VwGH Ra 2022/01/0102

VwGHRa 2022/01/010213.9.2022

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer und die Hofräte Dr. Fasching sowie Mag. Brandl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Derfler, über die Revision 1. des R B, und 2. des J B, beide in W, beide vertreten durch Michail Fouzailov, LL.M., Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schottenring 14, dieser vertreten durch Mag. Katrin Blecha-Ehrbar, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Dorotheergasse 6‑8, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. März 2022, Zlen. 1. W202 2248788‑1/2E und 2. W202 2248789‑1/2E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §21 Abs7
MRK Art6
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGG §53 Abs1
12010P/TXT Grundrechte Charta Art47

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022010102.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Erstrevisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die Revisionswerber, beide afghanische Staatsangehörige, sind Brüder und stellten am 9. Juli 2021 jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Mit Bescheid vom 21. Oktober 2021 (betreffend den Erstrevisionswerber) und Bescheid vom 29. Oktober 2021 (betreffend den Zweitrevisionswerber) wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge jeweils hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte den Revisionswerbern jeweils den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer eines Jahres (Spruchpunkt III.).

3 Die jeweils gegen Spruchpunkt I. der Bescheide erhobene Beschwerde der Revisionswerber wies das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgericht) mit dem angefochtenen Erkenntnis ‑ ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ‑ als unbegründet ab (Spruchpunkt A). Eine Revision erklärte das Verwaltungsgericht für nicht zulässig (Spruchpunkt B).

4 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Das BFA erstattete in dem vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahren keine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

5 Die Revision ist in Bezug auf ihr Zulässigkeitsvorbringen zum Abweichen des Verwaltungsgerichts von näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Voraussetzungen für ein Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA‑VG zulässig und begründet.

6 Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass für die Auslegung der in § 21 Abs. 7 BFA‑VG enthaltenen Wendung „wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint“ folgende Kriterien beachtlich sind:

7 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das Verwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA‑VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. dazu grundlegend das in der Revision zitierte Erkenntnis VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017‑0018, sowie aus der jüngeren Rechtsprechung etwa VwGH 25.4.2022, Ra 2021/01/0415, Rn. 6, mwN).

8 Im vorliegenden Verfahren traten die Revisionswerber in ihren Beschwerden zu der im Zusammenhang mit ihrer psychischen Erkrankung behaupteten asylrelevanten Verfolgungsgefahr jeweils im Einzelnen und mit konkreten Argumenten der Beweiswürdigung des BFA substantiiert entgegen und erstatteten dazu zudem ergänzendes relevantes Vorbringen.

9 Das Verwaltungsgericht durfte somit nicht von einem geklärten Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA‑VG ausgehen, sondern hätte nach den oben dargestellten Kriterien eine mündliche Verhandlung durchführen müssen.

10 Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und ‑ wie hier gegeben ‑ des Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. wiederum VwGH Ra 2021/01/0415, Rn. 9, mwN).

11 Das angefochtene Erkenntnis war daher schon aus diesem Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

12 Gemäß § 53 Abs. 1 VwGG ist bei Anfechtung eines Erkenntnisses oder Beschlusses durch mehrere Revisionswerber in einer Revision die Frage des Anspruches auf Aufwandersatz so zu beurteilen, als ob die Revision nur vom erstangeführten Revisionswerber eingebracht worden wäre. Diese Bestimmung gilt jedoch nur für den Fall, dass die Revisionen aller Revisionswerber dasselbe Schicksal teilen, was hier der Fall ist (vgl. etwa VwGH 9.5.2022, Ra 2021/01/0184 bis 0190, Rn. 27, mwN).

Wien, am 13. September 2022

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