EGMR Bsw26229/95

EGMRBsw26229/9514.3.2002

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Gaweda gegen Polen, Urteil vom 14.3.2002, Bsw. 26229/95.

 

Spruch:

Art. 10 EMRK - Verweigerung der Zulassung einer Zeitschrift und Freiheit der Meinungsäußerung.

Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: PLN 10.000,- für immateriellen Schaden; PLN 6.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Mit Beschluss vom 9.9.1993 wurde der Antrag des Bf. auf Zulassung einer periodisch erscheinenden Zeitschrift mit dem Titel „Die soziale und politische Monatsschrift - eine Europäische Moralinstanz", Erscheinungsort Kety, abgewiesen. Das zuständige Landesgericht begründete seine Entscheidung damit, dass der Name der Zeitschrift sich gemäß den einschlägigen Bestimmungen des Pressegesetzes (Anm.:

Gemäß § 20 leg. cit. ist die Zulassung des Titels einer Zeitschrift durch das Landesgericht Voraussetzung für deren Veröffentlichung) und des Erlasses des Justizministers über die Zulassung von periodischen Druckwerken auf deren Inhalt (Anm.: Der maßgebliche § 5 des Erlasses sah ausdrücklich vor, dass die Zulassung nicht gestattet werden dürfe, wenn sie im Widerspruch sowohl mit geltendem Recht als auch mit der Realität stünde. Diese Bestimmung wurde mit Wirkung vom 1.11.1997 aufgehoben) beziehen müsse. Der vom Bf. vorgeschlagene Name würde den Eindruck erwecken, dass eine europäische Institution in Kety geschaffen worden wäre, was unrichtig sei und auf potentielle Käufer irreführend wirken würde. Dazu komme, dass der vom Bf. beantragte Titel der Zeitschrift unverhältnismäßig im Hinblick auf ihre tatsächliche Bedeutung und Leserschaft sei, da schwerlich vorstellbar sei, dass ein Druckwerk von europäischer Dimension in Kety veröffentlicht würde. Ungeachtet dieser Tatsache hätte sich der Bf. beharrlich geweigert, den Titel zu ändern.

Ein dagegen gerichtetes Rechtsmittel wurde mit der Begründung abgewiesen, dass der Bf. angewiesen worden war, den Titel betreffend den Begriff „Europäische Moralinstanz" abzuändern, dies jedoch abgelehnt hatte. Ein Ersuchen an den Justizminister auf Anfechtung der Entscheidung im außerordentlichen Rechtsmittelweg wurde von diesem mit dem Hinweis auf die Rechtmäßigkeit der gerichtlichen Entscheidung abgelehnt.

In der Folge brachte der Bf. mehrere Anträge auf Zulassung anderslautender Druckwerke ein, von denen vier bewilligt wurden. Am 17.2.1994 wurde ein neuer Antrag des Bf. auf Zulassung einer periodisch erscheinenden Zeitschrift mit dem Titel „Deutschland - tausendjähriger Feind Polens" abgewiesen. Das Gericht führte aus, dass der Bf. sich geweigert hatte, den Titel der Zeitschrift hinsichtlich seines negativen Charakters abzuändern. Es vertrat die Ansicht, dass die Zulassung einer Zeitschrift mit einem derartigen Titel sich schädlich auf die deutsch-polnische Aussöhnung und ebenso nachteilig auf die gut nachbarschaftlichen Beziehungen auswirken würde.

Dagegen erhob der Bf. ein Rechtsmittel und behauptete, die Entscheidung des Gerichts komme einer Zensur gleich. Das Gericht 2. Instanz bestätigte die Entscheidung des Erstgerichts. Es hielt fest, dass der vorgeschlagene Titel impliziere, dass die Zeitschrift sich ausschließlich auf die negativen Aspekte der deutsch-polnischen Beziehungen konzentriere. Der Name stehe insofern im Widerspruch mit der Realität, als er ein unausgewogenes Bild der tatsächlichen Gegebenheiten widerspiegle. Die Verweigerung der Zulassung durch das Erstgericht sei somit gerechtfertigt gewesen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet, die Verweigerung der Zulassung der zwei Zeitschriftentitel habe Art. 10 EMRK (Freiheit der Meinungsäußerung) verletzt.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK:

Nach poln. Recht ist die Verweigerung der Zulassung des Titels einer Zeitschrift gleichbedeutend mit der Weigerung, sie veröffentlichen zu lassen. Es liegt daher ein Eingriff in die Rechte des Bf. gemäß Art. 10 EMRK vor. Zu prüfen ist vorerst, ob die gerügte Maßnahme gesetzlich vorgesehen war. Entscheidendes Prüfungskriterium ist die Vorhersehbarkeit einer Maßnahme: Gesetzliche Bestimmungen müssen mit ausreichender Bestimmtheit formuliert sein, sodass der jeweilige Normadressat sein Verhalten danach ausrichten kann. Art. 10 EMRK verbietet nicht ausdrücklich die Auferlegung von vorherigen Beschränkungen für die Veröffentlichung von Druckwerken. In einem solchen Fall müssen Rechtsbestimmungen jedoch unmissverständliche Hinweise auf die Voraussetzungen, unter denen solche Beschränkungen erlaubt sind, enthalten. Dies gilt insb. dann, wenn sie die vollständige Verhinderung der Veröffentlichung einer Zeitschrift zur Folge haben.

Im konkreten Fall haben die Gerichte aus dem im § 5 des Erlasses des Justizministers über die Zulassung von periodischen Druckwerken enthaltenen Begriff „im Widerspruch mit der Realität" eine Befugnis zur Versagung von Zulassungen von Zeitschriften abgeleitet, wenn ein Zeitschriftentitel nicht dem Wahrheitstest entspricht, also damit ein durchwegs falsches Bild vermittelt würde. Die in der zitierten Bestimmung des Erlasses verwendeten Ausdrücke sind zweideutig und lassen jene Klarheit vermissen, die rechtliche Bestimmungen auszeichnet. Daraus kann bestenfalls entnommen werden, dass die Zulassung verweigert werden kann, wenn der diesbezügliche Antrag den in § 20 Pressegesetz näher bezeichneten technischen Einzelheiten nicht entspricht. Vom Titel einer Zeitschrift zu verlangen, dass er wahrheitsgemäße Informationen enthält, ist aus Sicht der Pressefreiheit zu verurteilen: Der Titel einer Zeitschrift ist keine Äußerung als solche, da seine Funktion im Wesentlichen der Identifizierung einer beliebigen Zeitschrift für ihre aktuellen und potentiellen Leser auf dem Pressemarkt dient.

Die Interpretation, wie sie seitens der Gerichte vorgenommen wurde, führte neue Kriterien ein, die auf der Grundlage des § 20 Pressegesetz nicht vorhersehbar waren und zwingend einer eigenen Rechtsgrundlage bedurft hätten. Die in Frage stehende Gesetzesbestimmung war zu wenig konkretisiert, um dem Bf. die Ausrichtung seines Verhaltens zu ermöglichen. Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

PLN 10.000,-- für immateriellen Schaden; PLN 6.000,-- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Handyside/GB v. 4.12.1976, A/24 (= EuGRZ 1977, 38).

Lingens/A v. 8.7.1986, A/103 (= EuGRZ 1986, 424).

Oberschlick (Nr. 1)/A v. 23.5.1991, A/204 (EuGRZ 1991, 216).

Observer & Guardian/GB v. 26.11.1991, A/216 (= NL 1992/1, 16 = EuGRZ

1995, 16 = ÖJZ 1992, 378).

Thorgeir Thorgeirson/IS v. 25.6.1992, A/239 (= NL 1992/4, 13 = ÖJZ

1992, 810); Jersild/DK v. 23.9.1994, A/298 (= NL 1994, 294 = ÖJZ

1995, 227); Prager & Oberschlick/A v. 26.4.1995, A/313 (= NL 1995, 121).

De Haes und Gijsels/B v. 24.2.1997 (= NL 1997, 50 = ÖJZ 1997, 912). Bladet Tromso & Stensaas/N v. 20.5.1999 (= NL 1999, 96). Feldek/SK v. 12.7.2001 (= NL 2001, 149).

Anm.: Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 4.12.1998 eine Verletzung von

Art. 10 EMRK festgestellt (25:1 Stimmen).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 14.3.2002, Bsw. 26229/95, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2002, 53) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/02_2/Gaweda.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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