EGMR Bsw33629/06

EGMRBsw33629/068.7.2008

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Vajnai gegen Ungarn, Urteil vom 8.7.2008, Bsw. 33629/06.

 

Spruch:

Art. 10 EMRK - Strafrechtliche Verurteilung wegen Tragens des roten Sterns.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für immateriellen Schaden dar. € 2.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Der Bf. lebt in Budapest. Am 21.2.2003 hielt er in seiner Eigenschaft als Vizepräsident der ungarischen Arbeiterpartei, einer staatlich anerkannten Linkspartei, in Budapest im Zuge einer angemeldeten Demonstration eine Rede. An seiner Jacke war der fünfzackige rote Stern als Symbol der internationalen Arbeiterbewegung befestigt. Der Bf. wurde daraufhin von einem Polizisten gemäß § 269/B Abs. 1 ungarisches StGB aufgefordert, den Stern abzulegen. Er kam dieser Aufforderung nach.

In der Folge wurde gegen ihn ein Strafverfahren wegen Tragens eines totalitären Symbols in der Öffentlichkeit eingeleitet. Am 11.3.2004 erkannte das Amtsgericht Pest den Bf. im Sinne der Anklage für schuldig, verzichtete jedoch unter Festsetzung einer einjährigen Probezeit auf die Verhängung einer Strafe.

Der Bf. legte dagegen ein Rechtsmittel beim Hauptstädtischen Gericht Budapest (Fövarosi Birosag) ein. Dieses setzte das Verfahren aus und ersuchte den EuGH gemäß Art. 234 EG um Vorabentscheidung hinsichtlich der Frage, ob eine Bestimmung diskriminierend sei, die in einem EU-Mitgliedstaat das öffentliche Tragen von Symbolen der internationalen Arbeiterbewegung unter Androhung einer Strafe verbiete, während dieser in anderen Mitgliedstaaten keine Sanktion nach sich ziehe. Am 6.10.2005 erklärte der EuGH, dass er zur Beantwortung der Vorlagefrage nicht zuständig sei, da die betreffende nationale Regelung weder in den Bereich des Gemeinschaftsrechts falle, noch der Klagsgegenstand einen Bezug zu einer der von den Bestimmungen der Verträge in Betracht gezogenen Situationen aufweise.

Am 16.11.2005 bestätigte das Hauptstädtische Gericht Budapest das gegen den Bf. ergangene Urteil.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Recht auf freie Meinungsäußerung) durch seine Verurteilung.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK:

1. Zur Zulässigkeit der Beschwerde:

Die Regierung wendet ein, die Beschwerde sei wegen des in Art. 17 EMRK verankerten Missbrauchsverbots unvereinbar mit der Konvention. Da der rote Stern totalitäre Einstellungen repräsentiere, bringe sein Tragen ein geringschätziges Verhalten gegenüber den Opfern des kommunistischen Regimes zum Ausdruck, was auf die Rechtfertigung einer Politik mit dem Ziel der Abschaffung der in der Konvention festgelegten Rechte und Pflichten hinauslaufe.

Im vorliegenden Fall wurde von der Regierung nicht damit argumentiert, dass sich der Bf. in irgendeiner Weise geringschätzig über die Opfer eines totalitären Regimes geäußert habe oder einer Bewegung mit totalitärem Gedankengut angehöre. Dies geht auch aus den Prozessakten nicht hervor.

Unter diesen Umständen vermag der GH nicht darauf zu schließen, dass das Tragen des roten Sterns darauf abzielte, totalitäre Unterdrückung zugunsten totalitärer Gruppen zu rechtfertigen oder zu propagieren. Es handelte sich dabei lediglich um ein Symbol einer legalen linksgerichteten politischen Bewegung. Die Beschwerde begründet somit keinen Missbrauch des Beschwerderechts. Folglich ist sie nicht unvereinbar mit der Konvention ratione materiae iSv. Art. 35 Abs. 3

EMRK.

Da die Beschwerde auch aus keinen anderen Gründen unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

2. In der Sache selbst:

Die strafrechtliche Verurteilung des Bf. stellt einen Eingriff in sein Recht auf freie Meinungsäußerung dar. Dieser war gesetzlich vorgesehen und verfolgte die legitimen Ziele des Schutzes der Rechte anderer und der Aufrechterhaltung der Ordnung. Zu prüfen bleibt, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Im vorliegenden Fall ist die Entscheidung des Bf., den roten Stern in der Öffentlichkeit zu tragen, als Ausdruck seiner politischen Einstellung anzusehen. Das Tragen von derartigen Symbolen fällt in den Anwendungsbereich von Art. 10 EMRK.

Der GH räumt ein, dass die massiven Menschenrechtsverletzungen, die unter dem Kommunismus begangen wurden, die symbolische Bedeutung des Sterns in Verruf gebracht haben. Ungeachtet dessen stellt dieser immer noch ein Symbol sowohl der internationalen Arbeiterbewegung, die für eine gerechtere Gesellschaft kämpft, als auch rechtlich anerkannter Parteien in anderen Mitgliedstaaten dar. Die Regierung vermochte nicht überzeugend darzulegen, dass das Tragen des roten Sterns ausschließlich eine Identifikation mit totalitärem Gedankengut bedeutet, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass ihn der Bf. bei einer legal organisierten und friedlichen Demonstration in Ausübung seiner Funktion als Vizepräsident einer registrierten linken politischen Bewegung trug. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass diese Organisation unter Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien am politischen Leben in Ungarn mitwirken wollte.

Der GH erachtet das gegenständliche Verbot in Anbetracht der unterschiedlichen Bedeutungen des roten Sterns insofern als zu weit. Es kann nämlich Ideen und Aktivitäten umfassen, die klar durch Art. 10 EMRK geschützt sind, und es werden auf keine zufriedenstellende Weise die verschiedenen Bedeutungen, die das inkriminierte Symbol hat, abgegrenzt.

Was das Ziel der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung anlangt, hat die Regierung von keinem Fall berichtet, bei dem eine aktuelle oder potentielle Gefahr der Unruhe aufgrund des öffentlichen Tragens des roten Sterns hervorgerufen worden wäre. Nach Ansicht des GH kann die Eindämmung einer rein spekulativen Gefahr als präventive Maßnahme zum Schutz der Demokratie nicht als „dringendes gesellschaftliches Bedürfnis" angesehen werden. Die potentielle Verbreitung der hinter dem roten Stern stehenden totalitären Ideologie darf, so untragbar sie auch sein mag, nicht der einzige Grund für eine Beschränkung in Form einer strafgerichtlichen Sanktion sein.

Ein Symbol mit verschiedenen Bedeutungen - im gegenwärtigen Fall von einem Führer einer registrierten politischen Partei ohne bekannte totalitäre Absichten getragen - kann nicht mit gefährlicher Propaganda gleichgesetzt werden. § 269/B ungarisches StGB verlangt jedoch keinen Nachweis, dass mit dem Tragen des roten Sterns eine totalitäre Propaganda beabsichtigt wird. Das bloße Tragen ist bereits als solches strafbar, außer es dient wissenschaftlichen, künstlerischen, informativen oder erzieherischen Zwecken. Die einseitige Formulierung des Verbots spricht ebenfalls dafür, dass diese Strafbestimmung zu weit gefasst ist.

Dem GH ist bewusst, dass der im Namen des Kommunismus in verschiedenen Ländern, inklusive Ungarn, ausgeübte systematische Terror eine ernstzunehmende Narbe im Herzen und im Bewusstsein Europas hinterlassen hat. Er anerkennt, dass das Tragen eines Symbols, das während der Herrschaft der kommunistischen Regime allgegenwärtig war, möglicherweise Unbehagen bei ehemaligen Opfern und deren Verwandten, die diese Darstellungen zu Recht als respektlos empfinden können, auszulösen vermag. Solche Gefühle alleine vermögen jedoch, wie verständlich sie auch sein mögen, nicht die Grenzen der Meinungsäußerungsfreiheit festzulegen. Nach Ansicht des GH würdigt ein Rechtssystem, das Einschränkungen der Menschenrechte vorsieht, um dem Diktat der öffentlichen Gefühle - realer oder imaginärer Natur - zu folgen, nicht die in einer demokratischen Gesellschaft anerkannten dringenden gesellschaftlichen Bedürfnisse.

Der GH kommt zu dem Ergebnis, dass die Verurteilung des Bf. allein aufgrund des bloßen Tragens des roten Sterns nicht durch ein dringendes gesellschaftliches Bedürfnis gerechtfertigt war. Die über ihn verhängte Strafe, mit der sein Benehmen sanktioniert wurde, hatte ungeachtet ihrer geringfügigen Natur beträchtliche Konsequenzen für ihn. Der GH erachtet die Strafe daher als unverhältnismäßig zum verfolgten legitimen Ziel. Da der Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit des Bf. somit nicht nach Art. 10 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt war, liegt eine Verletzung von Art. 10 EMRK vor (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich eine ausreichende

gerechte Entschädigung für immateriellen Schaden dar. € 2.000,- für

Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Lehideux und Isorni/F v. 23.9.1998 (GK), NL 1998, 195; ÖJZ 1999, 656. Rekvenyi/H v. 20.5.1999 (GK), NL 1999, 100; ÖJZ 2000, 235. Rainys und Gasparavicius/LT v. 7.4.2005.

Sidabras and Dziautas/LT v 27.7.2004, NL 2004, 193.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 8.7.2008, Bsw. 33629/06, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2008, 208) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/08_4/Vajnai.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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