VwGH Ra 2021/22/0055

VwGHRa 2021/22/005523.7.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrat Dr. Schwarz und Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, in der Revisionssache der S D Z, vertreten durch MMag. Michael Krenn, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Museumstraße 5/19, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom 30. Oktober 2020, VGW‑151/088/11525/2019‑9, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), den Beschluss gefasst:

Normen

ARB1/80 Art6 Abs1
EURallg
NAG 2005 §2 Abs2
NAG 2005 §45
NAG 2005 §45 Abs1
NAG 2005 §45 Abs2
VwRallg
32004L0038 Unionsbürger-RL Art3 Abs2 lite
62003CJ0230 Sedef VORAB
62006CJ0294 Payir VORAB

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021220055.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Mit ‑ für das vorliegende Verfahren relevantem ‑ Spruchpunkt A. des Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtes Wien vom 30. Oktober 2020 wurde die Beschwerde der Revisionswerberin, einer türkischen Staatsangehörigen, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 26. Juni 2019, mit dem der Verlängerungsantrag bezüglich des Aufenthaltstitels „Student“ und der Zweckänderungsantrag vom 22. März 2018 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt ‑ EU“ gemäß § 45 Niederlassungs‑ und Aufenthaltsgesetz (NAG) abgewiesen worden waren, als unbegründet abgewiesen. Weiters sprach das Verwaltungsgericht aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

2 Das Verwaltungsgericht stellte ‑ soweit für den vorliegenden Fall relevant ‑ fest, die Revisionswerberin habe von 1. September 2010 bis 28. März 2018 durchgehend über einen Aufenthaltstitel „Student“ verfügt. Am 22. März 2018 habe die Revisionswerberin um Verlängerung und Zweckänderung angesucht. Zwischen 13. Dezember 2014 und 31. Dezember 2014 sei die Revisionswerberin als Reinigungskraft geringfügig bei der S. KG beschäftigt gewesen. Vom 22. Jänner 2015 bis 30. Juni 2018 sei die Revisionswerberin geringfügig ebenfalls als Reinigungskraft beim Unternehmen P.N.A. beschäftigt gewesen. Bei den beiden Firmen S. KG und P.N.A. handle es sich um unterschiedliche Unternehmen mit unterschiedlichen ‑ wenn auch nahe beieinanderliegenden ‑ Standortadressen, Firmenbuchnummern und Entscheidungsträgern. Die Beschäftigungsverhältnisse vom 13. Dezember 2014 bis 31. Dezember 2014 und vom 22. Jänner 2015 bis 30. Juni 2018 seien daher nicht beim gleichen Arbeitgeber gewesen. Seit 14. Juni 2019 sei die Revisionswerberin als Schankgehilfin geringfügig bei der W. GmbH beschäftigt.

3 In seiner rechtlichen Beurteilung führte das Verwaltungsgericht aus, dass die Revisionswerberin bei der S. KG weniger als drei Jahre beschäftigt gewesen sei, sodass sie daraus lediglich Rechte aus Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) ableiten habe können. Auf die Beurteilung der beschäftigungslosen Zeit zwischen 1. Jänner 2015 und 21. Jänner 2015 im Hinblick auf Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 komme es nicht an, weil die beiden Beschäftigungsverhältnisse nicht mit dem gleichen Arbeitgeber eingegangen worden seien. Bei der P.N.A. sei die Revisionswerberin etwa dreieinhalb Jahre beschäftigt gewesen, sodass sie daraus Rechte nach Art. 6 Abs. 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 ableiten könne.

4 Die Arbeitsaufnahme der Revisionswerberin bei der W. GmbH habe nicht zu einer Fortsetzung der bei P.N.A. erworbenen Zeiten geführt, weil sie aus Art. 6 Abs. 1 zweiter Spiegelstrich 1/80 nur das Recht ableiten könne, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber ihrer Wahl zu bewerben. Eine gleiche oder auch nur ähnliche berufliche Tätigkeit zwischen der Beschäftigung als Reinigungskraft bei der P.N.A. einerseits und als Schankgehilfin bei der W. GmbH anderseits liege jedoch nicht vor. Erst ab ‑ hier noch nicht vorliegender ‑ Erfüllung der Voraussetzungen nach Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 könne ein „Daueraufenthalt EU“ erlangt werden.

5 Gegen den Abspruch über die Nichterteilung des Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt ‑ EU“ wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision.

6 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

7 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

8 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

9 Die Revisionswerberin führt in der Zulässigkeitsbegründung der Revision aus, sie sei aufgrund ihrer Rechtstellung gemäß Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 als niedergelassen anzusehen; zum „allenfalls untypischen Übergang der Beschäftigung von S[. KG] zu P[.N.A.]“ gäbe es Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (Hinweis auf VwGH 29.5.2006, 2005/09/0066).

10 In dem von der Revisionswerberin angeführten Erkenntnis sprach der Verwaltungsgerichtshof aus, dass im Falle der Verpachtung eines Unternehmens der Pächter in die bestehenden Arbeitsverhältnisse eintritt. Für den vorliegenden Fall lässt sich daraus für die Revisionswerberin nichts gewinnen, weil sich nicht die Frage des Überganges eines bereits bestehenden Arbeitsverhältnisses stellt. Vielmehr ging die Revisionswerberin nach Auflösung des Beschäftigungsverhältnisses mit der S. KG mit 31. Dezember 2014 ein Beschäftigungsverhältnis mit P.N.A., beginnend mit 22. Jänner 2015, ein.

11 Gemäß § 45 Abs. 1 NAG kann Drittstaatsangehörigen, die in den letzten fünf Jahren ununterbrochen tatsächlich niedergelassen waren, ein Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt ‑ EU“ erteilt werden, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen und das Modul 2 der Integrationsvereinbarung (§ 10 IntG) erfüllt haben.

12 Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses des ‑ durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten ‑ Assoziationsrates vom 19. September 1980, Nr. 1/80, über die Entwicklung der Assoziation (ARB) lautet:

„Artikel 6

(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehört, in diesem Mitgliedstaat

- nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt;

- nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung ‑ vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs ‑ das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaates eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben;

- nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.“

13 Mit Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 wurde ein System der abgestuften Eingliederung der türkischen Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaates geschaffen. Aus der Systematik und der praktischen Wirksamkeit dieses Systems folgt, dass die in den drei Spiegelstrichen dieser Bestimmung jeweils aufgestellten Bedingungen von den Betroffenen nacheinander erfüllt werden müssen (vgl. VwGH 21.3.2017, Ra 2016/22/0098, Rn. 14, unter Hinweis auf EuGH 10.1.2006, Sedef, C‑230/03, Rn. 37).

14 Erfüllt ein türkischer Staatsangehöriger die in Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 aufgestellten Voraussetzungen, kann er nach Ablauf des ersten Arbeitsjahres eine Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei demselben Arbeitgeber und damit ein entsprechendes Aufenthaltsrecht verlangen (vgl. EuGH 24.1.2008, Payir u.a., C‑294/06, Rn. 39). Nach Ablauf des im Art. 6 Abs. 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 vorgesehenen Zeitraumes von drei Jahren ist der türkische Arbeitnehmern berechtigt, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaates eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben. Ein uneingeschränktes Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung gemäß dem dritten Spiegelstrich besteht erst nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung (vgl. VwGH 23.1.2020, Ro 2019/22/0009, Rn. 13).

15 Ein türkischer Staatsangehöriger, der sein Aufenthaltsrecht direkt aus Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 ableitet, ist angesichts des uneingeschränkten Rechts auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung und des davon abgeleiteten Aufenthaltsrechts nicht daran gehindert, langfristig in Österreich ansässig zu sein. Er ist ‑ im Unterschied zu einem aus Art. 6 Abs. 1 erster oder zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 abgeleiteten Aufenthaltsrecht ‑ nicht an denselben Arbeitgeber oder den gleichen Beruf gebunden. Daraus ergibt sich, dass der Fremde mit Erfüllen der Voraussetzungen des dritten Spiegelstriches des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 als niedergelassen im Sinn des § 2 Abs. 2 NAG anzusehen ist (vgl. VwGH 8.7.2020, Ro 2020/22/0004).

16 Für die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt ‑ EU“ war somit fraglich, ob die Revisionswerberin die Voraussetzungen des dritten Spiegelstriches des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erfüllt. Dies wäre nämlich Voraussetzung für die Annahme, dass die Drittstaatsangehörige im Sinn des § 45 Abs. 1 NAG in den letzten fünf Jahren ununterbrochen tatsächlich niedergelassen war.

17 Das Verwaltungsgericht verneinte, dass die Revisionswerberin die Voraussetzungen des dritten Spiegelstriches des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erfüllt habe, weil die Revisionswerberin vom 13. Dezember 2014 bis 31. Dezember 2014 und vom 22. Jänner 2015 bis 30. Juni 2018 nicht beim gleichen Arbeitgeber beschäftigt gewesen sei und demnach die Zeiten der Beschäftigungen auch (gemäß Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80) nicht zusammenzurechnen seien.

18 In diesem Zusammenhang macht die Revision in ihrer Zulässigkeitsbegründung Ermittlungs- und Verfahrensfehler geltend, ohne jedoch aufzuzeigen, inwiefern die Feststellung des Verwaltungsgerichtes, wonach es sich bei den beiden Firmen S. KG und P.N.A. um unterschiedliche Unternehmen mit unterschiedlichen Standortadressen, Firmenbuchnummern und Entscheidungsträgern handle, unzutreffend wäre.

19 Soweit die Revision vorbringt, dass Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur rechtlichen Beurteilung von Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit im Sinn des Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 fehle, ist ihr entgegenzuhalten, dass das Verwaltungsgericht ohnehin von unverschuldeter Arbeitslosigkeit der Revisionswerberin ausgegangen ist, jedoch aufgrund des Wechsels des Arbeitgebers die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 verneinte.

20 Der Verwaltungsgerichtshof sieht sich aus Anlass der vorliegenden Revision aufgrund seiner mittlerweile ständigen Judikatur (vgl. wiederum VwGH 29.1.2020, Ro 2017/22/0009; sowie auch VwGH 11.11.2019, Ra 2019/22/0207; 28.2.2019, Ra 2018/22/0100) betreffend das Verhältnis von Ansprüchen aus Art. 6 ARB 1/80 und einem Antrag auf Erteilung eines „Daueraufenthalts ‑ EU“ nicht zu einem Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union veranlasst.

21 In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.

Wien, am 23. Juli 2021

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