EGMR Bsw42571/98

EGMRBsw42571/9813.9.2005

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache i. A. gegen die Türkei, Urteil vom 13.9.2005, Bsw. 42571/98.

 

Spruch:

Art. 10 EMRK - Beleidigung des Propheten Mohammed in einem Buch. Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (4:3 Stimmen).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Der Bf. ist Eigentümer und Leiter des Berfin-Verlages. Im November 1993 ließ er einen Roman von Abdullah R1za Ergüven mit dem Titel Verbotene Reden veröffentlichen, der Vorstellungen des Autors über theologische und philosophische Fragen widerspiegelte. In der Folge wurde gegen den Bf. Anklage wegen der Veröffentlichung von Beleidigungen gegen Gott, den Propheten und den Koran erhoben. Sie stützte sich auf ein Gutachten eines Theologieprofessors, wonach gewisse Passagen des Buches erniedrigende, herablassende und verächtliche Elemente gegen die moslemische Religion, den Propheten und Gott beinhalten würden.

Mit Urteil vom 28.5.1996 wurde der Bf. im Sinne der Anklage schuldig gesprochen und zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, die später in eine Geldstrafe in der Höhe von TRL 3.291.000, (dem Wert von USD 16, zum damaligen Zeitpunkt entsprechend) umgewandelt wurde. Das Gericht stützte sich dabei auf ein weiteres Gutachten einer Expertenkommission, die folgenden Auszug aus dem Roman beanstandet hatte: Sehen Sie einmal den Kreislauf der Angst, die Ungleichheit und die Inkohärenz, die sich im Koran verfolgen läßt; das erinnert mich an einen Regenwurm. Gott sagt, dass alle seine Worte durch seinen Boten wortgetreu übermittelt werden. Manche dieser Worte wurden in größter Ekstase gesprochen, in den Armen von Aisha. [...] Der Bote Gottes brach sein Fasten durch sexuelle Beziehungen vor dem Essen und vor dem Gebet. Mohammed verbot keineswegs Sexualverkehr mit einer toten Person oder einem lebenden Tier. Ein gegen das Urteil erhobenes Rechtsmittel des Bf. an das Höchstgericht blieb erfolglos.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet, seine strafrechtliche Verurteilung stelle eine Verletzung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung gemäß Art. 10 EMRK dar.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK:

Es ist unbestritten, dass ein Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit des Bf. vorliegt. Dieser war gesetzlich vorgesehen und verfolgte ein legitimes Ziel, nämlich die Aufrechterhaltung der Ordnung und der Moral sowie den Schutz der Rechte anderer. Zu prüfen bleibt, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

Der GH hat bereits in seinem Urteil im Fall Otto-Preminger-Institut/A betont, dass in Fragen des religiösen Glaubens den Staat eine Verpflichtung zur Unterbindung von kritischen Äußerungen trifft, die von Gläubigen als extrem beleidigend und provokativ erlebt werden. In gewissen Fällen kann es auch durchaus angebracht sein, Sanktionen gegen profane Angriffe auf Gegenstände religiöser Verehrung vorzusehen. In Fragen des Schutzes der religiösen Gefühle anderer steht dem Staat ein weiter, jedoch nicht unbeschränkter Ermessensspielraum zu. Letzten Endes ist es Aufgabe des GH festzustellen, ob die getroffenen Einschränkungen einem dringenden sozialen Bedürfnis entsprachen und ob sie verhältnismäßig zum gesetzlich verfolgten Ziel waren.

Im vorliegenden Fall hat der GH eine Interessenabwägung betreffend die Ausübung zweier grundlegender Freiheiten vorzunehmen, nämlich auf der einen Seite das Recht des Bf., seine Ansichten über religiöse Theorien an die Öffentlichkeit weiterzugeben, und auf der anderen Seite das Recht anderer auf Achtung ihrer Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Der GH erinnert daran, dass Pluralismus, Toleranz und Offenheit eine demokratische Gesellschaft kennzeichnen. Jene,

welche von ihrer Religionsfreiheit Gebrauch machen egal ob als

Mitglied einer religiösen Mehrheit oder Minderheit können nicht

darauf vertrauen, in diesem Bereich von jeglicher Kritik ausgenommen zu sein. Sie haben die Zurückweisung ihrer religiösen Ansichten durch andere zu akzeptieren und zu tolerieren, dies gilt auch für die Verbreitung von religiösen Doktrinen, die ihrem eigenen Glaubensverständnis widersprechen. Im vorliegenden Fall handelte es sich jedoch nicht nur um Äußerungen bzw. Ansichten, die als verstörend, schockierend oder provokant aufgefasst werden mussten, sondern um einen beleidigenden Angriff gegen den Propheten Mohammed. Ungeachtet dessen, dass das in der türkischen Gesellschaft tief verwurzelte Säkularitätsprinzip eine gewisse Toleranz vorgibt, was die Kritik an religiösen Dogmen anlangt, konnten gläubige Moslems die von der Expertenkommission zitierten Passagen durchaus als ungerechtfertigten und beleidigenden Angriff auf ihre Glaubensgemeinschaft auffassen.

Unter diesen Umständen ist die strafrechtliche Verurteilung des Bf. als in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme zum Schutz gegen beleidigende Angriffe auf Angelegenheiten anzusehen, die von einem Moslem als heilig eingestuft werden. Sie war letztendlich auch verhältnismäßig, da das Buch von den Behörden nicht beschlagnahmt und über den Bf. lediglich eine unbedeutende Geldstrafe verhängt wurde. Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (4:3 Stimmen; gemeinsames Sondervotum der Richter Costa, Cabral Barreto und Jungwiert).

Vom GH zitierte Judikatur:

Otto-Preminger-Institut/A v. 20.9.1994, A/295 A, NL 1994, 292; ÖJZ

1995, 154.

Murphy/IRL v. 10.7.2003, NL 2003, 203.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 13.9.2005, Bsw. 42571/98, entstammt der Zeitschrift Newsletter Menschenrechte" (NL 2005, 229) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/05_5/I.A..pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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