EGMR Bsw25337/94

EGMRBsw25337/9417.7.2003

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Craxi (Nr. 2) gegen Italien, Urteil vom 17.7.2003, Bsw. 25337/94.

 

Spruch:

Art. 8 EMRK, Art. 14 EMRK, Art. 18 EMRK - Eingriff in die Privatsphäre durch Abhören von Telefongesprächen.

Verletzung von Art. 8 EMRK bezüglich der Veröffentlichung abgehörter Telefonate durch die Presse (6:1 Stimmen).

Verletzung von Art. 8 EMRK bezüglich der Verlesung der abgehörten Telefonate in der Hauptverhandlung (einstimmig).

Keine gesonderte Behandlung der behauupteten Verletzung von Art. 14 EMRK und Art. 18 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: EUR 6.000,- für immateriellen Schaden (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Der nach Einbringung der Bsw. verstorbene Bf., der seit April 1994 in Hammamet (Tunesien) lebte, wurde am 8.6.1994 wegen Korruption und Verletzung der Vertragsabschlussfreiheit angeklagt. Er erschien nicht zu den Verhandlungen und entzog sich seit Mai 1994 dem Zugriff der italienischen Justiz.

Am 21.7.1995 stellte der öffentliche Ankläger einen Antrag auf Abhörung der Telefongespräche des Bf., dem vom Gericht stattgegeben wurde. Bei der Hauptverhandlung am 29.9.1995 beantragte der öffentliche Ankläger, die abgehörten Telefongespräche für zulässige Beweismittel zu erklären. Daraufhin trug er bei der öffentlichen Verhandlung Ausschnitte aus den abgehörten Gesprächen vor. Nachträglich wurde auch den Parteien Zugang zu den Niederschriften der Telefonate gewährt.

Am 2.10.1995 widersprachen die Anwälte des Bf. der Verwendung der abgehörten Gespräche als Beweismittel, da das Gericht gemäß Art. 268 italienisches Strafgesetzbuch verpflichtet gewesen wäre, vor der Verhandlung eine Sitzung mit den Verteidigern und dem Ankläger einzuberufen, um von den überwachten Telefongesprächen jene auszuwählen, die relevant und zulässig seien.

Ab 30.9.1995 wurden in verschiedenen italienischen Zeitungen Teile der abgehörten Telefongespräche abgedruckt und von den Journalisten zu Lasten des Bf. interpretiert. Bei der Verhandlung am 19.10.1995 versuchte das Gericht in Mailand zu klären, wer die abgehörten Telefongespräche an die Presse weitergegeben hatte, bevor überhaupt ausgesprochen werden konnte, ob die überwachten Telefongespräche als Beweis zulässig seien. Keine der Parteien war imstande, dazu eine Auskunft zu geben, sodass die Frage weiterhin offen blieb. Am 19.10.1995 stellte das Gericht fest, dass die fehlende Einberufung einer Sitzung um das relevante Beweismaterial herauszufiltern, wie von den Anwälten des Bf. bemängelt, kein Verstoß gegen das Gesetz sei. Ein solcher formaler Fehler hindere die Zulässigkeit als Beweismittel nicht.

Das erstinstanzliche Gericht in Mailand verurteilte den Bf. am 16.4.1996 zu einer Haftstrafe von acht Jahren und drei Monaten und zu einer Geldstrafe von EUR 77.468,--. Das Berufungsgericht minderte die Strafe am 24.7.1998 auf vier Jahre und sechs Monate.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens und Recht auf Achtung des Briefverkehrs), und Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:

Der Bf. bringt vor, dass in der öffentlichen Verhandlung vom 29.9.1995 auf die abgehörten Gespräche, die seiner Meinung nach für die Verhandlung nicht relevant waren, eingegangen wurde, ohne der Presse ein Veröffentlichungsverbot aufzuerlegen. Sein persönliches Image in der Öffentlichkeit sei dadurch zu Schaden gekommen. Darüber hinaus behauptet der Bf., das Gericht habe die formalen Vorschriften des Art. 268 italienisches Strafgesetzbuch nicht eingehalten. Die zuständigen Entscheidungsträger hätten, indem sie nicht verhinderten, dass die abgehörten Telefongespräche an die Öffentlichkeit gelangten, die ihnen obliegende positive Verpflichtung nach Art. 8 EMRK verletzt.

Nach st. Rspr. des GH umfasst das in Art. 8 EMRK garantierte Recht auf Achtung des Privatlebens und das Recht auf Achtung des Briefverkehrs auch Telefongespräche. Das Vorlesen eines Teiles der abgehörten Gespräche in der Hauptverhandlung und die Preisgabe an die Presse stellen somit einen Eingriff in das durch Art. 8 EMRK gewährte Recht dar.

Der GH geht zuerst auf die Veröffentlichung von Teilen der abgehörten Telefongespräche durch die Presse ein. Nach den Umständen des Falles hält er es nicht für notwendig festzustellen, ob der Eingriff mit dem Gesetz konform war und ein legitimes Ziel verfolgte, sondern nimmt diese beiden Voraussetzungen als erfüllt an. Berichte und auch Kommentare über Gerichtsverfahren in der Presse tragen jedenfalls zur Öffentlichkeit des Verfahrens bei und sind mit Art. 6 EMRK vereinbar. Es sind aber nicht nur die Medien, die ein Interesse an der Verbreitung von Informationen haben, auch die Öffentlichkeit hat ein Recht, diese zu empfangen, vor allem da der Bf. ehemaliger Premierminister von Italien ist.

In der Öffentlichkeit stehende Personen genießen aber die gleichen Rechte unter Art. 8 EMRK wie jeder andere auch. Der GH hält deshalb das Interesse der Öffentlichkeit am Erhalt von Informationen nur so weit gerechtfertigt, als eine direkte Verbindung mit der gegen den Bf. vorgebrachten Anklage besteht.

Einige der in den Zeitungen veröffentlichten Gespräche sind rein privater Natur und betreffen die Beziehung des Bf. und seiner Frau mit ihrem Anwalt, einem ehemaligen Kollegen und der Frau von Herrn Berlusconi. Der Inhalt dieser Gespräche hat wenig bis gar keinen Bezug zu der gegen den Bf. vorgebrachten Anklage. Es liegt demnach kein dringendes gesellschaftliches Bedürfnis für die Veröffentlichung dieser Gespräche in der Presse vor. Der Eingriff in Art. 8 EMRK war daher nicht verhältnismäßig zu den rechtmäßig verfolgten Zielen und deshalb in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig. Es bleibt noch festzustellen ob der Eingriff dem Staat zugerechnet werden kann. Der GH geht davon aus, dass der Staat, um das Recht des Bf. auf Achtung des Privatlebens und des freien Briefverkehrs zu gewährleisten, verpflichtet gewesen wäre, eine effektive Untersuchung zur Aufklärung, wie die abgehörten Gespräche an die Presse gelangen konnten, durchführen zu lassen. Mangels eines wirksamen Untersuchungsverfahrens liegt eine Verletzung von Art. 8 EMRK vor (6:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Zagrebelsky). Der GH prüft weiters, ob die Verlesung der abgehörten Telefongespräche in der Hauptverhandlung in Übereinstimmung mit dem Gesetz erfolgt ist. Indem das Gericht die in Art. 268 italienisches Strafgesetzbuch vorgesehene Sitzung im Beisein der Verteidiger und des Anklägers, in der über die Zulässigkeit der abgehörten Telefongespräche als Beweismittel zu entscheiden gewesen wäre, nicht vorgenommen hat, versagte es dem Bf. ohne Begründung einen essentiellen, im nationalen Prozessrecht vorgesehenen Schutzmechanismus, der die in Art. 8 EMRK verankerten Rechte gewährleisten sollte. Das Gericht in Mailand ist der in Art. 268 italienisches Strafgesetzbuch vorgesehenen Vorgangsweise nicht gefolgt. Die Verlesung der abgehörten Telefongespräche war daher nicht gesetzeskonform. Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig). Keine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK und Art. 18 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

EUR 6.000,-- für immateriellen Schaden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Lingens/A v. 8.7.1986 , A/103 (= EuGRZ 1986, 424).

Z./FIN v. 25.2.1997 (= NL 1997, 54 = ÖJZ 1998, 152).

Worm/A v. 29.8.1997 (= NL 1997, 221 = ÖJZ 1998, 35).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 17.7.2003, Bsw. 25337/94, entstammt der Zeitschrift „ÖIM-Newsletter" (NL 2003, 211) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/03_4/Craxi.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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