VwGH Ra 2021/21/0032

VwGHRa 2021/21/00321.2.2022

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher und den Hofrat Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Z N, vertreten durch Dr. Silvia Vinkovits, Rechtsanwältin in 1080 Wien, Friedrich‑Schmidt‑Platz 4/6, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. Dezember 2020, W123 2213346‑1/4E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines befristeten Einreiseverbots (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §9
FrPolG 2005 §52 Abs4
FrPolG 2005 §53 Abs1
FrPolG 2005 §53 Abs3 Z1
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021210032.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der 1968 geborene Revisionswerber, ein serbischer Staatsangehöriger, hält sich seit Jänner 2017 durchgehend rechtmäßig in Österreich auf. Im April 2017 heiratete er seine aus Serbien stammende Ehefrau, die seit 2016 österreichische Staatsbürgerin ist. Am 7. November 2016 wurde die gemeinsame Tochter geboren, die ebenfalls die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt. Der Revisionswerber verfügte bis 31. Oktober 2018 über einen Aufenthaltstitel als Familienangehöriger einer Österreicherin; vor Ablauf des letzten Gültigkeitszeitraums stellte er fristgerecht einen Verlängerungsantrag.

2 Der Revisionswerber wurde mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 14. Mai 2018 wegen des Verbrechens der Schlepperei nach § 114 Abs. 1 und 3 Z 2 FPG zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 14 Monaten rechtskräftig verurteilt.

3 Im Hinblick darauf erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 17. Dezember 2018 gegen den Revisionswerber gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA‑VG eine Rückkehrentscheidung und verband damit ein auf § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG gegründetes, mit drei Jahren befristetes Einreiseverbot. Unter einem stellte das BFA gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, die Abschiebung des Revisionswerbers nach Serbien sei zulässig, und es gewährte eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise.

4 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 12. Dezember 2020 als unbegründet ab.

5 In rechtlicher Hinsicht führte das BVwG aus, der Bekämpfung von Schlepperei komme aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ‑ auch aus unionsrechtlicher Sicht ‑ ein großes öffentliches Interesse und ein hoher Stellenwert zu. Schon allein die (allerdings vom BVwG nicht näher festgestellte) Anzahl der vom Revisionswerber geschleppten Personen begründe eine erhebliche und tatsächliche Gefahr. Im Hinblick auf die „erst relativ kurz zurückliegende Tatbegehung (Ende September/Anfang Oktober 2015)“ könne die Zukunftsprognose nicht zugunsten des Revisionswerbers ausfallen. Das Vorliegen eines Familienlebens werde nicht verkannt, dieses sei jedoch aufgrund des strafbaren Verhaltens des Revisionswerbers „stark gemindert“. Es habe ihn nicht von der Tatbegehung abgehalten, wodurch er das Risiko einer Trennung von seinen Angehörigen bewusst in Kauf genommen habe. Dem Revisionswerber werde es möglich sein, den Kontakt mit seinen in Österreich lebenden Familienangehörigen über Telefon und Internet bzw. über Besuche in Serbien aufrecht zu erhalten. Selbst unter Berücksichtigung der familiären und privaten Interessen des Revisionswerbers sei eine Reduktion der Dauer des Einreiseverbotes nicht möglich.

6 Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung habe abgesehen werden können, weil dem angefochtenen Bescheid ein umfassendes Ermittlungsverfahren des BFA vorangegangen sei und in der Beschwerde kein entgegenstehender oder darüber hinausgehender Sachverhalt in konkreter und substantiierter Weise behauptet worden sei, der die Abhaltung einer Verhandlung erfordert hätte.

7 Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:

9 Die Revision erweist sich als zulässig und berechtigt, weil das BVwG ‑ wie in der Zulässigkeitsbegründung der Revision aufgezeigt wird ‑ sowohl bei der Erstellung der Gefährdungsprognose als auch bei der Interessenabwägung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist, und zudem die Verhandlungspflicht verletzt hat.

10 In Bezug auf Gefährdungsprognosen ist es ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. etwa VwGH 15.2.2021, Ra 2020/21/0246, Rn. 17, mwN), dass bei deren Erstellung das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und aufgrund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen ist, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zugrunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen.

11 Die Feststellungen des BVwG zum Strafurteil vom 14. Mai 2018 reichen hierfür nicht aus, zumal sie sich im Wesentlichen in einer verkürzten Wiedergabe nur von Teilen der Urteilsbegründung samt Nennung der Milderungs- und Erschwerungsgründe erschöpfen, ohne weitere Angaben zur Beurteilung von Art und Schwere der dem Urteil zugrundeliegenden Handlungen, wie etwa des ganz genauen Tatzeitraums, der konkreten Tathandlungen des Revisionswerbers und der Anzahl an geschleppten Personen, zu beinhalten.

12 Darüber hinaus ist es ‑ wie das BVwG insoweit zutreffend erkannte ‑ ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass der Gesinnungswandel eines Straftäters grundsätzlich daran zu messen ist, ob und wie lange er sich (in Freiheit) wohlverhalten hat (siehe zum Ganzen etwa VwGH 6.4.2021, Ra 2020/21/0482, Rn. 14, mwN). Auf die vom BVwG unter diesem Gesichtspunkt zu Lasten des Revisionswerbers gewertete fehlende Tilgung der strafgerichtlichen Verurteilung kommt es hingegen nicht an (vgl. VwGH 19.5.2015, Ra 2015/21/0001). Vielmehr wäre vom BVwG hier besonders zu berücksichtigen gewesen, dass der Revisionswerber seit der unbestritten bereits im Herbst 2015 abgeschlossenen Tathandlung ‑ wegen der er im Jahr 2018 zu einer zur Gänze bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe verurteilt wurde ‑ nicht mehr straffällig wurde und auch seit der Verurteilung bis zum Entscheidungszeitpunkt des BVwG wieder zwei Jahre und sieben Monate vergingen. Das BVwG hat diesen Umstand zwar erwähnt, jedoch dem mehr als fünfjährigen Wohlverhalten des Revisionswerbers seit der Tatbegehung nicht die gebotene Bedeutung zugemessen. Die vom BVwG in diesem Zusammenhang ins Treffen geführten Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes, sind mit der vorliegenden Sachverhaltskonstellation nicht vergleichbar und aus ihnen ist daher nichts zu gewinnen.

13 Im Übrigen ist die weitere Argumentation des BVwG zum Vorliegen einer aktuellen Gefährdung, die persönlichen Bindungen des Revisionswerbers hätten ihn im Jahr 2015 nicht davon abgehalten, ein Verbrechen zu begehen, wodurch er das Risiko einer Trennung von seinen Angehörigen bewusst in Kauf genommen habe, schon deshalb nicht nachvollziehbar, weil sich der Revisionswerber erst seit Jänner 2017 durchgehend in Österreich aufhält und auch gar keine Feststellungen zum Privatleben des Revisionswerbers im Tatbegehungszeitpunkt getroffen wurden. Sowohl die Geburt der Tochter als auch seine Eheschließung erfolgten mehr als ein Jahr danach.

14 Vor allem aber hätte das Beschwerdevorbringen des Revisionswerbers, er verfüge trotz seines erst ungefähr dreijährigen Aufenthalts im Bundesgebiet hier über starke familiäre Bindungen in Form seiner österreichischen Ehefrau und der gemeinsamen, ebenfalls die österreichische Staatsbürgerschaft besitzenden vierjährigen Tochter, eine nähere Auseinandersetzung des BVwG mit den Auswirkungen der Rückkehrentscheidung und des Einreiseverbotes in erster Linie auf das Kindeswohl bei der nach § 9 BFA‑VG vorzunehmenden Interessenabwägung erfordert (vgl. etwa VwGH 22.8.2019, Ra 2019/21/0128, Rn. 11, mwN).

15 Vor diesem Hintergrund hätte überdies weder in Bezug auf die Gefährdungsprognose noch hinsichtlich der Interessenabwägung vom Vorliegen eines schon aus der Aktenlage geklärten Sachverhaltes ausgegangen und gemäß § 21 Abs. 7 BFA‑VG von der Durchführung der in der Beschwerde beantragten mündlichen Verhandlung abgesehen werden dürfen.

16 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften ‑ in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat ‑ aufzuheben.

17 Von der Durchführung der in der Revision beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG abgesehen werden.

18 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 1. Februar 2022

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