Normen
AVG §37
AVG §39 Abs2
AVG §58 Abs2
AVG §60
DO Wr 1994 §18 Abs1
DO Wr 1994 §77 Abs1
DO Wr 1994 §77 Abs1 Z1
DO Wr 1994 §77 Abs1 Z2
DO Wr 1994 §77 Abs1 Z3
DO Wr 1994 §78 Abs1
DO Wr 1994 §78 Abs2
StGB §32
StGB §33
StGB §43 Abs1
VStG §19
VStG §24
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §29 Abs1
VwGVG 2014 §38
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RO2022090004.J00
Spruch:
Das Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang des Strafausspruches wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Der im Jahre 1965 geborene Mitbeteiligte war im inkriminierten Zeitraum Richter des Verwaltungsgerichtes Wien (in der Folge: VGW) und wurde mit Erkenntnis des VGW vom 9. Juni 2020 mit Ablauf des 30. Juni 2020 gemäß § 15 Abs. 4 Z 3 Wiener Verwaltungsgerichts-Dienstrechtsgesetz (VWG‑DRG) des Amtes enthoben und somit gemäß § 68a Dienstordnung 1994 (DO 1994) in den Ruhestand versetzt.
2 Aufgrund des Strafantrages der Revisionswerberin vom 6. Dezember 2019 betreffend Vorwürfe zu Säumnissen bei der Behandlung von mehreren Fristsetzungsanträgen bzw. dazu erfolgten unbedingten Erledigungaufträgen des Verwaltungsgerichtshofes wurde der Mitbeteiligte mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 9. Juli 2020 näher beschriebener Säumnisse im Zeitraum zwischen März 2016 und April 2019 in sechs Fällen und deswegen einer Dienstpflichtverletzung gemäß § 18 Abs. 1 DO 1994, LGBl. Nr. 56/1994 in der Fassung LGBl. Nr. 29/2020, schuldig erkannt. Im Umfang des dazu ergangenen Strafausspruches und des Freispruches hinsichtlich weiterer Säumnisvorwürfen wurde diese Entscheidung infolge der von der Revisionswerberin erhobenen Revision mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 2. November 2020, Ro 2020/09/0014, aufgehoben. Zur weiteren Vorgeschichte wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf dieses Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes verwiesen.
3 Vom Bundesverwaltungsgericht wurde nunmehr im zweiten Rechtsgang mit Erkenntnis vom 24. Jänner 2022 der Mitbeteiligte (weiters) schuldig erkannt, in zwei näher genannten, seit Juni 2015 bzw. Juli 2016 anhängigen Verfahren Anordnungen bzw. Erledigungsaufträge des Verwaltungsgerichtshofes aufgrund von Fristsetzungsanträgen vom 26. April 2018 bzw. 11. Juli 2018 missachtet und jeweils bis 3. April 2019 keine Entscheidung erlassen zu haben, und dadurch eine Dienstpflichtverletzung gemäß § 18 Abs. 1 DO 1994, LGBl. Nr. 56/1994, zuletzt geändert durch LGBl. Nr. 69/2021, begangen zu haben. Wegen dieser und der im oben genannten Vorerkenntnis festgestellten Dienstpflichtverletzungen wurde über den Mitbeteiligten die Disziplinarstrafe der Geldstrafe in Höhe eines zweifachen Ruhebezuges verhängt, welche gemäß § 78 Abs. 3 in Verbindung mit § 108 Abs. 1 leg. cit. unter Setzung einer Bewährungsfrist von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde; außerdem wurde der Mitbeteiligte von weiteren Säumnisvorwürfen in zwei angeführten Verfahren gemäß § 103 Abs. 2 DO 1994 freigesprochen. Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG erklärte das Bundesverwaltungsgericht für zulässig.
4 In der Begründung der Entscheidung führte das Bundesverwaltungsgericht ‑ soweit hier von Relevanz ‑ zusammengefasst aus, dass - ausgehend von den über Ersuchen des Disziplinargerichtes vom Präsident des VGW vorgelegten Informationen und Daten zur Arbeitsleistung und -belastung und dazu angeführten Zahlen zu Arbeitsanfall, Erledigungen und durchschnittlicher Erledigungsdauer - drei zum Vergleich herangezogene Gerichtsabteilungen ebenso wie diejenige des Mitbeteiligten ab dem Jahr 2015 „neben weiteren unterschiedlichen Rechtsmaterien“ Dienst- und Disziplinarrecht von Beamten sowie Berufs- und Disziplinarrecht der freien Berufe „zu vollziehen“ hatten; die Bearbeitung von Dienst- und Disziplinarverfahren sei mit „einem überdurchschnittlich hohen administrativen Aufwand bedingt durch die in diesem Zusammenhang zu bildenden Senate aus Berufs- und Laienrichtern“ verbunden. Im sparteninternen Vergleich dieser vier Abteilungen habe der Mitbeteiligte in den Jahren 2015 bis 2018 Geschäftsfälle mit der zweithöchsten Punktebewertung zugewiesen erhalten, von Jänner bis März 2019 hätten seine und die Abteilung mit der höchsten Punktebewertung der angeführten Vorperiode keine Geschäftsfälle zugewiesen erhalten; zum 1. Jänner 2019 habe er offene Geschäftsfälle mit einer Punktebewertung, die rechnerisch über dem durchschnittlichen Jahresanfall seiner Abteilung der Vorjahre lag, ausgewiesen. Weiters habe er im Zeitraum 2015 bis März 2019 vergleichsweise „am meisten Verfahren von diesen vier Abteilungen abgeschlossen“ (dazu wurde auch die durchschnittliche Erledigungsdauer in seiner und den drei anderen Abteilungen in den Jahren 2015 bis 2018 angeführt); im Jahr 2018 - also im Zeitraum der im Schuldspruch inkriminierten Pflichtverletzungen ‑ würden ‑ wie auch im Zeitraum Jänner bis März 2019 - seine Erledigungszahlen dazu an zweiter Stelle liegen. Im Hinblick auf die ausgezeichnete Dienstbeurteilung des Mitbeteiligten für die Jahre 2014 bis 2017 könne unter Bedachtnahme auf die näher dargelegten Erledigungszahlen kein Zweifel aufkommen, dass er ein überdurchschnittliches Maß an Fleiß und Arbeitseifer an den Tag gelegt habe.
5 Wenn nun also ein Richter ‑ so das Bundesverwaltungsgericht weiter ‑ über einen vierjährigen Betrachtungszeitraum „in quantitativer Hinsicht eine vergleichsweise über dem Durchschnitt liegende Erledigungsquote“ aufweise und dennoch am Ende dieser Periode ‑ hier Ende 2018 ‑ einen (näher dargelegten) Arbeitsvorrat aufweise, der jedenfalls nicht innerhalb eines Kalenderjahres zu bewältigen sei, erscheine seine Gerichtsabteilung strukturell überlastet, weil es nicht möglich erscheine, dass diese Verfahren auch bei größtem Fleiß innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Fristen zum Abschluss gebracht werden. Die „strukturelle Überlastung dieser Gerichtsabteilung, die bedeute, dass die zugewiesenen Aufgaben trotz hohem Arbeitseinsatz in quantitativer Hinsicht nicht innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Fristen erledigt werden können“, ergebe sich auch aus dem Bericht des vom Präsidenten des VGW bestellten Untersuchungskommissärs. Der Mitbeteiligte habe die angelasteten Handlungen und Unterlassungen gesetzt; diese Versäumnisse seien aber nicht Folge seiner Überlastung in dem Sinne gewesen, dass er etwas übersehen habe, sondern hätten auf dem Umstand beruht, dass er nicht erkannt habe, dass die im Spruch genannten Verfahren bzw. Verfahrensschritte jedenfalls vordringlich vor anderen zu bearbeiten gewesen wären. Der Mitbeteiligte habe auf die steigende, für ihn subjektiv zu hohe Arbeitsbelastung mit Ausdehnung seiner Arbeitszeit und Arbeitsintensität reagiert und in den Jahren 2017 und 2018 keinen Urlaub konsumiert. Nach dem vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten Gutachten eines neurologisch‑psychiatrischen Sachverständigen liege beim Mitbeteiligten eine durch einen chronischen Tinnitus rechtsseitig bedingte Anpassungsstörung vor, wodurch er „spätestens ab November 2018 in seiner Arbeitsfähigkeit schwerwiegend beeinträchtigt war“ (dieses Krankheitsbild habe auch zur Arbeitsunfähigkeit des Mitbeteiligten ab April 2019 und letztlich zu seiner Ruhestandsversetzung geführt).
6 Zur Strafbemessung setzte das Bundesverwaltungsgericht als Ergebnis seiner Abwägungen im Sinne von § 77 DO 1994 im Wesentlichen fort, dass das Fehlverhalten des Mitbeteiligten im Kernbereich seiner dienstlichen Aufgaben erfolgt sei und ihm deshalb grundsätzlich ein nicht unbedeutendes Gewicht zukomme. Die vorliegende Dienstpflichtverletzung der unrichtigen Prioritätensetzung bei der Erfüllung der dienstlichen Aufgaben sei aber angesichts des bis zuletzt vom Mitbeteiligten an den Tag gelegten großen Arbeitseinsatzes keineswegs geeignet, das Vertrauen des Dienstgebers oder der Öffentlichkeit in seine Person schwerwiegend zu erschüttern. Der Mitbeteiligte habe zugestanden, dass er mit den inkriminierten Säumnissen Verletzungen von Rechtsschutzinteressen bewusst in Kauf genommen habe, aber bei seiner Prioritätensetzung die Rechtsschutzinteressen der Parteien anhängiger Verfahren gegeneinander abgewogen und dies nicht unter dem Gesichtspunkt eines Ausweichens vor „schwierigen“ Verfahren getroffen; er habe dazuausgeführt, „natürlich den Akt mit dem Fristsetzer herausgesucht zu haben, aber wenn er zum Schluss gekommen sei, dass er ‚unheikel‘ ist, ihn halt länger liegen lassen und dafür andere seiner Meinung nach vordringlichere Akten bearbeitet.“ Für diese qualifizierte Fehlbeurteilung des Mitbeteiligten erweise sich eine Geldstrafe von zwei Ruhebezügen als tat- und schuldangemessen; als erschwerend sei dabei zu werten gewesen, dass er diesen Rechtsschutz in gleich mehreren Fällen beeinträchtigt habe, mildernd habe sich seine sonstige Dienstleistung in quantitativer Hinsicht, seine persönliche Überlastung, die bisherige Unbescholtenheit sowie die bisherige ausgezeichnete Dienstverrichtung ausgewirkt, nicht jedoch sein Tatsachengeständnis. Die bedingte Nachsicht der Geldstrafe wurde damit begründet, dass infolge der zwischenzeitigen Ruhestandsversetzung des Mitbeteiligten keine spezialpräventiven Erfordernisse dagegensprächen, ebenso wenig generalpräventive Gründe, da sich „gröbere Probleme“ solcher angelasteter Verfahrensverzögerungen bei jenem Verwaltungsgericht nach den Ausführungen des Disziplinaranwaltes in der mündlichen Verhandlung zwischenzeitig „ganz erheblich“ gebessert hätten.
7 Die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision der Disziplinaranwältin richtet sich gegen den Strafausspruch; der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung.
8 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
9 Gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichts die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzlich Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
10 Bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision ist der Verwaltungsgerichtshof an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes nach § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden (§ 34 Abs. 1a VwGG). Er hat die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat ein Revisionswerber auch bei Erhebung einer ordentlichen Revision von sich aus die Zulässigkeit der Revision (gesondert) darzulegen, sofern er der Ansicht ist, dass die Begründung des Verwaltungsgerichtes für die Zulässigkeit der Revision nicht ausreicht, oder er eine andere Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung für relevant erachtet (vgl. VwGH 8.8.2018, Ro 2017/10/0002; 27.9.2018, Ro 2018/10/0031; 26.2.2020, Ro 2020/09/0002).
11 Gemäß § 77 Abs. 1 DO 1994 ist die Schwere der Dienstpflichtverletzung für die Höhe der Strafe maßgebend, wobei insbesondere Rücksicht zu nehmen ist, inwieweit das Vertrauen der Dienstgeberin oder des Dienstgebers in die Person der Beamtin oder des Beamten durch die Dienstpflichtverletzung beeinträchtigt wurde (Z 1), inwieweit die beabsichtigte Strafe erforderlich ist, um die Beamtin oder den Beamten von der Begehung weiterer Dienstpflichtverletzungen abzuhalten (Z 2) und sinngemäß auf die gemäß §§ 32 bis 35 des StGB für die Strafbemessung maßgebenden Gründe (Z 3).
12 Angesichts der ausdrücklichen Nennung des § 32 StGB in § 77 Abs. 1 DO 1994 sind zudem sinngemäß die in § 32 StGB normierten allgemeinen Grundsätze der Strafbemessung maßgeblich, weshalb auch der in § 32 StGB als Grundlage für die Bestrafung normierten Schuld des Täters bei der Strafbemessung Bedeutung zukommt.
13 Nach § 78 Abs. 1 DO 1994 kann die Disziplinarbehörde unter Bestimmung einer Bewährungsfrist von einem bis zu drei Jahren eine Disziplinarstrafe gemäß § 76 Abs. 1 Z 2 und 3 leg. cit. ‑ also im Fall der Verhängung einer Geldbuße oder Geldstrafe ‑ ganz oder teilweise bedingt nachsehen, wenn anzunehmen ist, dass die bloße Androhung der Vollziehung der Strafe genügen wird, um den Beamten von weiteren Dienstpflichtverletzungen abzuhalten und es nicht der Vollstreckung der Strafe bedarf, um der Begehung von Dienstpflichtverletzungen durch andere entgegenzuwirken, sowie wenn über den Beamten bisher keine solche Strafe im Ausmaß von mehr als einem halben Monatsbezug verhängt wurde. Gemäß Absatz 2 dieser Bestimmung ist dabei insbesondere auf die Art der Dienstpflichtverletzung, die Person des Beamten, den Grad seines Verschuldens und auf sein dienstliches Verhalten Bedacht zu nehmen.
14 Als Ermessensentscheidung unterliegt die Strafbemessung nur insofern der Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof im Rahmen von dessen Befugnissen nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG, als dieser gegebenenfalls zu prüfen hat, ob von dem vom Gesetz eingeräumten Ermessen im Sinn des Gesetzes Gebrauch gemacht wurde. Das Verwaltungsgericht ist verpflichtet, in der Begründung seines Erkenntnisses gemäß § 29 Abs. 1 zweiter Satz VwGVG die für die Überprüfung der Ermessensübung maßgebenden Überlegungen und Umstände sowie im Falle der eigenen Ermessensübung die dafür maßgeblichen Gründe insoweit offen zu legen, als dies für die Rechtsverfolgung durch die Parteien und für die Nachprüfung der Ermessensentscheidung auf ihre Übereinstimmung mit dem Sinn des Gesetzes durch den Verwaltungsgerichtshof erforderlich sein kann (vgl. u.a. VwGH 10.9.2015, Ra 2015/09/0041).
15 Im Hinblick auf die Grundsätze der Amtswegigkeit und der Erforschung der materiellen Wahrheit hat die Behörde bzw. das Verwaltungsgericht alle notwendigen Beweise aufzunehmen und darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. etwa VwGH 18.6.2020, Ra 2020/07/0015 und 26.9.2016, Ra 2015/08/0211).
16 Hat der Verwaltungsgerichtshof einer Revision stattgegeben, sind gemäß § 63 Abs. 1 VwGG die Verwaltungsgerichte verpflichtet, in der betreffenden Rechtssache mit den ihnen zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechenden Rechtszustand herzustellen. Erfolgte die Aufhebung einer angefochtenen Entscheidung, weil es das Verwaltungsgericht unterlassen hat, die für die Beurteilung des Rechtsfalles wesentlichen Tatsachenfeststellungen zu treffen, so besteht die Herstellung des der Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechenden Rechtszustandes darin, dass das Verwaltungsgericht jene Ergänzungen des Ermittlungsverfahrens durchführt und die Feststellungen trifft, die eine erschöpfende Beurteilung des maßgebenden Sachverhaltes ermöglichen (vgl. VwGH 23.3.2021, Ra 2019/19/0431, mwN). Demnach erfordert die Begründung der Entscheidung in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhaltes, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben (vgl. VwGH 11.5.2021, Ra 2020/02/0017).
17 Die vorliegende Revision ist zulässig und sie ist auch berechtigt, wenn darin (auch unter Bezugnahme auf das zitierte Vorerkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes zum ersten Rechtsgang) im Ergebnis Verfahrensfehler und daraus resultierende Begründungsmängel, die einer abschließenden rechtlichen Beurteilung zur Strafbemessung entgegenstehen, sowie eine verfehlte Rechtsansicht zur bedingten Strafnachsicht geltend gemacht werden:
18 Gegenständlich ist (nur) der gegen den Mitbeteiligten erhobene Vorwurf von Säumigkeiten in mehreren Verfahren im Zusammenhang mit Fristsetzungsanträgen, also einer unrichtigen Prioritätensetzung bei der Behandlung offener Verfahren, nicht jedoch von hohen Aktenrückständen; ausgehend von den dazu in zwei Rechtsgängen erfolgten rechtskräftigen Schuldsprüchen in insgesamt acht Fällen hat sich die Prüfung der Erfordernisse der Begründungspflicht der nunmehr angefochtenen Entscheidung aufgrund des Revisionsumfanges ausschließlich auf die Strafbemessung zu beziehen.
19 Das Bundesverwaltungsgericht kommt dazu insoweit folgerichtig zum Schluss, dass das Fehlverhalten des Mitbeteiligten im Kernbereich seiner dienstlichen Aufgaben erfolgt sei und ihm deshalb grundsätzlich ein nicht unbedeutendes Gewicht zukomme. Die Ausführungen, der Mitbeteiligte habe diese Säumnisse nach jeweiliger Aktendurchsicht in Abwägung mit anderen Fällen bewusst in Kauf genommen, könnten (zumindest) als Annahme der Schuldform „dolus eventualis“ gewertet werden, die weiteren Ausführungen, dass er nach individueller Prüfung und ‑ nach Qualifizierung als „unheikel“ den „Fristsetzer habe halt länger liegen lassen“, sprechen jedoch wohl für die Annahme der Schuldform der Wissentlichkeit, womit sich insgesamt die Begründung zur Schuldform beim Mitbeteiligten zumindest als widersprüchlich erweist.
20 Wenn das Bundesverwaltungsgericht weiters im Wesentlichen argumentiert, die gegenständliche Dienstpflichtverletzung sei „angesichts des bis zuletzt vom Mitbeteiligten an den Tag gelegten großen Arbeitseinsatzes“ keineswegs geeignet das Vertrauen des Dienstgebers oder der Öffentlichkeit in seine Person schwerwiegend zu erschüttern, und schließlich als tragende Milderungsgründe (auch) die „sonstige Dienstleistung in quantitativer Hinsicht“ und „seine persönliche Überlastung“ heranzieht, wobei es dem Mitbeteiligten dabei auch einen freiwilligen Urlaubsverzicht zugesteht, so übersieht es Folgendes:
21 Zunächst ist dazu festzuhalten, dass eine „sonstige Dienstleistung“ bei der (ordnungsgemäßen) Erfüllung der Aufgaben einer Gerichtsabteilung durch eine/n Richter/in allein beim Vorwurf punktueller Verfahrensrückstände durch unrichtige Prioritätensetzung nicht als Milderungsgrund in Frage kommen kann, da der Vorwurf der unrichtigen Prioritätensetzung (wie hier) ja gerade voraussetzt, dass die betroffenen Fälle bei entsprechender Gewichtung ihrer Priorität im Rahmen der sonstigen Erledigungskapazitäten vom Richter/von der Richterin bewältigt werden hätten können (vgl. dazu das Vorerkenntnis VwGH 2.11.2020, Ro 2020/09/0014, insbesondere Rz 32); davon geht das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen der Schuldsprüche zu den inkriminierten Vorwürfen auch erkennbar aus. Die Frage der Überlastung tritt aufgrund der Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts daher insoweit in den Hintergrund, weil sich daraus nicht ergibt, dass die Überlastung so massiv gewesen sei, dass eine richtige Prioritätensetzung dadurch ausgeschlossen worden wäre.
22 Soweit das Bundesverwaltungsgericht auf Grundlage seiner Feststellungen dem Mitbeteiligten ein überdurchschnittliches Maß an Fleiß und Arbeitseifer zugesteht und damit auch offenkundig überdurchschnittliche Leistungen im Rahmen der Strafbemessung in die zuvor genannten Milderungsgründen einfließen lässt, ist ihm entgegenzuhalten, dass die diesbezügliche Ermittlungstätigkeit des Gerichts bzw. die übrige Begründung dazu für eine Nachprüfung der Ermessensentscheidung nicht ausreichen:
23 So hätte sich das Bundesverwaltungsgericht im Hinblick auf seine amtswegige Ermittlungspflicht nicht mit der bloßen Behauptung des Mitbeteiligten, in den Jahren 2017 und 2018 keinen Urlaub konsumiert zu haben, begnügen dürfen, sondern diese nach dem Vorbringen in der Revision tatsachenwidrige Behauptung durch einfache Erhebungen bei der Dienstbehörde (wie Einholung eines entsprechenden Auszuges aus der entsprechenden Personalverwaltungssoftware oder Einvernahme eines informierten Vertreters der Dienstbehörde) zu überprüfen gehabt. Indem es somit erkennbar tragend für die „sonstigen Dienstleistung in quantitativer Hinsicht“ des Mitbeteiligten in diesem Zusammenhang auch einfließen lässt, dass der Mitbeteiligte auf die steigende Arbeitsbelastung mit Ausdehnung seiner Arbeitszeit und Arbeitsintensität reagiert und in den Jahren 2017 und 2018 keinen Urlaub konsumiert habe, und dabei ‑ im Übrigen ohne weitere Begründung ‑ allein den Angaben des Mitbeteiligten folgt, werden fundamentale Grundsätze der amtswegigen Ermittlungspflicht übersehen.
24 Weiters ist anzumerken, dass das Bundesverwaltungsgericht unter Bezugnahme auf das eingeholte neurologisch-psychiatrische Gutachten die geschilderte krankheitswertige Störung „spätestens ab November 2018“ beim Mitbeteiligten als objektiviert sieht und eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit annimmt, es bleibt aber eine Begründung schuldig, aus welchen Gründen es diese (nach dem Gutachten „erst“ ab 5. November 2018 gegebene) Einschränkung schon davor als gegeben erachtet und in welchem Umfang es eine solche im Rahmen des Milderungsgrundes der „persönlichen Überlastung“ mitberücksichtigt.
25 Im Übrigen kann dem Bundesverwaltungsgericht auch nicht gefolgt werden, wenn es bei der derzeitigen Sachlage das Vorliegen von generalpräventiven Erwägungen, die gegen die bedingte Strafnachsicht sprechen würden, verneint:
26 Zunächst sind die gegenständlichen Dienstpflichtverletzungen (mehrfache punktuelle Verfahrensverzögerungen im Zusammenhang mit Fristsetzungsanträgen über teilweise mehrere Jahre) schon ihrer Art nach geeignet, der Anwendung einer bedingten Strafnachsicht nach § 78 Abs. 1 DO 1994 entgegenzustehen (nach Absatz 2 dieser Bestimmung ist dabei u.a. insbesondere auf die Art der Dienstpflichtverletzung und den Grad des Verschuldens Bedacht zu nehmen).
27 Darüber hinaus übersieht das Bundesverwaltungsgericht, dass Verweise auf Ausführungen in der Begründung der (seinerzeitigen) verwaltungsgerichtlichen Entscheidung im ersten Rechtsgang die Begründung in dieser Entscheidung ebenso wie bloße Verweise in der Beweiswürdigung „auf die Aktenlage“ bzw. Ausführungen des Disziplinaranwaltes, wonach sich das „gröbere Problem“ von Verfahrensverzögerungen bei diesem Verwaltungsgericht zwischendurch gebessert habe, seine Argumentation, es bedürfe nicht der Vollstreckung der Strafe, um die Begehung von Dienstpflichtverletzungen durch andere entgegenzuwirken, nicht zu tragen vermögen.
28 Im Weiteren erweist sich die Verneinung einer generalpräventiven Betrachtungsweise bei der Strafbemessung ebenso schon deshalb als verfehlt, weil auch im Fall einer Pensionierung eines betroffenen Disziplinarbeschuldigten die generalpräventive Wirkung zu berücksichtigen ist und es dabei nicht darauf ankommt, ob sich die Situation bei einem konkreten Gericht gebessert hat, sondern auf die allgemeine Notwendigkeit einer entsprechend korrekten Priorisierung von Aktenbearbeitungen abzustellen ist, die über ein Gericht hinaus und auch über den Bereich der Verwaltungsgerichte hinaus Bedeutung hat, soweit vergleichbare Regelungen zu den Dienstpflichten bestehen.
29 Der Oberste Gerichtshof hat zur vergleichbaren Bestimmung des § 43 Abs. 1 StGB ausgeführt, dass es unter dem Aspekt der positiven Generalprävention der Prüfung bedarf, ob zur Erhaltung und Stärkung der Normentreue im Allgemeinen und in Ansehung potentieller Täter in ähnlicher Lage im Besonderen der sofortige Strafvollzug geboten ist oder nicht (OGH 19.8.1993, 15 Os 85/93). Der Verwaltungsgerichtshof hat zur insoweit vergleichbaren Bestimmung nach § 139 Abs. 3 ÄrzteG 1998 ausgesprochen, dass es beim Gesichtspunkt der Generalprävention auf die Abschreckung potentieller Täter ankommt und dass die Strafe und deren Vollzug als Mittel der Bekräftigung des Geltungsanspruches der Rechtsordnung insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Aufrechterhaltung des Vertrauens der Bevölkerung auf Durchsetzung des Rechts zu sehen ist. Ein hoher Grad der Schuld, ein besonderes Gewicht und eine erhebliche Sozialschädlichkeit der Tat sowie die schweren Folgen einer Tat sprechen für die Strafvollstreckung und die Abstandnahme von einer bedingten Strafnachsicht aus generalpräventiver Sicht (VwGH 10.12.2014, Ro 2014/09/0056).
30 Insgesamt leidet die Entscheidung bezüglich der bekämpften Strafbemessung somit an wesentlichen Verfahrensfehlern und Begründungsmängeln, die eine abschließende rechtliche Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ermessensübung bei der Strafbemessung nicht zulassen, nämlich einerseits dadurch, dass die Ausführungen in der Begründung zur Schuldform beim Disziplinarbeschuldigten zumindest widersprüchlich sind, zur Annahme eines freiwilligen Urlaubsverzichts keine entsprechenden Erhebungen vorgenommen wurden und das eingeholte neurologisch-psychiatrische Gutachten nicht in ausreichender Weise gewürdigt bzw. hinterfragt wurde, sowie andererseits daran, dass die Verneinung einer generalpräventiven Wirkung aus den dargelegten Gründen verfehlt ist.
31 Da das Bundesverwaltungsgericht all dies übersehen hat, ist das angefochtene Erkenntnis mit - prävalierender - Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet, weshalb es im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.
Wien, am 1. September 2022
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