EGMR Bsw53678/00

EGMRBsw53678/0016.11.2004

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Karhuvaara und Iltalehti gegen Finnland, Urteil vom 16.11.2004, Bsw. 53678/00.

 

Spruch:

Art. 10 EMRK - Parlamentarische Immunität und Freiheit der Meinungsäußerung.

Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich alleine eine ausreichend gerechte Entschädigung für den immateriellen Schaden dar. EUR 22.155,- für den materiellen Schaden des ErstBf.; EUR 14.190,- für den materiellen Schaden der ZweitBf.; EUR 29.000,- für Kosten und Auslagen der beiden Bf. (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Die Tageszeitung Iltalehti berichtete zwischen Oktober und Dezember 1996 in drei Artikeln über ein Strafverfahren gegen einen Anwalt namens A., der zu einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, weil er in einem Lokal randaliert und einen Polizisten angegriffen hatte. In den Berichten wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass der Verurteilte mit einer Abgeordneten des finnischen Parlaments verheiratet war. Das Strafverfahren war Gegenstand ausführlicher Medienberichterstattung und öffentlicher Diskussionen und die Rolle der Ehefrau des Angeklagten - die an dem Vorfall in keiner Weise beteiligt war - war ua. Gegenstand einer im wichtigsten Fernsehsender gezeigten politischen Satiresendung. Die Abgeordnete A., die den Wahrheitsgehalt der Berichte nicht in Abrede stellte, strengte ein Verfahren gegen die Gesellschaft, welche die Tageszeitung Iltalehti herausgibt (die ZweitBf.), deren Chefredakteur (den ErstBf.) und zwei Journalisten an. Sie forderte deren Bestrafung wegen Verletzung ihrer Privatsphäre und Verleumdung und eine Entschädigung für den ihr durch die Berichte entstandenen Schaden. Sie berief sich dabei auch auf § 15 des Parlamentsgesetzes (riksdagsordningen), der Mitglieder des Parlaments in Ausübung ihres Amtes und während der Tagungen des Parlaments unter besonderen Schutz stellt. Demnach gelten Straftaten gegen Abgeordnete als unter besonders erschwerenden Umständen begangen.

Am 27.3.1998 verurteilte das Bezirksgericht Vantaa den Chefredakteur und die beiden Journalisten wegen Verletzung der Privatsphäre unter besonders erschwerenden Umständen iSv. § 15 des Parlamentsgesetzes. Dem Chefredakteur wurde eine Geldstrafe in der Höhe von FIM 47.360,-- (ca. EUR 7.965,--), den beiden Journalisten eine Geldstrafe von je ca. EUR 840,-- auferlegt. Außerdem wurden sie zur Zahlung einer Entschädigung in der Höhe von ca. EUR 29.400,-- an die Abgeordnete A. und zum Ersatz ihrer Verfahrenskosten verurteilt. Die Verleumdungsklage wurde abgewiesen.

Das Hofgericht (hovioikeus) in Helsinki bestätigte dieses Urteil und wies die Berufung der Verurteilten ab. Auch ein Rechtsmittel an den Obersten Gerichtshof (korkein oikeus) blieb ohne Erfolg.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Recht auf freie Meinungsäußerung) durch ihre Verurteilung. Die Berichte hätten eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse betroffen und keine Informationen über das Privatleben von A. enthalten, die nicht ohnehin allgemein bekannt gewesen seien. Außerdem habe sich der Vorfall im Wahlkreis der Abgeordneten ereignet und sei Gegenstand einer breiten öffentlichen Debatte gewesen.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK:

Es steht außer Streit, dass die Verurteilung der Bf. einen Eingriff in ihr Recht auf freie Meinungsäußerung begründet, dieser gesetzlich vorgesehen war und ein legitimes Ziel, nämlich den Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, verfolgte. Die strittige Frage ist, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Die Bf. behaupteten in den Berichten weder eine Beteiligung der Abgeordneten A. an den Vorfällen, die zur Verurteilung ihres Ehemannes führten, noch erhoben sie sonstige Vorwürfe gegen sie. Es wurden auch - abgesehen von der bereits allgemein bekannten Tatsache ihrer Ehe mit A. - keine Details über ihr Privatleben preisgegeben. Unter diesen Umständen, und insbesondere angesichts der Tatsache, dass Frau A. sich als Politikerin von der Presse mehr gefallen lassen muss als ein Durchschnittsbürger, war der Eingriff in ihr Privatleben, sofern überhaupt von einem Eingriff iSv. Art. 8 EMRK gesprochen werden kann, jedenfalls ein beschränkter. Andererseits bezogen sich die Berichte weder auf politische Angelegenheiten noch direkt auf die Person der Abgeordneten A. als Politikerin. Sie betrafen daher keine Angelegenheit von allgemeinem öffentlichen Interesse. Dennoch hat die Öffentlichkeit ein Recht auf Information, das sich unter Umständen sogar auf Aspekte des Privatlebens von Personen des öffentlichen Lebens erstrecken kann, vor allem wenn Politiker betroffen sind. Wie das Bezirksgericht festgestellt hat, ist die Verurteilung des Ehemannes einer Politikerin geeignet, die Entscheidung der Wähler zu beeinflussen. Dies weist nach Ansicht des GH darauf hin, dass zumindest bis zu einem bestimmten Grad über eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse berichtet wurde.

Da über die Vorfälle bereits in anderen Medien berichtet worden war, wurde die Identität der Abgeordneten A. nicht erst durch die Bf. enthüllt. Dennoch akzeptiert der GH die Ansicht der innerstaatlichen Gerichte, wonach die Veröffentlichung in der in ganz Finnland erscheinenden Zeitung Iltalehti geeignet war, die Privatsphäre von Frau A. stärker zu beeinträchtigen als die vorhergehende Veröffentlichung derselben Fakten in einer Lokalzeitung mit geringerer Verbreitung. Diese Interpretation entspricht der innerstaatlichen Rechtsprechung und kann daher nicht als willkürlich angesehen werden. Dennoch reicht sie nicht aus, um die Verurteilung der Bf. zu rechtfertigen.

Ein weiterer zu berücksichtigender Faktor ist § 15 des Parlamentsgesetzes, der Abgeordneten in Ausübung ihres Amtes besonderen Schutz gewährte. Es entspricht einer lange geübten staatlichen Praxis, Mitgliedern des Parlaments Immunität zu gewähren, um die freie Meinungsäußerung der Volksvertreter zu ermöglichen und die Störung der parlamentarischen Arbeit durch parteiische Klagen zu verhindern. Der vorliegende Fall betrifft zwar nicht direkt die parlamentarische Immunität, da er keine Frage der Immunität der Abgeordneten A. gegenüber einer zivilrechtlichen Klage oder einer strafrechtlichen Anklage aufwirft. Ihre Immunität spielt aber insofern eine Rolle, als ihr Status als Mitglied des Parlaments gemäß § 15 des Parlamentsgesetzes zu einer strengeren Bestrafung der Bf. führte. Dieser der Abgeordneten gewährte indirekte Schutz spielt sowohl hinsichtlich der Rechtfertigung als auch der Angemessenheit der Verurteilungen eine Rolle.

Die Straftaten der Bf. standen in keinem Zusammenhang mit der Ausübung des Amtes als Abgeordnete durch Frau A. Es wurde nicht vorgebracht, dass die Bf. Kritik an der Abgeordneten geübt hätten und nicht einmal behauptet, dass die Veröffentlichung ihres Namens und Fotos im Zusammenhang mit dem Bericht über das Strafverfahren gegen ihren Ehemann in irgendeiner Weise die freie Meinungsäußerung der Abgeordneten A. oder die freie Parlamentsdebatte eingeschränkt hätte. Angesichts des Fehlens jeglichen Zusammenhangs mit den Zielen der parlamentarischen Immunität erscheint die Heranziehung des Status von Frau A. als erschwerender Umstand bei der Verurteilung der Bf. problematisch. Durch die automatische und unbedingte Anwendung des § 15 Parlamentsgesetz wurden im Ergebnis die durch Art. 10 EMRK garantierten widerstreitenden Interessen außer Acht gelassen. Schließlich muss der GH die Schwere der über die Bf. verhängten Strafen berücksichtigen. Der ErstBf. wurde zur Zahlung einer Strafe in der Höhe von ca. EUR 7.965,-- verurteilt. Daneben wurde den Verurteilten gemeinsam die Zahlung einer Entschädigung von ca. EUR 29.400,-- auferlegt. So schwerwiegende Bußzahlungen begründen vor dem Hintergrund des nur beschränkten Eingriffs in das Privatleben der Abgeordneten A. ein krasses Missverhältnis zwischen den widerstreitenden Interessen des Schutzes des Privatlebens und der Freiheit der Meinungsäußerung.

Nach Ansicht des GH waren die Gründe, auf die sich die innerstaatlichen Gerichte beriefen, zwar relevant, aber nicht ausreichend um zu zeigen, dass der Eingriff notwendig in einer demokratischen Gesellschaft war. Außerdem waren die verhängten Geldstrafen unverhältnismäßig. Die innerstaatlichen Gerichte haben es demnach verabsäumt, einen fairen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen zu treffen. Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich alleine eine ausreichend gerechte Entschädigung für den immateriellen Schaden dar. EUR 22.155,-- für den materiellen Schaden des ErstBf.; EUR 14.190,-- für den materiellen Schaden der ZweitBf.; EUR 29.000,-- für Kosten und Auslagen der beiden Bf. (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Tammer/EST v. 6.2.2001 (= NL 2001, 29).

A./GB v. 17.12.2002 (= NL 2003, 11 = ÖJZ 2004, 352).

Cordova/I (Nr. 1 & Nr. 2) v. 30.1.2003 (= NL 2003, 22). Von Hannover/D v. 24.6.2004 (= NL 2004, 144 = EuGRZ 2004, 404).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 16.11.2004, Bsw. 53678/00, entstammt der Zeitschrift „ÖIM-Newsletter" (NL 2004, 289) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/04_6/Karhuvaara.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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