Normen
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021220266.L00
Spruch:
Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird abgewiesen.
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 2. November 2021 wies das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich (Verwaltungsgericht) die Beschwerde der Revisionswerberin, einer nigerianischen Staatsangehörigen, gegen die mit Bescheid des Bürgermeisters der Landeshauptstadt Linz vom 16. Juni 2021 erfolgte Abweisung ihres Antrags vom 22. Juli 2020 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz als unbegründet ab. Die Revision an den Verwaltungsgerichtshof wurde für unzulässig erklärt.
2 Das angefochtene Erkenntnis wurde der Revisionswerberin zu Handen ihres Rechtsvertreters am 10. November 2021 zugestellt.
3 Mit an den Verwaltungsgerichtshof adressiertem Schriftsatz vom 22. Dezember 2021 brachte die Revisionswerberin unmittelbar beim Verwaltungsgerichtshof eine außerordentliche Revision ein, die dieser mit verfahrensleitender Anordnung vom 28. Dezember 2021 an das Verwaltungsgericht weiterleitete.
4 Am 23. Dezember 2021 langte beim Verwaltungsgericht ‑ verbunden mit einer außerordentlichen Revision ‑ per E‑Mail ein Antrag der Revisionswerberin auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisionsfrist ein.
5 Zum Wiedereinsetzungsantrag bringt die Revisionswerberin vor, die seit mehr als zehn Jahren in der Kanzlei beschäftigte Assistentin des Rechtsvertreters habe die Revision versehentlich direkt beim Verwaltungsgerichtshof eingebracht, obwohl der Rechtsvertreter in seinem Diktat ausdrücklich die Einbringung beim Verwaltungsgericht angewiesen habe. Der Missstand sei bereits am Folgetag aufgefallen. Die Assistentin sei zu Beginn ihrer Tätigkeit umfassend eingeschult worden, sie habe bislang stets einwandfrei und zuverlässig gearbeitet und insbesondere auch ERV‑Eingaben selbstständig eingebracht. Eine Frist sei bislang noch nie übersehen worden. Ausgehend von der höchstgerichtlichen Judikatur liege daher jedenfalls ein unverschuldetes Versäumen der Revisionsfrist vor.
6 Gemäß § 46 Abs. 1 VwGG ist einer Partei auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, wenn sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis eine Frist versäumt und dadurch einen Rechtsnachteil erleidet. Dass der Partei ein Verschulden an der Versäumung zur Last liegt, hindert die Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht, wenn es sich nur um einen minderen Grad des Versehens handelt.
7 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt ein dem Vertreter widerfahrenes Ereignis einen Wiedereinsetzungsgrund für die Partei nur dann dar, wenn dieses Ereignis für den Vertreter selbst unvorhergesehen oder unabwendbar war und es sich hierbei höchstens um einen minderen Grad des Versehens handelt. Das Verschulden von Kanzleikräften stellt für den Vertreter dann ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis in diesem Sinn dar, wenn der Vertreter der ihm zumutbaren und nach der Sachlage gebotenen Überwachungspflicht gegenüber seinen Kanzleikräften nachgekommen ist. Dabei ist durch entsprechende Kontrollen dafür vorzusorgen, dass Unzulänglichkeiten durch menschliches Versagen aller Voraussicht nach auszuschließen sind (vgl. VwGH 26.3.2021, Ro 2019/03/0026, Rn. 7, mwN). Ein Vertreter verstößt somit auch dann gegen die ihm obliegende Sorgfaltspflicht, wenn er weder im Allgemeinen noch im Besonderen (wirksame) Kontrollsysteme vorgesehen hat, die geeignet sind, im Fall des Versagens einer Kanzleikraft Fristversäumungen auszuschließen (vgl. VwGH 12.11.2019, Ra 2019/16/0110, Rn. 26, mwN).
8 Wenn ein Wiedereinsetzungswerber als Wiedereinsetzungsgrund ein Versehen einer Kanzleikraft eines bevollmächtigten Rechtsanwalts geltend macht, dann hat er durch konkrete Behauptungen im Wiedereinsetzungsantrag nicht nur darzutun, worin das Versehen bestanden hat, sondern auch darzulegen, dass es zur Fehlleistung der Kanzleikraft gekommen ist, obwohl die dem Rechtsanwalt obliegenden Aufsichts- und Kontrollpflichten eingehalten wurden (vgl. VwGH 6.10.2021, Ra 2021/02/0208, Rn. 14, mwN).
9 Im vorliegenden Fall beschränkt sich das diesbezügliche Vorbringen im Wiedereinsetzungsantrag darauf, dass die Assistentin des Vertreters der Revisionswerberin eine Einschulung erhalten habe und seit mehr als zehn Jahren einwandfrei und zuverlässig arbeite. Dass der Vertreter der Revisionswerberin ein wirksames Kontrollsystem eingerichtet hätte, um Fehler wie den gegenständlich unterlaufenen zu vermeiden, wird im Wiedereinsetzungsantrag nicht behauptet. Auch das Vorbringen, wonach der Fehler am Folgetag aufgefallen sei, deutet nicht auf die Einrichtung eines wirksamen Kontrollsystems hin.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat zwar bereits ausgesprochen, dass ein Rechtsanwalt rein technische Vorgänge beim Abfertigen von Schriftstücken ohne nähere Beaufsichtigung einer ansonsten verlässlichen Kanzleikraft überlassen kann. Solche Vorgänge sind etwa die Kuvertierung, die Beschriftung eines Kuverts oder die Postaufgabe, also manipulative Tätigkeiten (vgl. VwGH 25.4.2022, Ra 2022/03/0060, Rn. 18, mwN). Die irrtümliche Einbringung der Revision beim Verwaltungsgerichtshof stellt allerdings kein bloßes Versehen bei der Abwicklung technischer Vorgänge bzw. manipulativer Tätigkeiten dar, sondern betrifft die Rechtsfrage, bei welcher Stelle eine Revision einzubringen ist; dazu wären eindeutige Anordnungen zu treffen und deren Einhaltung zu überwachen gewesen (vgl. VwGH 9.11.2016, Ra 2016/10/0071, Rn. 12).
11 Der von der Revisionswerberin ins Treffen geführte Aspekt, ihr Vertreter habe seiner Assistentin im Diktat aufgetragen, die Revision beim Verwaltungsgericht einzubringen, entbindet nicht vom Erfordernis einer entsprechenden Überwachung. Zudem ist auf der ersten Seite des Revisionsschriftsatzes vom 22. Dezember 2021 der Verwaltungsgerichtshof als Adressat angeführt, weshalb schon das Vorliegen einer eindeutigen Anordnung fraglich erscheint (vgl. zur zentralen Bedeutung der Adressierung einer fristgebundenen Eingabe bzw. der Festlegung der Einbringungsstelle VwGH 28.3.2020, Ra 2019/18/0479 bis 0483, Rn. 8; 21.1.2020, Ra 2019/14/0604, Rn. 15; sowie ‑ im Zusammenhang mit der behaupteten Anordnung einer von der Adressierung im Revisionsschriftsatz abweichenden Einbringung ‑ 26.4.2017, Ra 2017/05/0018, Rn. 22 f).
12 Dem vorliegenden Wiedereinsetzungsantrag ist somit nicht zu entnehmen, dass der Vertreter der Revisionswerberin den dargestellten Anordnungs- bzw. Überwachungspflichten nachgekommen wäre, weshalb ein bloß minderer Grad des Versehens im Sinn des § 46 Abs. 1 VwGG nicht angenommen werden kann.
13 Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand war daher abzuweisen.
14 Gemäß § 26 Abs. 1 VwGG beträgt die Frist zur Erhebung einer Revision gegen ein Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes sechs Wochen. Die Revision ist gemäß § 25a Abs. 5 VwGG beim Verwaltungsgericht einzubringen.
15 Das angefochtene Erkenntnis wurde dem Vertreter der Revisionswerberin am 10. November 2021 zugestellt, womit die sechswöchige Revisionsfrist mit Ablauf des 22. Dezember 2021 endete.
16 Wird ein fristgebundenes Anbringen bei einer unzuständigen Stelle eingebracht, so erfolgt eine Weiterleitung auf Gefahr des Einschreiters. Die für die Erhebung der Revision geltende Frist ist nur dann gewahrt, wenn die Revision noch innerhalb der Frist einem Zustelldienst zur Beförderung an die zuständige Stelle übergeben wird oder bei dieser einlangt (vgl. VwGH 16.7.2021, Ra 2021/17/0096, Rn. 5, mwN).
17 Die am 22. Dezember 2021 beim Verwaltungsgerichtshof eingebrachte und von diesem am 28. Dezember 2021 an das Verwaltungsgericht weitergeleitete Revision war daher ebenso verspätet wie die am 23. Dezember 2021 und somit nach Ablauf der Revisionsfrist beim Verwaltungsgericht eingebrachte Revision.
18 Die Revision war daher wegen Versäumung der Einbringungsfrist gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.
Wien, am 25. Juli 2022
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