Spruch:
Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 1 1. ZP EMRK - Rechtsbehelf gegen überlange Verfahrensdauer.
Verletzung von Art. 1 1. ZP EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK bezüglich der mangelnden Fairness
des Verfahrens (einstimmig).
Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK bezüglich der Dauer des Verfahrens (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 580.000,- für materiellen Schaden, € 8.400,- für immateriellen Schaden durch die überlange Verfahrensdauer, € 4.000,- für immateriellen Schaden durch die Verletzung des Rechts auf Achtung des Eigentums und des Rechts auf ein faires Verfahren, € 50.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung
Sachverhalt:
Die vier Bf. sind die Erben des 1992 verstorbenen Herrn A. Scordino, der ihnen mehrere Grundstücke in Reggio di Calabria hinterließ.Eines dieser Grundstücke wurde in dem 1970 beschlossenen Bebauungsplan einer Enteignungserlaubnis zur Errichtung von Wohnungen unterworfen. 1980 beschloss die Bezirksverwaltung von Reggio di Calabria, dass eine Genossenschaft Wohnungen auf diesem Grundstück errichten solle. Am 13.3.1981 erteilten die Behörden der Genossenschaft die Erlaubnis, das Land zu besetzen. Im März 1982 bot die Bezirksverwaltung Herrn Scordino eine Vorauszahlung auf die nach dem Gesetz Nr. 385/1980 berechnete Entschädigung für die Enteignung an, die dieser wegen des seiner Ansicht nach zu geringen Betrags ablehnte. Am 21.3.1983 erließ die Bezirksverwaltung einen Enteignungsbeschluss. Mit Urteil vom 15.7.1983 erklärte der Verfassungsgerichtshof das Gesetz Nr. 385/1980 für verfassungswidrig, wodurch das Gesetz Nr. 2359/1865 wieder in Kraft trat, das eine Entschädigung in der Höhe des Marktwerts des enteigneten Vermögens vorsah.
1989 erfuhr Herr Scordino, dass die Entschädigung mit ITL 88.414.940,- (ITL 50.000,- pro Quadratmeter) festgelegt worden war. Am 25.5.1990 strengte Herr Scordino beim Berufungsgericht Reggio di Calabria ein Verfahren gegen die Bezirksverwaltung und die Genossenschaft an, in dem er die Höhe der Entschädigung anfocht. Am 14.8.1992 trat das Gesetz Nr. 359/1992 in Kraft, dessen Art. 5 bis neue Kriterien für die Festlegung von Entschädigungen für Grundenteignungen vorsahen. Dieses Gesetz war auf anhängige Verfahren anwendbar.
Nach dem Tod von Herrn Scordino im November 1992 erklärten die Bf., das Verfahren fortsetzen zu wollen.
Mit Urteil vom 17.7.1996 wurde den Bf. eine nach Art. 5 bis des Gesetzes Nr. 359/1992 berechnete Entschädigung in der Höhe von ITL 82.890,- pro Quadratmeter zugesprochen. Die Bf. mussten eine Steuer in der Höhe von 20% dieses Betrags entrichten.
Der sowohl von den Bf. als auch von der Genossenschaft angerufene Kassationsgerichtshof bestätigte das Urteil des Berufungsgerichts am 7.12.1998.
Am 18.4.2002 stellten die Bf. nach dem Gesetz Nr. 89 vom 24.3.2001 (die sogenannte Lex Pinto) einen Antrag auf Entschädigung für materiellen und immateriellen Schaden, den sie durch die überlange Dauer des Verfahrens. erlitten hätten. Das Berufungsgericht Reggio di Calabria stellte mit Entscheidung vom 1.7.2002 eine Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer fest und sprach den Bf. insgesamt € 2.450,- für immateriellen Schaden zu. Den Bf. wurde ein Ersatz der Verfahrenskosten in der Höhe von € 1.500,- auferlegt. Da die Bf. auf ein Rechtsmittel an den Kassationsgerichtshof verzichteten, erwuchs die Entscheidung des Berufungsgerichts am 26.10.2003 in Rechtskraft.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums) und von Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf angemessene Verfahrensdauer).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK:
Die Bf. bringen vor, durch die unzureichende Entschädigung, die nach den in Art. 5 bis des Gesetzes Nr. 359/1992 vorgesehenen Kriterien bemessen worden wäre, sei ihnen eine unverhältnismäßige Last auferlegt worden. Sie beschweren sich außerdem über die rückwirkende Anwendung dieser Bestimmung.
Die Große Kammer stimmt der von der Regierung nicht bestrittenen Ansicht der I. Kammer zu, es liege eine Entziehung des Eigentums vor. Es muss daher geprüft werden, ob der Eingriff nach Art. 1 1. Prot. EMRK gerechtfertigt ist.
Es ist unbestritten, dass die Enteignung auf einer gesetzlichen Grundlage beruhte und ein legitimes Ziel im öffentlichen Interesse verfolgte. Die Tatsache, dass eine Entschädigung nicht dem vollen Wert des enteigneten Besitzes entspricht, macht eine Entziehung des Eigentums nicht in jedem Fall eo ipso rechtswidrig. Es bleibt daher zu prüfen, ob den Bf. durch die rechtmäßige Entziehung ihres Eigentums eine unverhältnismäßige und exzessive Last auferlegt wurde.
Die Entschädigung wurde mit ITL 82.890,- pro Quadratmeter festgelegt, während der geschätzte Marktwert zum Zeitpunkt der Enteignung ITL 165.755,- pro Quadratmeter betrug. Sie lag damit weit unter dem Marktwert des Besitzes. Zudem wurde von dieser Entschädigung eine Steuer in der Höhe von 20% abgezogen.
Der vorliegende Fall betrifft eine Enteignung, die weder Teil eines Prozesses wirtschaftlicher, sozialer oder politischer Reformen war, noch mit sonstigen besonderen Umständen in Zusammenhang stand. Der GH erkennt daher kein legitimes Ziel im öffentlichen Interesse, das geeignet wäre, eine unter dem Marktwert liegende Entschädigung zu rechtfertigen.
Den Bf. wurde daher eine unverhältnismäßige und exzessive Last auferlegt, die nicht durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt werden kann, das die Behörden im öffentlichen Interesse verfolgt hätten. Daher liegt eine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK vor (einstimmig).
Der GH hält es nicht für notwenig, die behauptete Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK durch die rückwirkende Anwendung des Gesetzes Nr. 359/1992 gesondert zu prüfen (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK wegen der Unfairness des Verfahrens:
Die Bf. bringen vor, durch die Verabschiedung und Anwendung von Art. 5 bis des Gesetzes Nr. 359/1992 habe der Gesetzgeber in das laufende Verfahren eingegriffen, um dessen Ausgang zu beeinflussen. Der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und der Begriff des fairen Verfahrens verbieten jeden Eingriff des Gesetzgebers in die Ausübung der Gerichtsbarkeit, der auf die Beeinflussung des Ausgangs des Rechtsstreits abzielt und nicht auf zwingenden Gründen des öffentlichen Interesses beruht.
Bis zum Inkrafttreten von Art. 5 bis des Gesetzes Nr. 359/1992 war aufgrund des Urteils des italienischen Verfassungsgerichtshofs vom 15.7.1983 das Gesetz Nr. 2359/1865 auf die Rechtssache der Bf. anzuwenden, das ein Recht auf Entschädigung in der Höhe des vollen Marktwerts des enteigneten Besitzes vorsah. Die umstrittene Regelung führte zu einer wesentlichen Reduktion der an die Bf. zu zahlenden Entschädigung.
Indem das Gesetz Nr. 359/1992 die Anwendung neuer Entschädigungsregelungen auf Situationen vorsah, die sich vor seinem Inkrafttreten ereignet hatten und bereits Gegenstand anhängiger Verfahren waren, erzeugte es einen rückwirkenden Effekt und änderte den Ausgang des von den Bf. angestrengten Verfahrens zu deren Nachteil. Durch das Gesetz wurde ein wesentlicher Teil der Entschädigungsansprüche der Eigentümer enteigneter Grundstücke einfach rückwirkend beseitigt.
Nach Ansicht des GH war dieser rückwirkende Effekt nicht durch zwingende allgemeine Interessen gerechtfertigt. Es hat daher eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK stattgefunden (einstimmig). Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK wegen der Dauer des Verfahrens:
Die Bf. bringen vor, das Verfahren über die von ihnen beantragte Entschädigung für die Enteignung habe unverhältnismäßig lange gedauert.
1. Zur Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe:
Die Regierung wendet ein, die Bf. hätten in Bezug auf die Verfahrensdauer nicht alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft, da sie die Entscheidung des Berufungsgerichts Reggio di Calabria nicht angefochten hätten.
Durch die Lex Pinto hat Italien einen Rechtsbehelf eingeführt, der eine Entschädigung für Fälle vorsieht, in denen das Recht auf angemessene Verfahrensdauer verletzt wurde.
Die I. Kammer hat im vorliegenden Fall festgestellt, dass in Fällen, in denen die Bf. sich nur über die Höhe der Entschädigung und die Diskrepanz zwischen diesem Betrag und der Entschädigung, die ihnen nach Art. 41 EMRK zugesprochen worden wäre, beschweren, ein Rechtsmittel an den Kassationsgerichtshof zur Erschöpfung des Instanzenzugs nicht erforderlich ist. Die Kammer begründete diese Entscheidung damit, dass der Kassationsgerichtshof in keinem der vom GH überprüften etwa 100 Urteile festgestellt hätte, dass die vom Berufungsgericht zugesprochene Entschädigung unzureichend oder unangemessen im Lichte der Rechtsprechung des EGMR wäre. Wie der GH feststellt, hat der Kassationsgerichtshof diese Rechtsprechung in einem Urteil vom 26.7.2004 revidiert und dabei festgehalten, dass sich die Berufungsgerichte bei der Bestimmung der Entschädigung für immateriellen Schaden nach der Lex Pinto an den in ähnlichen Fällen durch den GH zugesprochenen Summen zu orientieren hätten.
Ab dem Datum dieses Urteils müssen sich Bf. daher zur Erschöpfung des Instanzenzugs dieses Rechtsmittels bedienen.
Im vorliegenden Fall endete die Frist für eine Beschwerde an den Kassationsgerichtshof jedoch vor dem 26.7.2004, weshalb die Bf. diesen Rechtsbehelf nicht erschöpfen mussten. Die Einrede der Regierung ist daher zurückzuweisen (einstimmig).
2. Zur Opfereigenschaft der Bf.:
Die Regierung wendet ein, die Bf. seien nicht länger Opfer einer Konventionsverletzung iSv. Art. 34 EMRK, da das Berufungsgericht Reggio di Calabria mit dem Zuspruch einer Entschädigung an die Bf. nicht nur die Verletzung ihres Rechts auf angemessene Verfahrensdauer anerkannt, sondern auch den von ihnen erlittenen Schaden wiedergutgemacht habe.
Der GH hat zu prüfen, ob eine Verletzung des durch die Konvention geschützten Rechts zumindest dem Grunde nach anerkannt wurde und ob die Wiedergutmachung als angemessen und ausreichend angesehen werden kann.
Die Feststellung einer Verletzung steht außer Streit, da das Berufungsgericht eine Entschädigung nach der Lex Pinto nur im Falle der Überschreitung der angemessenen Verfahrensdauer zusprechen kann. Die gesetzlich vorgesehene viermonatige Frist für Entscheidungen nach der Lex Pinto genügt hinsichtlich der Raschheit den Anforderungen an einen wirksamen Rechtsbehelf. Das Berufungsgericht Reggio di Calabria hat innerhalb dieser Frist entschieden.
Die Bf. haben keine Verzögerungen bei der Zahlung der zugesprochenen Entschädigung behauptet. Dennoch möchte der GH darauf hinweisen, dass ein auf eine Entschädigung gerichteter Rechtsbehelf, um effektiv zu sein, von ausreichenden budgetären Vorkehrungen begleitet sein muss, so dass Entscheidungen des Berufungsgerichts, mit denen eine Entschädigung zugesprochen wurde, binnen sechs Monaten umgesetzt werden können.
Die Bf. mussten Verfahrenskosten in der Höhe von circa zwei Drittel der zugesprochenen Entschädigung tragen. Der GH stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die Höhe der zu tragenden Verfahrenskosten die Bemühungen von Bf. um eine Entschädigung wesentlich behindern kann.
Bei der Bewertung der Höhe der vom Berufungsgericht zugesprochenen Entschädigung erwägt der GH, was er in der gleichen Situation hinsichtlich der vom innerstaatlichen Gericht berücksichtigten Zeitspanne getan hätte.
Selbst wenn die im innerstaatlichen Recht vorgesehene Berechnungsmethode den vom GH entwickelten Kriterien nicht genau entspricht, sollte eine Analyse seiner Rechtsprechung es den Berufungsgerichten ermöglichen, Summen zuzusprechen, die nicht unverhältnismäßig zu den vom GH in ähnlichen Fällen zugesprochenen Beträgen sind.
Im vorliegenden Fall hatte das Verhalten der Bf. nach Ansicht des Berufungsgerichts keinen wesentlichen Einfluss auf die Dauer des Verfahrens, das es auch nicht als besonders komplex ansah. Die Entscheidung des Berufungsgerichts scheint nur die unangemessene Dauer des Verfahrens, die mit drei Jahren und sechs Monaten bewertet wurde, berücksichtigt zu haben.
Hinsichtlich des zugesprochenen Betrags scheinen € 2.450,- für eine Verzögerung von dreieinhalb Jahren einer Rate von € 700,- pro Jahr - also € 175,- für jeden der Bf. - zu entsprechen. Dieser Betrag entspricht in etwa 10% dessen, was der GH im Allgemeinen in ähnlichen italienischen Fällen zuspricht. Dieser Faktor führt schon für sich alleine zu einem Ergebnis, das angesichts der Rechtsprechung des GH offensichtlich unbillig ist.
Zusammenfassend erachtet der GH die Wiedergutmachung als unzureichend. Daher können die Bf. weiterhin behaupten, iSv. Art. 34 EMRK Opfer einer Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer zu sein. Auch diese Einrede der Regierung ist daher zurückzuweisen (einstimmig).
3. Zur Vereinbarkeit mit Art. 6 Abs. 1 EMRK:
Das Verfahren begann am 25.5.1990 mit der Einbringung einer Klage durch Herrn A. Scordino beim Berufungsgericht Reggio di Calabria und endete am 7.12.1998 mit dem Urteil des Kassationsgerichtshofs. Es dauerte somit über achteinhalb Jahre.
Der GH hat bereits 1999 festgestellt, dass die Häufung von Verletzungen des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer durch Italien eine mit der Konvention unvereinbare Praxis darstellt (Bottazzi/I). Seither wurde ein innerstaatlicher Rechtsbehelf eingeführt, der jedoch nichts an dem Grundproblem ändert, nämlich der Tatsache, dass die Verfahren in Italien weiterhin zu lange dauern. Der GH erkennt nicht, wie die Einführung des Rechtsbehelfs der Lex Pinto dieses Problem gelöst haben soll. Es hat zwar den GH davor bewahrt, diese Verletzungen des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer festzustellen, doch die Aufgabe wurde einfach den Berufungsgerichten übertragen, die schon zuvor selbst überlastet waren. Außerdem muss der GH wegen den Divergenzen zwischen seiner Rechtsprechung und jener des Kassationsgerichtshofs wieder über das Bestehen solche Verletzungen entscheiden.
Der GH betont einmal mehr, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK die Vertragsstaaten dazu verpflichtet, ihr Rechtssystem so zu organisieren, dass die Gerichte in der Lage sind, seinen Anforderungen zu entsprechen. Italiens Haltung in dieser Frage hat sich nicht ausreichend geändert, um die Schlussfolgerung in Frage zu stellen, dass diese Anhäufung von Verletzungen eine Praxis darstellt, die mit der Konvention unvereinbar ist.
Da die Dauer des Verfahrens unangemessen war, liegt eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vor (einstimmig).
Zu Art. 46 EMRK (Verbindlichkeit und Durchführung der Urteile):
1. Entschädigung für Enteignungen:
Die vom GH festgestellte Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK resultiert aus einem weit verbreiteten Problem, das eine große Zahl von Personen betrifft. Die Umstände des vorliegenden Falles weisen auf Versäumnisse in der italienischen Rechtsordnung hin, die in Zukunft Anlass für zahlreiche wohlbegründete Beschwerden an den GH geben könnten.
Es wurden bereits dutzende Beschwerden von Personen an den GH gerichtet, die von Enteignungen betroffen sind, auf die die angefochtenen Kriterien anzuwenden sind. Dies ist nicht nur ein erschwerender Faktor im Hinblick auf die Verantwortlichkeit des belangten Staates für eine vergangene oder gegenwärtige Situation, sondern auch eine Gefahr für die zukünftige Effektivität des Rechtsschutzsystems der Konvention.
Angesichts der festgestellten strukturellen Defizite erachtet der GH generelle Maßnahmen auf nationaler Ebene zur Umsetzung des vorliegenden Urteils als geboten, die die große Zahl der betroffenen Personen berücksichtigen. Diese Maßnahmen müssen geeignet sein, die der vom GH festgestellten Verletzung zugrunde liegenden Defekte zu beseitigen, damit das Rechtsschutzsystem der EMRK nicht durch eine große Zahl gleichartiger Beschwerden gefährdet wird. Diese Maßnahmen müssen einen Mechanismus vorsehen, mit dem in ihren Rechten verletzten Personen eine Entschädigung geleistet werden kann. Der belangte Staat sollte vor allem jedes Hindernis beseitigen, das dem Zuspruch einer in angemessenem Verhältnis zum Wert des entzogenen Eigentums stehenden Entschädigung entgegensteht und durch angemessene Maßnahmen sicherstellen, dass das Recht auf angemessene Entschädigung in Bezug auf andere von Enteignungen betroffene Kläger effektiv und rasch gewährleistet wird.
2. Unverhältnismäßige Verfahrensdauer:
Vor dem GH sind hunderte von Fällen anhängig, die die Höhe der von den Gerichten in Verfahren nach der Lex Pinto zugesprochenen Entschädigungen bzw. deren verspätete Zahlung betreffen. Der GH anerkennt die günstigen Entwicklungen in der italienischen Rechtsprechung, insbesondere das jüngste Urteil des Kassationsgerichtshofs, stellt jedoch mit Bedauern fest, dass inzwischen ein weiteres Defizit entstanden ist: die verspätete Vollstreckung von Entscheidungen.
Der GH lädt den belangten Staat ein, alle Maßnahmen zu ergreifen, die notwendig sind um sicherzustellen, dass die innerstaatlichen Entscheidungen nicht nur mit der Rechtsprechung des GH vereinbar sind, sondern auch binnen sechs Monaten vollstreckt werden.
Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
€ 580.000,- für materiellen Schaden, € 8.400,- für immateriellen Schaden durch die überlange Verfahrensdauer, € 4.000,- für immateriellen Schaden durch die Verletzung des Rechts auf Achtung des Eigentums und des Rechts auf ein faires Verfahren, € 50.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
James u.a./GB v. 21.2.1986, A/98, EuGRZ 1988, 341.
Bottazzi/I v. 28.07.1999.
Der ehemalige König von Griechenland u.a./GR v. 23.11.2000, NL 2000,
228; ÖJZ 2002, 351.
Jahn u.a./D v. 22.1.2004, NL 2004, 14; EuGRZ 2004, 57. Broniowski/PL v. 22.6.2004, NL 2004, 135; EuGRZ 2004, 472; ÖJZ 2006,
130.
Anmerkung: Die I. Kammer war in ihrem Urteil vom 29.7.2004 zu denselben Ergebnissen gelangt.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 29.3.2006, Bsw. 36813/97, entstammt der Zeitschrift „Newsletter Menschenrechte" (NL 2006, 83) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/06_2/Scordino.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.
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