EGMR Bsw25405/94

EGMRBsw25405/9420.5.1998

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer, Beschwerdesache Schöpfer gegen die Schweiz, Urteil vom 20.5.1998, Bsw. 25405/94.

 

Spruch:

Art. 10 EMRK - Standespflichten und Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit.

Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (7:2 Stimmen).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Der Bf. war Rechtsanwalt und Mitglied im Großrat des Kantons Luzern. 1992 vertrat er einen Mandanten, der sich in Untersuchungshaft befand. Im November 1992 teilte ihm die Gattin des Mandanten mit, ihr sei von zwei Amtsschreibern des Amtsstatthalteramtes Hochdorf "nahegelegt" worden, einen anderen Anwalt mit der Verteidigung ihres Gatten zu beauftragen. Unmittelbar darauf hielt der Bf. eine Pressekonferenz ab, in der er ua. ausführte, dass im Amtsstatthalteramt Hochdorf "sowohl die Luzerner Gesetze als auch die Menschenrechte in höchstem Grade verletzt [werden], und zwar schon seit Jahren"; deshalb bleibe ihm "nur noch der Weg über die Presse". Mehrere Regionalzeitungen berichteten von dieser Pressekonferenz. In der Folge leitete die Aufsichtsbehörde über die Rechtsanwälte ein Disziplinarverfahren gegen den Bf. ein und verurteilte ihn wegen Verletzung von Berufs- und Standespflichten zu einer Geldstrafe von 500,-- CHF. Begründend wurde ausgeführt, der Bf. habe es unterlassen, sich mit seinen Behauptungen zuerst an die Staatsanwaltschaft oder das Obergericht zu wenden. Statt dessen habe er sich an die Presse gewandt und betreibe somit "versteckte Reklame und Effekthascherei"; Äußerungen von Anwälten gegenüber der Presse hätten von "reellem öffentlichen Interesse" sowie "objektiv in der Darstellung und sachlich im Ton" zu sein. Gegen diese Entscheidung erhob der Bf. staatsrechtliche Bsw. beim Bundesgericht, diese wurde jedoch abgewiesen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung).

Die gegen den Bf. verhängte Geldstrafe stellte einen Eingriff in das Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung dar. Dieser war gesetzlich vorgeschrieben und verfolgte ein legitimes Ziel iSv. Art. 10 (2) EMRK, nämlich die Aufrechterhaltung von Autorität und Unparteilichkeit der Rechtsprechung. Zu prüfen ist, ob der gerügte Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Rechtsanwälte nehmen eine zentrale Stellung in der Rechtspflege als Mittler zwischen Öffentlichkeit und Gerichten ein. Eine solche Stellung begründet einerseits die üblichen Beschränkungen bezüglich des Verhaltens der Mitglieder des Anwaltsstandes und andererseits die Aufsichts- und Überwachungsbefugnisse der Standesvertretung. In einem Rechtsstaat müssen die Gerichte das Vertrauen der Öffentlichkeit genießen; man wird von Rechtsanwälten erwarten können, dass sie zur Festigung dieses Vertrauens beitragen. Art. 10 EMRK schützt nicht nur den Inhalt der zum Ausdruck gebrachten Ideen und Nachrichten, sondern auch die Form, in der sie mitgeteilt werden. Dies verlangt ein Abwägen zwischen den betroffenen Interessen (Erfordernisse einer ordnungsgemäßen Rechtspflege und der Würde des Standes einerseits und Recht der Öffentlichkeit, Nachrichten über die Rechtspflege zu empfangen andererseits). Eine Entscheidung darüber kann von den Standesvertretungen und den innerstaatlichen Gerichten besser als von einem internationalen Gericht getroffen werden. Der Bf. hatte bei seiner Pressekonferenz ua. behauptet, sein letzter Ausweg sei, sich an die Medien zu wenden. Er hatte jedoch die Möglichkeit, mit seinen Behauptungen das Obergericht anzurufen, was er erst eine Woche nach der Pressekonferenz tat. Eine Bsw. an die Staatsanwaltschaft wurde vom Bf. nicht erhoben. Unter Berücksichtigung der geringen Geldstrafe wird festgestellt, daß die maßgeblichen Behörden den ihnen eingeräumten Ermessensspielraum nicht überschritten haben. Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (7:2 Stimmen, Sondervoten der Richter De Meyer und Jambrek).

Anm.: Vgl. insb. die vom GH zitierten Fälle Casado Coca/E, Urteil v.

24.2.1994, A/285-A (= NL 94/2/17 = ÖJZ 1994, 636) und De Haes &

Gijsels/B, Urteil v. 24.2.1997 (= NL 97/2/12 = ÖJZ 1997, 912).

Anm.: Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 9.4.1997 keine Verletzung von Art. 10 EMRK festgestellt (9:6 Stimmen).

Hinweis: Zum Thema Standesvertretungen juristischer Berufe in der Schweiz siehe das Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung am schweizerischen Bundesgericht Lausanne vom 25.4.1997, wonach die Notariatskommission in Graubünden als Aufsichts- und Disziplinarbehörde kein unabhängiges Gericht iSv. Art. 6 (1) EMRK ist, in: EuGRZ 1998, 223.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 20.5.1998, Bsw. 25405/94, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1998, 102) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/98_3/Schoepfer.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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