EGMR Bsw20620/04

EGMRBsw20620/0427.3.2008

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Azevedo gegen Portugal, Urteil vom 27.3.2008, Bsw. 20620/04.

 

Spruch:

Art. 10 EMRK - Verurteilung eines Literaten wegen Kritik an einer Kollegin.

Zulässigkeit der Beschwerde unter Art. 10 EMRK (einstimmig). Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 2.947,65 für immateriellen Schaden, € 7.500,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Im Oktober 2001 gab die Gemeinde Castelo Branco gemeinsam mit dem Bf. ein Buch mit dem Titel „Die Gärten des Bischöflichen Palais in Castelo Branco" heraus. Dieses enthielt - neben zahlreichen Fotos, Karten und Zeichnungen - auch einen kritischen Kommentar des Bf. betreffend die seiner Ansicht nach ärmliche Qualität früherer Arbeiten zu besagten Gärten. Er führte unter anderem aus: „Die jüngsten Arbeiten zu diesem Thema atmen den Geist der Mittelmäßigkeit. Kürzlich erschien ein qualitativ minderwertiges Büchlein von S. [...]. Die Konfusion [der Autorin] über die Rolle der Kunst, im vorliegenden Fall der Poesie, als zulässiges Mittel zur Erklärung der Realität, würde ein zusätzliches Semester in der Grundschule zwecks Studium der Literatur und Ästhetik erfordern - mit der Verpflichtung, die Werke von Aristoteles, Horaz und Goethe, nicht zu vergessen jene von W. Benjamin und H. Broch, zu lesen und zu analysieren."

In der Folge erstattete S. bei der Staatsanwaltschaft Strafanzeige wegen übler Nachrede und beantragte, sich dem Verfahren als Privatbeteiligte anschließen zu dürfen. In der am 29.4.2003 durchgeführten Verhandlung vor einem Einzelrichter des Strafgerichts von Castelo Branco erklärten sowohl der Staatsanwalt als auch die Parteien, auf eine vollständige Niederschrift über die während der Verhandlung getätigten Aussagen zu verzichten.

Mit Urteil vom 7.5.2003 wurde der Bf. der üblen Nachrede mit Rücksicht auf die mit „Konfusion" beginnende und mit „Grundschule" endende Passage für schuldig befunden und zu einer bedingten Freiheitsstrafe von einem Monat und zur Zahlung einer symbolischen Entschädigung an S. in Höhe von einem Euro verurteilt. Ferner wurden ihm die Kosten für eine auszugsweise Veröffentlichung des Urteils in zwei regionalen Tageszeitungen auferlegt.

Am 17.12.2003 wurde ein vom Bf. gegen das Urteil eingebrachtes Rechtsmittel vom Gericht zweiter Instanz mit der Begründung abgewiesen, im vorliegenden Fall müsse der Schutz der Meinungsfreiheit gegenüber jenem des guten Rufes und der Ehre zurücktreten. Es nahm eine Neubemessung der Strafe vor, indem es die bedingte Freiheitsstrafe in eine Geldstrafe von € 1.000,- (im Fall der Zuwiderhandlung Verhängung einer Ersatzfreiheitsstrafe von 66 Tagen) umwandelte.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet, seine Verurteilung stelle eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit) dar.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK:

1. Zur Zulässigkeit der Beschwerde:

Die Regierung wendet ein, der Bf. habe den innerstaatlichen Instanzenzug nicht erschöpft, da er es verabsäumt habe, die vom Strafgericht erhobenen Tatsachen anzufechten, indem er im Zuge der Strafverhandlung auf die Abfassung einer vollständigen Niederschrift verzichtet habe.

Im vorliegenden Fall focht der Bf. das Urteil des Strafgerichts unter ausdrücklicher Berufung auf seine von Art. 10 EMRK garantierte Meinungsäußerungsfreiheit und andere Bestimmungen des nationalen Rechts an. Das Gericht zweiter Instanz prüfte das Rechtsmittel und wies es in der Sache ab. Auch unter der Voraussetzung, dass es die vom Erstgericht erhobenen Tatsachen tatsächlich als nicht vom Rechtsmittel des Bf. umfasst angesehen hat, prüfte es jedoch sehr wohl, ob eben diese Fakten eine Verurteilung des Bf. begründen könnten und bejahte dies im vorliegenden Fall. Den nationalen Instanzen wurde folglich vom Bf. Gelegenheit gegeben, ihm hinsichtlich der behaupteten Verletzung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung Abhilfe zu verschaffen.

Unter diesen Umständen wurde dem in Art. 35 Abs. 1 EMRK niedergelegten Erfordernis der Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges Rechnung getragen. Der Einwand der Regierung ist daher zurückzuweisen.

Der GH stellt fest, dass die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig ist. Sie ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

2. In der Sache selbst:

Die strafrechtliche Verurteilung des Bf. stellt einen Eingriff in sein Recht auf freie Meinungsäußerung dar. Dieser war gesetzlich vorgesehen und verfolgte ein legitimes Ziel, nämlich den Schutz des guten Rufes und der Rechte anderer. Zu prüfen ist, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

Im vorliegenden Fall handelte es sich um eine Debatte von öffentlichem Interesse, mag die Kontroverse über die historische und symbolische Bedeutung eines wichtigen Bauwerks in Castelo Branco auch ein Spezialfeld behandelt haben.

Was die Position von S. anlangt, widerspricht der GH der Ansicht der Regierung, bei ihr handle es sich lediglich um eine „einfache Privatperson". Letztere war Autorin eines wissenschaftlichen Werks, das veröffentlicht worden und auf dem Buchmarkt verfügbar war. Sie musste daher mit Kritik seitens der Leserschaft oder der akademischen Wissenschaft rechnen.

Zu den Äußerungen des Bf., die von den Gerichten als persönlicher Angriff gegen S. gewertet wurden, ist zu sagen, dass diese sich ungeachtet ihrer unbestrittenenmaßen negativen Assoziation im Wesentlichen gegen die Qualität der von S. vorgenommenen Analyse des gegenständlichen Monuments richteten. Es handelte sich hierbei um Werturteile, die nach der ständigen Rechtsprechung des GH einer Beweisführung nicht zugänglich sind. Ferner ist festzuhalten, dass das Buch sich nur an einen ausgewiesenen Leserkreis richtete und die darin vorgestellten Ideen naturgemäß relativierungsbedürftig waren. Schließlich war die über den Bf. verhängte Sanktion ihrer Art nach geeignet, die Freiheit von akademischen Forschern, derer sie in ihrer wissenschaftlichen Arbeit dringend bedürfen, empfindlich einzuschränken. Im Gegensatz zur Regierung ist der GH nicht der Ansicht, dass die Auferlegung einer Geldstrafe bzw. Ersatzfreiheitsstrafe von geringfügigem Charakter war. Die Möglichkeit der Verhängung einer Haftstrafe in einem klassischen Diffamierungsfall wie dem vorliegenden war nicht nur unangemessen, sondern hatte auch unweigerlich abschreckende Wirkung. Angesichts dieser Umstände bestand zwischen der Notwendigkeit des Schutzes des Bf. in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung und jenem von S. auf Achtung ihrer Rechte und ihres guten Rufes kein ausgewogenes Verhältnis. Die Verurteilung des Bf. war auch unter Berücksichtigung des staatlichen Ermessensspielraums gegenüber dem gesetzlich verfolgten Ziel unverhältnismäßig. Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 2.947,65 für materiellen Schaden, € 7.500,- für Kosten und Auslagen

(einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Lingens/A v. 8.7.1986, A/103; EuGRZ 1986, 424.

Lopes Gomes da Silva/P v. 28.9.2000.

Chauvy u.a./F v. 29.6.2004.

Cumpana und Mazare/RO v. 17.12.2004.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 27.3.2008, Bsw. 20620/04 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2008, 84) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/08_2/Azevedo.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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