EGMR Bsw31611/96

EGMRBsw31611/9621.3.2002

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Nikula gegen Finnland, Urteil vom 21.3.2002, Bsw. 31611/96.

 

Spruch:

Art. 10 EMRK - Verurteilung einer Rechtsanwältin wegen Verleumdung und Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung.

Verletzung von Art. 10 EMRK (5:2 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: EUR 5.042,- für immateriellen Schaden (5:2 Stimmen), EUR 1.900,- für materiellen Schaden sowie EUR 6.500,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Die Bf. ist Rechtsanwältin. 1992-93 vertrat sie ihren Klienten I.S. als Pflichtverteidigerin in zwei Strafverfahren. Bezüglich des ebenfalls mitverdächtigen Bruders von I.S., S.S., trat Staatsanwalt T. von der Anklage zurück. In der Folge wurde gegen I.S. Anklage wegen Betrugs sowie Missbrauch einer Vertrauensposition erhoben. Zu der Verhandlung war auch S.S. als von T. benannter Zeuge vorgeladen worden. Dagegen erhob die Bf. Einspruch und legte dem Gericht eine bereits vorbereitete Verteidigungsschrift mit dem Titel „Rollenmanipulation und unrechtmäßige Beweisdarlegung" vor, die wie folgt lautete (Auszug):

„... Die Anklagebehörde versucht die Tatsache zu verbergen, dass S.S.

... Vorsitzender des Aufsichtsrats der in Frage stehenden Firma war.

...

Der eklatante Missbrauch hinsichtlich der Darlegung der Beweise müsste das Gericht zu deren Zurückweisung führen. ... Das Vorgehen des Staatsanwalts zeigt, dass er bestrebt ist, im Weg einer Verfahrensstrategie aus einem ehemals Mitangeklagten einen Zeugen zu machen, um so die Anklage zu unterstützen. Um zu verhindern, dass der Angeklagte zu diesen Punkten Beweise vorlegen kann, hat der Staatsanwalt im selben Fall eine gekünstelte Anklage gegen eine Person vorgebracht, die ansonsten als Entlastungszeuge geeignet gewesen wäre. ... Ein solch wohlüberlegter Missbrauch des Ermessens seitens einer öffentlichen Behörde ist höchst ungewöhnlich in einem Rechtsstaat.

Was die Verfahrensstrategie betrifft, welcher sich der Staatsanwalt bedient hat, nämlich zwei Fälle von Rollenmanipulation in ein und demselben Verfahren, ist darzulegen, dass eine mildere Form einer solchen Manipulation vom norwegischen Höchstgericht verurteilt wurde. Dieser Präzedenzfall brachte ein ähnlich unrechtmäßiges Verhalten zum Vorschein wie das des Staatsanwalts im vorliegenden Fall ... Der Staatsanwalt hat in diesem Fall eine Rollenmanipulation vorgenommen, wodurch er seine Amtspflichten verletzt und die Rechtssicherheit gefährdet hat ...".

In der Folge hielt T., der die Vorwürfe der Bf. im Übrigen in Abrede gestellt hatte, seinen Beweisantrag aufrecht. Das Gericht gab dem Antrag statt, worauf S.S. einvernommen wurde. Das von I.S. angerufene Gericht 2. Instanz bestätigte diese Entscheidung.

T. legte hierauf die von der Bf. bei der Verhandlung getätigten Aussagen dem Vertreter der Staatsanwaltschaft beim Gericht 2. Instanz zwecks Erörterung der Einbringung einer allfälligen Anklage wegen Verleumdung vor. Dieser sah den Tatbestand der Verleumdung zwar als erfüllt an, entschied jedoch angesichts der Geringfügigkeit des Delikts, Abstand von einer Anklage zu nehmen.

T. erhob darauf Privatanklage gegen die Bf. Sie wurde am 22.8.1994 wegen fahrlässiger Verleumdung (Anm.: Gemäß Teil 27, § 2 des finn. Strafgesetzes ist eine Person bereits dann wegen Verleumdung zu verurteilen, wenn sie „ohne besseren Wissens" behauptet, dass jemand eine Straftat begangen hat. Es handelt sich bei dieser Form der Verleumdung also um die bloße Äußerung einer Ansicht über das (strafwürdige) Verhalten einer Person im Gegensatz zur Verleumdung „wider besseren Wissens" (der Verleumdung im eigentlichen Sinne)) zu einer Geldstrafe, zur Leistung von Schadenersatz an T. und zum Ersatz aller Kosten verurteilt. Sowohl T. als auch die Bf. wandten sich an das Höchstgericht. Das Urteil wurde am 15.2.1996 von einer Kammer von fünf Richtern mit entscheidender Stimme des Vorsitzenden (Anm.: Zwei Richter hatten sich für die Bestätigung des Urteils als Ganzes ausgesprochen, während zwei weitere die Ansicht vertraten, dass die Bf. freigesprochen und von der Verpflichtung zur Leistung von Schadenersatz entbunden werden sollte) hinsichtlich der Entscheidungsgründe bestätigt, jedoch die Strafe wegen Geringfügigkeit des Delikts aufgehoben. Die Verpflichtung der Bf. zur Leistung von Schadenersatz und zum Ersatz aller Kosten blieb davon unberührt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptet, sie sei in ihrer Eigenschaft als Rechtsanwältin in ihrem Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung gemäß Art. 10 EMRK verletzt worden, weil sie der Verleumdung von Staatsanwalt T. für schuldig erkannt wurde.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK:

Im vorliegenden Fall wurde die Bf. verurteilt, weil sie in ihrer Eigenschaft als Vertreterin der Verteidigung bestimmte Entscheidungen von Staatsanwalt T. kritisiert hatte. Es trifft zwar zu, dass die Bf. Staatsanwalt T. unrechtmäßiges Verhalten vorgeworfen hat, jedoch war diese Kritik gegen die von letzterem gewählte Verfahrensstrategie in zwei Fällen gerichtet, was von der Bf. als „Rollenmanipulation und Verstoß gegen seine Amtspflichten" bezeichnet wurde. Es ist einzuräumen, dass einige der von der Bf. verwendeten Ausdrücke unangemessen waren, jedoch beschränkte sich ihre Kritik ausschließlich auf das Auftreten von T. in seiner Eigenschaft als Vertreter der Staatsanwaltschaft im Verfahren gegen ihren Mandanten. Vom prozessualen Zusammenhang und Verständnis her hatte T. somit durchaus eine beträchtliche Kritik seitens der Bf. in ihrer Eigenschaft als Vertreterin der Verteidigung hinzunehmen. Dazu kommt, dass ihre Ausführungen auf den Verhandlungssaal beschränkt waren - im Gegensatz zur Kritik an einem Richter oder Staatsanwalt, die etwa in die Medien gelangt. Der GH ist ebenso wenig der Ansicht, dass die im Rahmen des Strafverfahrens abgegebene Kritik der Bf. am Verhalten des Staatsanwalts einer persönlichen Beleidigung gleichkam. (Anm: Vgl. die ZE der Kms. in den Fällen W.R./A, Bsw. 26.602/95 v. 30.6.1997 (ein Rechtsanwalt hatte die Meinung eines Richters als „lächerlich" bezeichnet) und Mahler/D, Bsw. 29045/95 v. 14.1.1998 (ein Rechtsanwalt behauptete, dass der Staatsanwalt die Anklageschrift „in einem Zustand völliger Berauschung" abgefasst hätte).) Ungeachtet der Tatsache, dass die Bf. nicht Mitglied der Rechtsanwaltskammer war und daher keine disziplinarrechtlichen Schritte gegen sie ergriffen werden konnten, war sie doch der Aufsicht und den Anweisungen des Gerichts unterworfen. Es bestehen keinerlei Anzeichen dafür, dass Staatsanwalt T. den Vorsitzenden Richter ersucht hatte, in anderer Weise auf die Kritik der Bf. zu reagieren als im Wege der Entscheidung über ihre Verfahrenseinrede. Tatsächlich beschränkte sich das Gericht darauf, den Einwand zurückzuweisen. Der Vorsitzende Richter hätte das Plädoyer der Bf. ebenso unterbrechen und sie zurechtweisen können. Das Gericht wäre auch befugt gewesen, die Bestellung der Bf. als Pflichtverteidigerin zu widerrufen oder sie von der Verhandlung auszuschließen. Es trifft ebenfalls zu, dass die Bf. nach erfolgter Privatanklage durch T. bloß wegen fahrlässiger Verleumdung verurteilt wurde. Von Belang ist ferner, dass die Strafe vom Höchstgericht wegen Geringfügigkeit des Delikts aufgehoben wurde. Wenn auch die über die Bf. verhängte Geldstrafe gestrichen wurde, blieb ihre Verpflichtung zur Leistung von Schadenersatz und zum Ersatz aller Kosten davon unberührt. Aber auch unter solchen Umständen ist die Gefahr der gerichtlichen Nachprüfung von Kritik gegenüber einer Verfahrenspartei, als die der Staatsanwalt ohne Zweifel anzusehen ist, schwerlich mit der Pflicht eines Rechtsanwalts zu vereinbaren, rückhaltlos für die Interessen seiner Mandanten einzutreten. Ein Rechtsanwalt hat daher, vorbehaltlich der Aufsicht durch das Gericht, die Relevanz und Brauchbarkeit von Argumenten zur Stützung der Verteidigung einzuschätzen, ohne von einer möglicherweise abschreckenden Wirkung einer, wenn auch relativ geringfügigen, strafrechtlichen Sanktion oder Verpflichtung zur Leistung von Schadenersatz beeinflusst zu werden.

Eine Einschränkung der Meinungsfreiheit von Rechtsanwälten, wenn auch in Form einer gemäßigten strafrechtlichen Sanktion, kann in einer demokratischen Gesellschaft nur in außergewöhnlichen Fällen akzeptiert werden. Der Entscheidung sowohl des Vertreters der Staatsanwaltschaft, wegen Geringfügigkeit des Delikts Abstand von einer Anklage zu erheben, als auch der Minderheitenmeinung des mit dem Fall befassten Höchstgerichts lässt sich entnehmen, dass die nationalen Behörden von einer einheitlichen Meinung weit entfernt waren, was das Bestehen von ausreichenden Gründen für den in Frage stehenden Eingriff anbelangte. Nach Auffassung des GH sind derartige Gründe nicht vorgebracht worden, sodass die Einschränkung der Meinungsfreiheit der Bf. keinem dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis entsprochen hat. Verletzung von Art. 10 EMRK (5:2 Stimmen, Sondervoten der Richter Caflish und Pastor Ridruejo).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

EUR 5.042,-- für immateriellen Schaden (5:2 Stimmen); EUR 1.900,-- für materiellen Schaden sowie EUR 6.500,-- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Schöpfer/CH v. 20.5.1998 (= NL 1998, 102).

Janowski/PL v. 21.1.1999 (= NL 1999, 14).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 21.3.2002, Bsw. 31611/96, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2002, 60) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/02_2/Nikula.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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