetzlich vorgesehen war, einem der in Art. 10 Abs. 2 EMRK vorgesehenen legitimen Ziele entsprach und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

a) Gesetzliche Grundlage:

Die Art. 19 und 25 der UN-Seerechtskonvention 1982 bilden eine ausreichende rechtliche Grundlage für den Eingriff (Anm.: Nach diesen Bestimmungen kann ein Staat Schiffe daran hindern, in seine territorialen Gewässer einzufahren, um u.a. die Gefahr eines Verstoßes gegen gesundheitsrechtliche Regelungen abzuwenden. Portugal ist seit 3.12.1997 Vertragspartei der UN-Seerechtskonvention). Dies wird von den Parteien nicht bestritten.

b) Legitimes Ziel:

Die Bf. sind der Meinung, wegen ihrer fehlenden Absicht, gegen die portugiesischen, Schwangerschaftsabbrüche betreffenden Gesetze zu verstoßen, habe kein Grund bestanden, den Eingriff mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder mit dem Schutz der öffentlichen Gesundheit zu rechtfertigen. Entgegen diesem Vorbringen geht der GH aber davon aus, dass die portugiesischen Behörden mit ihrem Handeln legitimerweise ebendiese Ziele verfolgten.

c) Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft:

Der GH hat zu klären, ob die Beschränkung des Rechts auf Verbreitung von Ideen und Informationen einem übergeordneten gesellschaftlichen Interesse diente und verhältnismäßig zu den verfolgten Zielen war. Den Staaten verbleibt hier - insbesondere was geeignete Maßnahmen zu einer friedlichen Abhaltung von erlaubten Aktivitäten betrifft - ein gewisser Ermessensspielraum. Der GH hat die Entscheidungen des Staates aber auf ihre Verhältnismäßigkeit hin und unter Berücksichtigung der besonderen Bedeutung der Meinungsfreiheit zu überprüfen. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass der GH die Möglichkeit des Einzelnen, seine Meinung auszudrücken und jegliche, von irgendeiner Gewalt geäußerte Entscheidung zu bestreiten, bereits als Kern der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit anerkannt hat. Wenn es stimmt, dass die Ausübung dieser Rechte nicht an die Erreichung eines vorgegebenen Ziels geknüpft ist, so folgt daraus, dass jeder auch noch so indirekte Eingriff in diesen Kern als Verstoß gegen die Konvention zu werten ist.

Wie bereits zuvor festgestellt, unterliegt auch die Art und Weise der Verbreitung von Informationen und Ideen dem Schutz des Art. 10 EMRK. Nach Ansicht des GH umfasst dies auch die Entscheidung darüber, in welcher Weise die Betroffenen beabsichtigen, ihre Ansichten und Ideen auszudrücken. Diese sollen nämlich die Möglichkeit haben, die ihnen für die Erreichung möglichst vieler Menschen am besten geeignet erscheinende Modalität der Verbreitung zu wählen.

Im vorliegenden Fall waren die Bf. hierzu nicht in der Lage. Indem die Einfahrt der Borndiep in die portugiesischen Gewässer untersagt wurde, wurde den Bf. die ihrer Ansicht nach bestmögliche Art der Verbreitung ihrer Ideen genommen. Der Regierung ist zwar zuzustimmen, dass die Mitglieder der Bf. auch an Land gehen hätten können, um ihre Verbreitungstätigkeiten auszuüben. In bestimmten Situationen können Art und Weise der Verbreitung aber von solcher Bedeutung sein, dass eine Einschränkung wie die vorliegende die Substanz der zu vermittelnden Ideen und Informationen in erheblicher Weise zu beeinträchtigen vermag. Dies ist im gegenwärtigen Fall anzunehmen, da die Bf. beabsichtigten, symbolisch gegen die von ihnen als ungerecht empfundene portugiesische Gesetzeslage betreffend Schwangerschaftsabbrüche zu protestieren. Daneben war es für die Bf. auch von erheblicher Bedeutung, die geplanten Seminare und Arbeitsgruppen an Bord eines Schiffes abzuhalten, wie es die ErstBf. bereits mehrmals in anderen europäischen Ländern getan hatte.

Letztere Schlussfolgerung steht der Entscheidung im Fall Appleby u.a./GB nicht entgegen, in dem der GH entschied, dass aus Art. 10 EMRK keine positive Verpflichtung des Staates abgeleitet werden kann, zum Zwecke der freien Meinungsäußerung ein Recht auf Zugang zu privatem - in diesem Fall einem Einkaufszentrum - oder in Staatseigentum stehendem Grund zu gewähren, wenn es effiziente Alternativen für die Meinungskundgebung gibt. Zum einen betrifft der gegenwärtige Fall nämlich die territorialen Gewässer Portugals, die im Unterschied zu den Räumlichkeiten einer Behörde öffentlicher Raum und von Natur aus geöffnet sind. Zum anderen geht es vorliegend nicht um positive Verpflichtungen, hinsichtlich derer dem Staat keine zu engen Grenzen auferlegt werden dürften. Zwar kommt dem Staat auch bei negativen Verpflichtungen ein Ermessensspielraum zu, dieser ist aber geringer als bei positiven Verpflichtungen.

Die Regierung geht davon aus, dass eine Einfahrt der Borndiep in die territorialen Gewässer Portugals Anlass zu Verstößen gegen die damalige portugiesische Rechtsordnung betreffend Schwangerschaftsabbrüche gegeben hätte. Der GH kann aber weder ernsthafte Hinweise dafür erkennen, dass die Bf. beabsichtigten, gegen diese Gesetze zu verstoßen, noch dass sie die Intention hatten, in Portugal verbotene Medikamente zu verteilen, auch wenn sie solche, wie vom Verwaltungsgericht Coimbra angenommen, an Bord der Borndiep mitführten. Was den letzteren Punkt angeht, hätten die portugiesischen Behörden jedenfalls weniger einschränkende Maßnahmen, etwa die Beschlagnahme der Medikamente, anordnen können. In diesem Zusammenhang erinnert der GH daran, dass der Meinungsfreiheit bei der Abhaltung friedlicher Versammlungen eine besondere Bedeutung zukommt, weshalb in Fällen, in denen der Betroffene selbst keine strafbare Handlung begeht, nicht jede beliebige Einschränkung hingenommen werden kann.

Der GH ist sich der Wichtigkeit, die der portugiesische Staat dem Schutz seiner Rechtsordnung hinsichtlich Schwangerschaftsabbrüchen beimisst, wohl bewusst, dennoch verweist er darauf, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung gerade auch jene Ideen schützt, die erschüttern, schockieren und der etablierten Ordnung widersprechen.

Die Konventionsstaaten sollten es vermeiden, eine jede Maßnahme unter dem Aspekt des Schutzes der öffentlichen Sicherheit zu rechtfertigen. Im vorliegenden Fall wären dem Staat mit Sicherheit andere Mittel zur Verfügung gestanden, als die Einfahrt der Borndiep in die portugiesischen Gewässer gänzlich zu untersagen und ein Kriegsschiff gegen ein ziviles Schiff auszusenden, um die legitimen Ziele der öffentlichen Sicherheit und Gesundheit zu verfolgen. Derart radikale Maßnahmen erzeugen unweigerlich eine abschreckende Wirkung sowohl gegenüber den Bf. als auch gegenüber anderen Personen, die Informationen und Ideen gegen die etablierte Ordnung verbreiten wollen. Der vorliegende Eingriff war daher in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig und deshalb unverhältnismäßig zu den verfolgten Zielen. Es liegt somit eine Verletzung von Art. 10 EMRK vor (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 und Art. 6 EMRK und Art. 2 4. Prot. EMRK:

Nach Ansicht der Bf. war die Untersagung der Einfahrt in die portugiesischen Gewässer rechtswidrig, da sie lediglich auf Medienhinweisen beruhte. Sie würde außerdem ihre Rechte auf persönliche Freiheit und Freizügigkeit verletzen. Was diese Beschwerdepunkte betrifft, erachtet der GH keine gesonderte Prüfung für nötig, da die wesentliche Rechtsfragen bereits geklärt wurden (einstimmig).

Entschädigung nach 41 EMRK:

Je € 2.000,- für jede der drei Bf. für immateriellen Schaden, € 3.309,40 für Kosten und Auslagen abzüglich € 1.500,- bereits erhaltener Verfahrenskostenhilfe des Europarats (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Open Door und Dublin Well Woman/IRL v. 29.10.1992, NL 1992/6, 13; EuGRZ, 1992, 484; ÖJZ 1993, 280.

Thoma/L v. 29.3.2001.

Appleby u.a./GB v. 6.5.2003, NL 2003, 137.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 3.2.2009, Bsw. 31276/05, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 31) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/09_1/Women_on_waves.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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