EGMR Bsw3138/04

EGMRBsw3138/0425.1.2007

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Arbeiter gegen Österreich, Urteil vom 25.1.2007, Bsw. 3138/04.

 

Spruch:

Art. 10 EMRK, § 1330 ABGB - Öffentliche Debatte über Spitalsreform. Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 7.934,11 für materiellen Schaden, € 12.402,58 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Der Bf. war zur Zeit der umstrittenen Ereignisse Obmann des Zentralbetriebsrats der Kärntner Landeskrankenanstalten und Gesundheitssprecher der sozialdemokratischen Fraktion im Kärntner Landtag.

Im Zuge einer politischen Debatte über die Reform des regionalen Gesundheitssystems beauftragte die Kärntner Landesregierung im März 2001 den Gesundheitsökonomen Christian Köck mit der Ausarbeitung von Vorschlägen zur Reduktion der Kosten öffentlicher Krankenanstalten. Die geplante Reform des Gesundheitswesens wurde in den Medien ausführlich diskutiert. Herr Köck sprach sich in einigen Interviews für eine Kürzung überflüssiger Dienstleistungen und die Schließung kleinerer Krankenhäuser und Abteilungen aus.

Ende Mai 2001 gründete Herr Köck die Krankenanstalten Beteiligungsaktiengesellschaft (KABAG), deren Zweck in der Übernahme und Betreibung von Krankenhäusern bestand. Der Bundessprecher der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) kritisierte diese Unternehmensgründung als unvereinbar mit der Funktion Köcks als von der Kärntner Landesregierung beauftragter Experte, da ihm dieser Auftrag Zugang zu allen relevanten Daten über die öffentlichen Krankenhäuser des Landes gewähre.

Die „Kärntner Tageszeitung" veröffentlichte am 8.6.2001 einen Artikel, in dem sie folgende Äußerungen des Bf. wiedergab: „Es ist ungeheuerlich, wie der angebliche Spitalsguru Köck als Berater einerseits ganze Abteilungen und Spitäler in Kärnten ausradieren und andererseits mit seiner neu gegründeten privaten Krankenanstaltengesellschaft diese Spitäler in unserem Bundesland übernehmen will!", wettert der wortgewaltige LKH-Zentralbetriebsrat Gebhard Arbeiter. Schon einmal hätte sich Landeshauptmann Haider bei einem angeblichen technischen Wunderwuzzi gewaltig geirrt, der vor dem Staatsanwalt landete, mahnt Arbeiter vor der „nicht nachvollziehbaren Begeisterung der FP für einen angeblichen Gesundheitsguru und Zusperrprediger."

Das LG Klagenfurt gab einer von Herrn Köck erhobenen Klage am 30.9.2002 statt und verurteilte den Bf. zur Unterlassung und zum Widerruf der Behauptung, Herr Köck würde das Kärntner Gesundheitssystem zerstören und ganze Abteilungen und Spitäler schließen, um sie mit seiner Gesellschaft zu übernehmen. Außerdem wurde ihm der Vergleich von Herrn Köck mit einem „angeblichen technischen Wunderwuzzi, der vor dem Staatsanwalt landete" untersagt. Das LG qualifizierte die Vorwürfe als kreditschädigende und ehrenbeleidigende Tatsachenbehauptungen, für die der Bf. keinen Wahrheitsbeweis erbracht hätte.

Die vom Bf. gegen dieses Urteil erhobene Berufung wurde vom OLG Graz am 2.4.2003 abgewiesen. Der OGH wies die außerordentliche Revision des Bf. am 10.7.2003 zurück.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Recht auf freie Meinungsäußerung).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK:

Da die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK noch aus einem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Es ist unbestritten, dass die Urteile einen Eingriff in das Recht des Bf. auf freie Meinungsäußerung darstellen. Außer Streit steht auch, dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen war und einem legitimen Ziel diente, nämlich dem Schutz der Rechte und des guten Rufes anderer. Zu prüfen bleibt, ob der Eingriff auf ausreichenden Gründen beruhte und verhältnismäßig zum verfolgten Ziel war.

Die österreichischen Gerichte gaben der Klage von Herrn Köck statt, weil sie die Äußerungen des Bf. als unrichtige Tatsachenbehauptungen qualifizierten, die Herrn Köck in die Nähe krimineller Machenschaften rücken und den Eindruck erwecken würden, er wäre völlig unqualifiziert.

Der GH kann dieser Ansicht nicht folgen. Der Bf. brachte seine Entrüstung über die angeblichen Absichten von Herrn Köck zum Ausdruck und äußerte damit eher seine eigene Meinung als eine Tatsachenbehauptung. Die Behauptungen des Bf. über die Absicht von Herrn Köck, Gesundheitseinrichtungen „auszuradieren" und diese selbst zu „übernehmen", wurden durch einige objektive Faktoren gestützt. Herr Köck hatte tatsächlich die Kürzung überflüssiger Angebote und die Schließung von kleineren Spitälern und Abteilungen empfohlen. Er hatte auch kurz zuvor ein Unternehmen gegründet, dessen Zweck in der Übernahme und im Betrieb von Spitälern bestand. Auch wenn er versichert hatte, nicht auf Kärntner Krankenhäuser abzuzielen, hatte er dies als künftige Möglichkeit nicht ausgeschlossen. Die Behauptung des Bf., dass dies eine „Zerstörung unseres öffentlichen Gesundheitssystems" bedeute, muss als sein - sicher übertriebenes und polemisches - Werturteil über diese Ereignisse angesehen werden. Der folgende Hinweis auf einen zuvor von Landeshauptmann Haider bestellten Experten, der Gegenstand strafrechtlicher Untersuchungen wurde, stellt hingegen ohne Zweifel eine Tatsachenbehauptung dar. Anders als die innerstaatlichen Gerichte sieht der GH darin aber keinen Vorwurf eines kriminellen Verhaltens gegen Herrn Köck. Wie sich aus dem Zusammenhang ergibt, scheint dieser Vorfall eher als ein Beispiel dafür genannt worden zu sein, wie die Partei des Landeshauptmanns Experten auswählt.

Die Äußerungen des Bf. müssen im breiteren Kontext einer politischen und öffentlichen Debatte über die Zukunft der Landeskrankenanstalten gesehen werden. Herr Köck, der von der Kärntner Landesregierung gegen die Stimmen der SPÖ in dieser Angelegenheit als Experte bestellt wurde, äußerte sich wiederholt in den Medien und betrat damit die öffentliche Bühne. Er musste daher ein höheres Maß an Toleranz an den Tag legen. Da er scharfe Kritik an den öffentlichen Spitälern übte, musste er mit dem Widerspruch des Bf. rechnen, der in seiner Eigenschaft als Obmann des Zentralbetriebsrats der Kärntner Landeskrankenanstalten Stellung nahm.

Es ist richtig, dass der Bf. auf einer schmalen Tatsachengrundlage scharfe Kritik in einer polemischen Sprache äußerte. Angesichts der Beteiligung von Herrn Köck an der öffentlichen Debatte und seiner kritischen Äußerungen einerseits und der Stellung des Bf. als Sprecher der von dieser Kritik hauptsächlich betroffenen Personengruppe andererseits muss nach Ansicht des GH ein gewisser Grad der Übertreibung in der Reaktion des Bf. toleriert werden. Die Äußerungen des Bf. müssen daher als zulässige Beiträge zu einer im allgemeinen und öffentlichen Interesse gelegenen Debatte angesehen werden.

Da der Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit nicht auf ausreichenden Gründen beruhte, war er unverhältnismäßig zum verfolgten Ziel. Daher liegt eine Verletzung von Art. 10 EMRK vor (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 7.934,11 für materiellen Schaden, € 12.402,58 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Nilsen und Johnsen/N v. 25.11.1999, NL 1999, 197.

Albert-Engelmann-Gesellschaft mbH/A v. 19.1.2006, NL 2006, 20; ÖJZ

2006, 695.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 25.1.2007, Bsw. 3138/04, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2007, 23) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/07_1/Arbeiter.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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