VwGH Ra 2019/22/0088

VwGHRa 2019/22/00887.6.2023

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über die Revision des Landeshauptmanns von Wien gegen das am 8. Februar 2019 mündlich verkündete und mit 3. März 2019 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien, VGW‑151/082/11944/2018‑12, betreffend Aufenthaltstitel (mitbeteiligte Partei: Z A, zuletzt in W), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §37
EURallg
MRK Art8
NAG 2005 §47 Abs2
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §27
VwRallg
12010E020 AEUV Art20
62011CJ0256 Dereci VORAB
62015CJ0133 Chavez-Vilchez VORAB
62016CC0082 K.A. Schlussantrag

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2023:RA2019220088.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

1. Der Mitbeteiligte, ein im Jahr 1994 geborener serbischer Staatsangehöriger, stellte am 18. Dezember 2017 im Wege der Österreichischen Botschaft Belgrad einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 NAG. Er berief sich dabei auf seine am 21. März 2017 geschlossene Ehe mit der österreichischen Staatsbürgerin S A (im Folgenden: Ehefrau).

2. Mit Bescheid vom 26. Juni 2018 wies der Landeshauptmann von Wien (im Folgenden: Behörde) den Antrag des Mitbeteiligten wegen Fehlens einer ortsüblichen Unterkunft und hinreichender Unterhaltsmittel (§ 11 Abs. 2 Z 2 bzw. Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAG) ab. Auch eine Interessenabwägung gemäß § 11 Abs. 3 NAG sowie unionsrechtliche Erwägungen (Hinweis auf näher erörterte Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union [EuGH], wonach ein Aufenthaltsrecht nicht versagt werden dürfe, wenn einem Unionsbürger der tatsächliche Genuss des Kernbestands seiner Rechte verwehrt würde, indem er de facto gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, was hier allerdings nicht der Fall sei) führten nicht zur Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels.

3.1. Der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten gab das Verwaltungsgericht Wien (im Folgenden: Verwaltungsgericht) mit dem am 8. Februar 2019 mündlich verkündeten und mit 3. März 2019 schriftlich ausgefertigten angefochtenen Erkenntnis Folge und erteilte dem Mitbeteiligten den beantragten Aufenthaltstitel für die Dauer von zwölf Monaten.

3.2. Das Verwaltungsgericht stellte ‑ über den oben (Pkt. 1.) wiedergegebenen Sachverhalt hinaus ‑ fest, der Mitbeteiligte sei unbescholten und weise Deutschkenntnisse auf A1‑Niveau auf. Er habe den zulässigen visumfreien Aufenthalt im Inland bisher beachtet. Bei seinen Aufenthalten in Wien wohne er im gemeinsamen Haushalt mit seiner Ehefrau in deren Wohnung. Die Ehefrau zahle auch die Wohnungsmiete von ca. € 450,‑‑ monatlich.

Die Ehefrau habe einen im April 2012 geborenen Sohn aus erster Ehe (im Folgenden: Stiefsohn), der österreichischer Staatsbürger sei und unter ihrer alleinigen Obsorge stehe. Der Mitbeteiligte habe den Stiefsohn nicht an Kindes statt angenommen. Der Stiefsohn habe keinen Kontakt zu seinem leiblichen Vater, der ihm auch keinen Unterhalt leiste; er beziehe Unterhaltsvorschüsse.

Im Juli 2018 sei die gemeinsame Tochter des Mitbeteiligten und der Ehefrau (im Folgenden: Tochter) geboren worden, die ebenso österreichische Staatsbürgerin sei; beide Elternteile seien ‑ so das Verwaltungsgericht offenbar vor dem Hintergrund des § 177 Abs. 1 ABGB ‑ für sie obsorgeberechtigt.

Die Ehefrau beziehe derzeit Kinderbetreuungsgeld und eine Beihilfe (von zusammen € 29,84 täglich), zusätzlich habe sie bis Jänner 2019 Zahlungen aus der bedarfsorientierten Mindestsicherung erhalten. Der Mitbeteiligte habe keinen Arbeitsplatz in Aussicht, sei aber um die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bemüht, um zum Haushaltseinkommen beizutragen.

3.3. Rechtlich folgerte das Verwaltungsgericht, der Mitbeteiligte sei zwar Familienangehöriger seiner zusammenführenden Ehefrau im Sinn des § 47 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 9 NAG. Er erfülle aber nicht sämtliche allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen, weil insbesondere hinreichende Unterhaltsmittel gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAG und allenfalls auch eine ortsübliche Unterkunft gemäß § 11 Abs. 2 Z 2 NAG fehlten.

Dennoch sei der beantragte Aufenthaltstitel zu erteilen. Nach der Rechtsprechung des EuGH sei zu prüfen, ob die Verwehrung des Aufenthaltsrechts für einen drittstaatsangehörigen Elternteil, dessen Kind Unionsbürger sei, dem Kind die Möglichkeit nehme, den Kernbestand der mit seinem Status verbundenen Rechte in Anspruch zu nehmen. Dabei komme dem Sorgerecht (der rechtlichen, finanziellen oder affektiven Sorge) des drittstaatsangehörigen Elternteils Bedeutung zu. „Dieses Abhängigkeitsverhältnis“ zwischen dem minderjährigen Unionsbürger und dem Drittstaatsangehörigen, dem ein Aufenthaltsrecht verweigert werde, könne nämlich die praktische Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft beeinträchtigen, zumal die Abhängigkeit dazu führen würde, dass sich der Unionsbürger durch die Verweigerung de facto gezwungen sähe, nicht nur den Mitgliedstaat, sondern das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen. Dabei sei maßgeblich, welcher Elternteil die tatsächliche Sorge für das Kind wahrnehme und ob ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Kind und dem drittstaatsangehörigen Elternteil bestehe. Dass der andere Elternteil, der Unionsbürger sei, wirklich in der Lage und bereit sei, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind allein wahrzunehmen, bilde zwar einen bedeutsamen Gesichtspunkt. Dieser Umstand allein genüge aber nicht für die Feststellung, dass kein Abhängigkeitsverhältnis in dem Sinn vorliege, dass sich das Kind bei Verwehrung eines Aufenthaltsrechts für den Drittstaatsangehörigen zum Verlassen des Gebiets der Union gezwungen sähe. Vielmehr seien alle Umstände des Einzelfalls im Interesse des Kindeswohls zu berücksichtigen, wie vor allem das Alter des Kindes, seine körperliche und emotionale Entwicklung, der Grad seiner affektiven Bindung zu beiden Elternteilen und das mit der Trennung verbundene Risiko für sein inneres Gleichgewicht.

Vorliegend würde auf Basis des festgestellten Sachverhalts die Trennung des Mitbeteiligten von der Ehefrau und der gemeinsamen neugeborenen Tochter eine wesentliche Beeinträchtigung im typischen Lebensumfeld des Kindes mit beiden Elternteilen bei der Betreuung und Erziehung darstellen. Aber auch mit dem Stiefsohn habe der Mitbeteiligte mittlerweile eine Beziehung aufgebaut und für ihn „die Vaterrolle übernommen“. Finanzielle Aspekte seien derzeit bei der Erfüllung der Sorgepflichten des Mitbeteiligten zwar nur im geringen Ausmaß erkennbar, was aber die „bestehende Obsorge“ für die Tochter, die „weiteren mitzutragenden Sorgepflichten“ der Ehefrau und „Aspekte der affektiven Bindung“ sowie die „möglichen nachteiligen Folgen für das Kindeswohl“ im Fall der Trennung nicht „aufzuwiegen“ vermöge. Dieser Einschätzung stehe auch das geringe Lebensalter der Tochter nicht entgegen, zumal dem Entstehen eines geordneten familiären Gefüges für die Kindesentwicklung besondere Bedeutung zukomme. Selbst wenn daher fallbezogen die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nicht vollständig erfüllt seien, könnte die Verweigerung des Aufenthaltstitels doch dazu führen, dass die Tochter und auch der im gemeinsamen Haushalt lebende Stiefsohn de facto gezwungen wären, Österreich und auch das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen. Im Hinblick darauf seien die Bestimmungen des NAG im Sinn der Judikatur des EuGH zu Art. 20 AEUV unionsrechtskonform dahin auszulegen, dass dem Mitbeteiligten der beantragte Aufenthaltstitel zu erteilen sei.

3.4. Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

4.1. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die Amtsrevision der Behörde, in der ‑ ausgehend von der bereits im angefochtenen Erkenntnis aufgezeigten Judikatur des EuGH ‑ geltend gemacht wird, das Verwaltungsgericht habe Ermittlungen zu der Frage, welcher Elternteil die tatsächliche Sorge für die Tochter wahrnehme und ob ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis zum Mitbeteiligten bestehe, unterlassen. Dass die Trennung vom Mitbeteiligten eine wesentliche Beeinträchtigung im typischen Lebensumfeld der Tochter mit zwei Elternteilen bei der Betreuung und Erziehung darstellen würde, bedeute noch nicht, dass die Ehefrau nicht in der Lage und bereit wäre, allein für das Kind zu sorgen. Immerhin lebe die Ehefrau von Kindheit an in Österreich, sei bis zur Schwangerschaft berufstätig gewesen, beziehe derzeit Kinderbetreuungsgeld und Familienbeihilfe und komme finanziell allein für die Kinder auf. Es bestehe kein Indiz, dass die Verweigerung des Aufenthaltstitels für den Mitbeteiligten das Fortkommen oder den Unterhalt der Tochter in Hinkunft irgendwie beeinträchtigen werde. Eine wesentliche Beeinträchtigung im typischen Lebensumfeld des Kindes sei auch deshalb nicht nachvollziehbar, weil der Mitbeteiligte bislang über keinen Aufenthaltstitel für Österreich verfügt und sich jeweils nur vorübergehend hier aufgehalten habe. Auch bei Berücksichtigung aller Umstände im Interesse des Kindeswohls könne kein Abhängigkeitsverhältnis festgestellt werden, aufgrund dessen sich die Tochter sowie auch die Ehefrau und der Stiefsohn gezwungen sehen könnten, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen.

4.2. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

5. Der Verwaltungsgerichtshof hat - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - erwogen:

Die Revision ist zulässig und im Sinn der nachfolgenden Erwägungen auch begründet.

6.1. Der EuGH hat bereits wiederholt entschieden, dass Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen einschließlich Entscheidungen, mit denen drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers der Aufenthalt verweigert wird, entgegensteht, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen ihr Status verleiht, verwehrt wird (vgl. erstmals EuGH 8.3.2011, Zambrano, C‑34/09, Rn. 42 bis 45; vgl. etwa auch VwGH 25.7.2019, Ra 2019/22/0017, Rn. 8, mwN).

So gibt es ganz besondere Sachverhalte, in denen - obwohl das für das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen geltende Sekundärrecht nicht anwendbar ist und der betreffende Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit nicht ausgeübt hat - einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, ein Aufenthaltsrecht eingeräumt werden muss, da sonst die Unionsbürgerschaft ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde, wenn sich der Unionsbürger infolge der Verweigerung des Aufenthaltsrechts de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm dieser Status verleiht, verwehrt würde (vgl. EuGH 15.11.2011, Dereci u.a., C‑256/11, Rn. 65 bis 67; EuGH 10.5.2017, Chavez‑Vilchez u.a., C‑133/15, Rn. 63; vgl. etwa auch VwGH 25.7.2019, Ra 2019/22/0017, Rn. 8). Indessen begründet der (bloße) Wunsch nach einem Aufenthalt in Österreich aus wirtschaftlichen Gründen oder zur Aufrechterhaltung einer Familiengemeinschaft noch keine derartige Ausnahmesituation (siehe idS unter Bezugnahme auf Rn. 68 im schon erwähnten EuGH‑Urteil „Dereci u.a.VwGH 28.3.2012, 2009/22/0243).

6.2. Die Weigerung, einem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, kann die praktische Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft aber nur dann beeinträchtigen, wenn zwischen ihm und dem Unionsbürger, der sein Familienangehöriger ist, ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das dazu führen würde, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, den betreffenden Drittstaatsangehörigen zu begleiten und das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen (vgl. EuGH 8.5.2018, K. A. u.a., C‑82/16, Rn. 52, und sich darauf beziehend neuerlich VwGH 25.7.2019, Ra 2019/22/0017, Rn. 8).

Zur Beurteilung dieses Risikos ist - wenn es (wie hier) um das Aufenthaltsrecht eines drittstaatsangehörigen Elternteils und dessen Verhältnis zu einem minderjährigen Kind, das Unionsbürger ist, geht - zu ermitteln, welcher Elternteil die tatsächliche Sorge für das Kind wahrnimmt und ob ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Kind und dem Elternteil, der Drittstaatsangehöriger ist, besteht. Für die Beurteilung bildet der Umstand, dass der andere Elternteil, der Unionsbürger ist, wirklich in der Lage und bereit ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind allein wahrzunehmen, einen relevanten Gesichtspunkt. Dieser Umstand allein genügt aber nicht für die Feststellung, dass zwischen dem drittstaatsangehörigen Elternteil und dem Kind kein Abhängigkeitsverhältnis in der Weise besteht, dass sich das Kind zum Verlassen des Unionsgebiets gezwungen sähe, wenn dem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht verweigert würde. Einer solchen Feststellung muss vielmehr im Interesse des Kindeswohls die Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zugrunde liegen, so insbesondere des Alters des Kindes, seiner körperlichen und emotionalen Entwicklung, des Grades seiner affektiven Bindung an den jeweiligen Elternteil und des mit der Trennung vom drittstaatsangehörigen Elternteil für sein inneres Gleichgewicht verbundenen Risikos (vgl. etwa EuGH 10.5.2017, ChavezVilchez u.a., C‑133/15, Rn. 70 f; neuerlich EuGH 8.5.2018, K. A. u.a., C‑82/16, Rn. 70 ff; vgl. etwa auch VwGH 17.6.2019, Ra 2018/22/0195, Rn. 10).

6.3. Die im Sinn des Vorgesagten für die Anerkennung eines Aufenthaltsrechts auf Grundlage des Art. 20 AEUV erforderlichen Informationen sind grundsätzlich vom Drittstaatsangehörigen beizubringen. Dabei entbindet aber auch eine (allfällige) nationale Beweislastregelung die Behörden nicht davon, auf Grundlage der vom Drittstaatsangehörigen beigebrachten Informationen die erforderlichen Ermittlungen anzustellen, um die Frage zu prüfen, ob der andere Elternteil, der dem Mitgliedstaat angehört, wirklich in der Lage und bereit ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind allein wahrzunehmen, sowie ob zwischen dem drittstaatsangehörigen Elternteil und dem Kind ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, sodass die Versagung eines Aufenthaltsrechts dem Kind die Möglichkeit nähme, den Kernbestand seiner aus dem Unionsbürgerstatus folgenden Rechte tatsächlich in Anspruch zu nehmen, weil es gezwungen wäre, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen (vgl. abermals EuGH 10.5.2017, ChavezVilchez u.a., C‑133/15, Rn. 75 ff).

7.1. Vorliegend stellte das Verwaltungsgericht - soweit im gegebenen Zusammenhang von Bedeutung - fest, dass der Mitbeteiligte und die Ehefrau für die Tochter gemeinsam obsorgeberechtigt seien, hingegen die Ehefrau für den Stiefsohn allein obsorgeberechtigt sei, dass der Mitbeteiligte jedoch auch zum Stiefsohn eine Beziehung aufgebaut und die Vaterrolle übernommen habe, dass der Mitbeteiligte bei seinen Aufenthalten in Wien im gemeinsamen Haushalt mit der Ehefrau und den Kindern wohne, dass für die Wohnungsmiete und den sonstigen Lebensunterhalt insbesondere auch für die Kinder die Ehefrau allein aufkomme, wobei der Mitbeteiligte auch keinen Arbeitsplatz in Aussicht habe, um zum Lebensunterhalt beizutragen.

Weitergehende im Sinn der oben dargestellten Rechtsprechung gebotene Feststellungen sowie diesen vorangehende entsprechende Sachverhaltsermittlungen - um beurteilen zu können, ob der Mitbeteiligte die tatsächliche Sorge vor allem für die gemeinsame Tochter, aber auch für den (wenngleich unter der alleinigen rechtlichen Obsorge der Ehefrau stehenden) Stiefsohn ausübe, ob ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis insbesondere der Tochter, aber auch des Stiefsohns zum Mitbeteiligten bestehe, ob die Ehefrau in der Lage und auch bereit sei, die tägliche und tatsächliche Sorge für die Kinder auch allein wahrzunehmen (finanziell dürfte dies nach den Feststellungen der Fall sein), sowie ob im Interesse des Kindeswohls unter Berücksichtigung aller fallbezogenen Umstände, wie etwa des Kindesalters, der körperlichen und emotionalen Entwicklung, des Grads der affektiven Bindung und des mit der Trennung für das innere Gleichgewicht verbundenen Risikos, die Erteilung eines Aufenthaltstitels geboten sei, da sich andernfalls die Kinder und damit zwangsläufig auch die Ehefrau zum Verlassen des Unionsgebiets gezwungen sehen könnten - nahm das Verwaltungsgericht hingegen nicht vor.

7.2. Das Verwaltungsgericht berief sich zwar im angefochtenen Erkenntnis in der rechtlichen Beurteilung (unter anderem) darauf, dass eine Trennung des Mitbeteiligten von seiner Familie durch Verwehrung des beantragten Aufenthaltstitels eine „wesentliche Beeinträchtigung im typischen Lebensumfeld der Tochter“ darstellen würde, dass der Mitbeteiligte auch mit dem Stiefsohn eine Beziehung aufgebaut und für diesen „die Vaterrolle übernommen“ habe, dass der Mitbeteiligte die Sorgepflichten der Ehefrau (für den Stiefsohn) „mitzutragen“ habe, dass „Aspekte der affektiven Bindung“ und „mögliche nachteilige Folgen für das Kindeswohl“ und ein geordnetes familiäres Gefüge für die Kindesentziehung zu berücksichtigen seien.

Diese Ausführungen sind jedoch weit überwiegend nur allgemein gehalten, ohne dass - nach erforderlicher Durchführung der entsprechenden Ermittlungen und unter Vornahme der im Sinn des Vorgesagten (Pkt. 7.1.) gebotenen konkreten Feststellungen - eine hinreichende Auseinandersetzung mit den wesentlichen tatsächlichen Umständen des gegenständlichen Falls im Licht der bereits oben näher erörterten Rechtsprechung erfolgen würde.

7.3. Das Verwaltungsgericht hat daher, indem es - ohne ausreichende Ermittlungen durchzuführen und ohne die sich daraus ergebenden erforderlichen Feststellungen zu treffen - vom Vorliegen einer besonderen Ausnahmesituation im Sinn der Judikatur des EuGH zu Art. 20 AEUV ausging, in der bei Verwehrung eines Aufenthaltstitels für den Mitbeteiligten die Unionsbürgerschaft der praktischen Wirksamkeit beraubt würde, da sich die Kinder und damit zwangsläufig auch die Ehefrau de facto gezwungen sehen könnten, das Gebiet der Union zur Gänze zu verlassen, und dem Mitbeteiligten im Hinblick darauf den beantragten Aufenthaltstitel erteilte, das angefochtene Erkenntnis mit einem wesentlichen Verfahrensfehler (Ermittlungs- und Begründungsmangel) belastet.

8. Die angefochtene Entscheidung war deshalb wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Wien, am 7. Juni 2023

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte