EGMR Bsw19983/92

EGMRBsw19983/9224.2.1997

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer, Beschwerdesache De Haes und Gijsels gegen Belgien, Urteil vom 24.2.1997, Bsw. 19983/92.

 

Spruch:

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 10 EMRK - Ehrenbeleidigung und das Recht auf freie Meinungsäußerung.

Verletzung von Art. 10 EMRK (7:2 Stimmen).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Die Bf. sind Herausgeber und Journalisten einer belg. Wochenzeitschrift. Zwischen Juni und November 1986 berichteten sie in insg. 5 Zeitungsartikel über einen Scheidungsfall, in dem das Gericht dem Vater X., einem belg. Notar, das Sorgerecht für dessen Kinder zugesprochen hatte. Zwei Jahre zuvor hatten ihn seine Ehefrau und deren Eltern wegen Inzest und Vernachlässigung der Pflege und Erziehung der Kinder angezeigt.

In den besagten Zeitungsartikeln wurden die am Verfahren beteiligten Richter heftig kritisiert. Vorgeworfen wurde ihnen Parteilichkeit und Nachsicht X gegenüber, va. iZm. dessen politisch rechtsextremer Gesinnung, dabei wurde insb. auf die politische Vergangenheit des Vaters eines der Richter hingewiesen.

Die Richter erhoben infolgedessen eine Schadenersatzklage: Die Äußerungen wären diffamierend und beleidigend, sie verlangten daher einen symbolischen Betrag von 1 Franc und die Veröffentlichung des Urteils in der Wochenzeitschrift wie auch in sechs Tageszeitungen. Von den Bf. wurden im Verfahren zahlreiche Dokumente vorgelegt, die ihre Behauptungen belegen sollten. Sie wurden verurteilt, dagegen erhobene Rechtsmittel blieben erfolglos.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten, ihre Verurteilung sei eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung):

Unbestritten ist, dass die Verurteilung der Bf. einen Eingriff in das Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung darstellte, der gesetzlich vorgeschrieben war und ein legitimes Ziel (Schutz des guten Rufes anderer) verfolgte. Zu prüfen ist, ob er in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

Die Presse hat eine wichtige Funktion in einer demokratischen Gesellschaft. Es ist ihre Aufgabe, Informationen und Gedanken über Themen von allgemeinem Interesse zu vermitteln. Dies schließt zweifellos Fragen des Funktionierens des Gerichtssystems ein. Das öffentliche Vertrauen in die Justiz darf nicht erschüttert werden, demgemäss muss sie vor destruktiven unbegründeten Angriffen geschützt werden, auch im Hinblick darauf, dass Richter wegen ihrer Verschwiegenheitspflicht diesen Angriffen nicht entgegentreten können.

Den nationalen Behörden ist bei der Beurteilung, ob und in welchem Ausmaß ein Eingriff in das Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung zu erfolgen hat, ein Ermessensspielraum eingeräumt, dessen Einhaltung die Konventionsorgane überprüfen (vgl. Urteil Prager & Oberschlick/A, = NL 95/3/8).

Festzuhalten ist, dass die Verurteilung sich auf den Inhalt jener Zeitungsartikel bezog, die von den Bf. zum Scheidungsfall X. im Zeitraum 26. Juni bis 27. November 1986 veröffentlicht worden waren. In den Artikeln wurde detailliert über das Schicksal der Kinder wie auch über die Sachverständigengutachten, die sich unter dem Gesichtspunkt des Kindeswohls gegen den Zuspruch des Sorgerechts an den Vater X. aussprachen, berichtet. Den Bf. kann nicht vorgeworfen werden, sie hätten gegen ihre journalistische Sorgfaltspflichten verstoßen. Es ist Aufgabe der Presse, Informationen und Ansichten von öffentlichem Interesse zu verbreiten und es ist das Recht der Öffentlichkeit, solche Informationen zu empfangen (vgl. ua. die Urteile Jersild/DK, = NL 94/5/13; Goodwin/UK = NL 96/3/8). Dies gilt insb. für den vorliegenden Fall, der einerseits das Kindeswohl, andererseits das Justizwesen zum Thema hat.

Die Richter rügten ua. die persönlichen Angriffe der Bf. in den genannten Zeitungsartikel, insb. die gegen sie erhobenen Vorwürfe der Parteilichkeit. Der Vorwurf rechtsextremen Gesinnung, va. unter Anspielung auf die Vergangenheit des Vaters eines der Richter, verletze sie in ihrem Recht auf Achtung des Privatlebens. Die Kommentare der Bf. in den Zeitungsartikeln waren zweifelsfrei sehr kritisch, dennoch erscheinen sie verhältnismäßig iZm. dem Aufsehen und dem Ausmaß der Empörung, die das Urteil X. hervorgerufen hat. Was den eher polemischen und aggressiven Schreibstil der Bf. betrifft, so schützt Art 10 EMRK nicht nur den Inhalt von Gedanken und Informationen sondern auch die Art, wie sie mitgeteilt werden. Die Verurteilung der Bf. wegen ihrer Äußerungen in den Zeitungsartikeln ist eine Verletzung von Art.10 EMRK (7:2 Stimmen; Sondervoten der Richter Morenilla und Matscher).

Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (Recht auf eine faires Verfahren), da die Gerichte ihre Beweisanträge abgewiesen hatten. Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (hier: Waffengleichheit; einstimmig)

Anm: Vgl. insb.- die - vom GH zitierten - ähnlich gelagerten Fälle Lingens/A, Urteil v. 23.9.1994, A/103, Jersild/DK, Urteil v.

26.4.1995, A/298 (= NL 94/5/13), Prager & Oberschlick/A, Urteil v.

27.3.1996, A/113 (= NL 95/3/8, Goodwin/GB, Urteil v. 23.10.1996 (= NL

96/3/8).

Anm: Die Kms. stellte in ihrem Ber. v. 29.11 95 eine Verletzung v. Art. 10 EMRK (6:3 Stimmen) und Art. 6 (1) EMRK (einstimmig) fest.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 24.2.1997, Bsw. 19983/92, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1997, 50) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/97_2/Haes.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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