Normen
AlVG 1977 §24 Abs1
AlVG 1977 §49 Abs2
VwRallg
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022080147.L00
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Die revisionswerbende regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice (AMS) sprach mit Bescheid vom 9. Dezember 2021 aus, dass die Notstandshilfe der Mitbeteiligten gemäß „§ 38 iVm § 24 Abs 1 und § 49 AlVG“ wegen Nichteinhaltung eines Kontrollmeldetermins am 28. Oktober 2021 ab diesem Datum eingestellt werde.
2 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das AMS mit Beschwerdevorentscheidung vom 11. März 2022 als unbegründet ab.
3 Die Mitbeteiligte stellte einen Vorlageantrag.
4 Im Hinblick auf das Beschwerdevorbringen, wonach die Mitbeteiligte auf Grund ihrer psychiatrischen Erkrankung nicht in der Lage gewesen sei, den Kontrollmeldetermin wahrzunehmen, beauftragte das Bundesverwaltungsgericht einen medizinischen Sachverständigen zur Klärung der Fragen, ob Änderungen zum Vorgutachten vom 19. November 2020 (das der Bestellung eines Erwachsenenvertreters für die Mitbeteiligte vorangegangen war) eingetreten seien, ob die Mitbeteiligte in der Lage gewesen sei, das Wesen eines Kontrolltermins am 28. Oktober 2021 bzw. einen Monat davor zu verstehen, und ob die Mitbeteiligte am 28. Oktober 2021 in der Lage gewesen sei, dieser Einsicht gemäß zu handeln.
5 In seinem ‑ nach einem Hausbesuch bei der Mitbeteiligten erstellten ‑ Gutachten vom 15. August 2022 erklärte der Sachverständige, dass seit dem Vorgutachten keine wesentlichen Änderungen eingetreten seien. Es bestehe nach wie vor ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten. In Anbetracht ihrer psychiatrischen Mehrfacherkrankung sei die Mitbeteiligte nach wie vor nicht in der Lage, verlässlich Termine einzuhalten, Amtswege zu erledigen oder Vorladungen von Ämtern bzw. Institutionen zu folgen, auch wenn sich dadurch vorhersehbar negative Konsequenzen für sie ergäben. Simpel ausgedrückt sei die Angst, das Haus zu verlassen und sich in Folge der Situation zu stellen, wesentlich dominanter und übermächtiger als die Angst vor den Konsequenzen. Die seit einigen Wochen bestehenden Versuche, sich „vorzutasten“, bekundeten zwar allenfalls den guten Willen, änderten an der Gesamtsituation derzeit aber nichts. Die kognitiven Fähigkeiten der Betroffenen seien unverändert intakt, sie sei zweifellos in der Lage, die Zusammenhänge zu begreifen und auch den Sinn bzw. den Inhalt und das Wesen des Kontrolltermins zu verstehen. Sie sei aber ‑ auch konkret am 28. Oktober 2021 ‑ nicht in der Lage gewesen, dieser Einsicht entsprechend zu handeln. Ihre Ängste, das Haus zu verlassen, seien dominant vor allen anderen Überlegungen, auch vor jenen Ängsten der möglichen bzw. erwartbaren negativen Konsequenzen.
6 Das Bundesverwaltungsgericht schloss aus dieser gutachterlichen Äußerung erkennbar, dass ein triftiger Grund für die Versäumung des Kontrollmeldetermins im Sinn des § 49 Abs. 2 AlVG vorgelegen sei, sodass die Bezugseinstellung zu Unrecht erfolgt sei.
7 Da die Einstellung auf die Versäumung des Kontrollmeldetermins gestützt worden sei, sei nur dies ‑ und nicht auch die Frage, ob die Anspruchsvoraussetzung der Arbeitsfähigkeit vorliege ‑ Sache des Verfahrens.
8 Das Bundesverwaltungsgericht gab daher der Beschwerde statt, behob die Beschwerdevorentscheidung und sprach aus, dass die Notstandshilfe „über das vormalige Einstellungsdatum 28.10.2021 hinaus im gesetzlichen Ausmaß, das sind € 23,27 täglich, weiter zu gewähren“ sei.
9 Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
10 Nach der genannten Verfassungsbestimmung ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
11 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
12 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
13 Das AMS bringt unter diesem Gesichtspunkt zunächst vor, das angefochtene Erkenntnis erfülle nicht die Anforderungen an Form und Inhalt eines verwaltungsgerichtlichen Erkenntnisses, da die Feststellung des entscheidungswesentlichen Sachverhalts fehle. Konkret bemängelt das AMS, dass unter der Überschrift „Feststellungen“ lediglich Teile der medizinischen Sachverständigengutachten zitiert würden und auch die rechtliche Beurteilung im Wesentlichen nur Zitate aus Erkenntnissen des Verwaltungsgerichtshofes enthalte, ohne daraus Schlussfolgerungen für das Nichtvorliegen eines sanktionierbaren Kontrollmeldeversäumnisses zu ziehen. Das trifft zwar grundsätzlich zu, allerdings ist ‑ wie oben dargestellt ‑ noch ausreichend erkennbar, von welchen Feststellungen das Bundesverwaltungsgericht ausgegangen ist (nämlich von der mangelnden Fähigkeit der Mitbeteiligten, den Kontrollmeldetermin wahrzunehmen) und welche rechtliche Schlussfolgerung es daraus gezogen hat (nämlich das Vorliegen eines triftigen Grundes für das Versäumen des Termins). Ein relevanter, eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung konstituierender Begründungsmangel wurde daher nicht aufgezeigt.
14 Weiters wendet sich die Amtsrevision gegen den zweiten Satz des Spruchs des angefochtenen Erkenntnisses, mit dem die Gebührlichkeit der Notstandshilfe über das „vormalige Einstellungsdatum“ hinaus im gesetzlichen Ausmaß festgestellt wurde. Damit habe das Bundesverwaltungsgericht die Sache des Verfahrens überschritten. Ohne das Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Notstandshilfe ab dem 28. Oktober 2021 bzw. dessen Höhe zu überprüfen, habe das Bundesverwaltungsgericht die Weitergewährung der Leistung ausgesprochen. Dadurch werde dem AMS die Möglichkeit genommen, das tatsächliche Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen sowie der Höhe der Notstandshilfe ab 28. Oktober 2021 zu prüfen.
15 Der betreffende Spruchteil des angefochtenen Erkenntnisses ist jedoch nur als (überflüssige, aber nicht schädliche) Bekräftigung zu verstehen, dass die Sanktionierung nach § 49 Abs. 2 AlVG wegen des Nichterscheinens zum Kontrollmeldetermin am 28. Oktober 2021 ersatzlos zu entfallen hat, und steht einer Einstellung oder einem Widerruf wegen Wegfalls oder Fehlens einer Anspruchsvoraussetzung durch das AMS nicht entgegen. Er ist weder als Zuerkennung einer Leistung zu verstehen, noch handelt es sich der Sache nach um den „contrarius actus“ zu einer Einstellung nach § 24 Abs. 1 AlVG. Der Ausspruch des Anspruchsverlusts konnte sich nämlich ‑ ungeachtet der Nennung dieser Norm im Ausgangsbescheid des AMS ‑ nicht auf § 24 Abs. 1 AlVG stützen. Eine Einstellung nach dieser Bestimmung ist ‑ schon nach ihrem Wortlaut ‑ nur bei Wegfall einer Anspruchsvoraussetzung vorzunehmen, nicht aber dann, wenn es um die (nur zu einem zeitlich befristeten Anspruchsverlust führende) Reaktion auf ein verpöntes Verhalten geht (vgl. in diesem Sinn ‑ zum Anspruchsverlust nach § 10 AlVG ‑ VwGH 26.3.2021, Ra 2021/08/0016).
16 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
Wien, am 15. November 2022
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